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Share your memories. Teile deine Erinnerungen. Von hier aus ist es unmöglich, den Leuchtkasten mit der Werbung für die Videokamera zu ignorieren. Dafür sitzen wir zu dicht dran. Das Plakat ist gerade mal zwei Meter von unserer gemütlichen Sitzecke weg. Vor und hinter »gemütlich« würde Andie wieder ihre ironischen Gänsefüßchen in die Luft malen, denn »Gemütlichkeit« ist eines der wenigen deutschen Worte, das sie selbst als Amerikanerin kennt. Wie es sich für die Verlorenen der Interzone gehört, sind wir für einen Braunen beim Team Grün eingekehrt und sitzen unter dem Logo mit der Meerjungfrau, die ihre Beine breitmacht. Auf der politisch-korrekten Version von heute ist das natürlich kaum noch zu erkennen; im Original aus den Siebzigern schon. Share your memories. Obwohl er versucht, es zu ignorieren, muss Nick immer wieder auf das Plakat gucken; als ob es eine frisch verheilte Wunde wäre, die juckt und die man allzu gerne wieder aufkratzen würde. Schließlich bricht der ganze Ekel aus ihm raus.
»Das ist ja echt der Horror!«
Schön zu sehen, dass die Aussicht auf fünfundzwanzig Stunden Kniescheibenmassage seine ätzend gute Laune von vorhin aufgefressen hat. Einen Tag lang in der verdammten ThromboseRöhre eingezwängt, mit einmal Umsteigen in Tokio, das wird die reinste Geisterbahnfahrt. Wenn wir in Seattle ankommen, ist es ... eigentlich auch egal. MCKranich wird bei der Landung ja durchhauchen, wie spät es ist.
»Was ist der Horror?«
»Na, sharing - teilen. Früher hat jeder für sich selbst geknipst und gefilmt. Und heute muss alles geteilt werden - der blanke Horror. Nein - Terror.«
»Wollen die Kids halt so.«
Wir nippen an unserem Milchkaffee, der so toll, nein: so tall, wie auf der ganzen Welt ist, und freuen uns über die Standardisierung. Wenn sie uns jetzt heimlich mit einem Teleobjekt fotografieren würden, könnte selbst der beste Experte nicht rausfinden, wo das Foto aufgenommen wurde. Eben weil die gleichen rostroten Sessel, in denen wir sitzen, an ungefähr 40 000 Plätzen dieser Welt vor den gleichen dunklen Holztischchen stehen. Halt! Das grüne Notausgangsschild unter der Decke ist nicht nur mit EXIT, sondern auch mit dem Wort KELUAR beschriftet. Das wäre aber auch der einzige Hinweis auf unseren Aufenthaltsort.
»Sharing bedeutet nichts anderes«, leiert der Beifahrer weiter, »als teile und langweile! So schlimm wie heute haben sich Menschen noch nie zuvor in der Geschichte gegenseitig gelangweilt. Dagegen waren die Dia-Abende unserer Eltern und die fetten Fotoalben nix. Weißt du noch? Wenn bei uns in der Stufe jemand aus den Ferien zurückkam, hatte man nichts zu befürchten außer einer, maximal zwei Filmtaschen, also zweiundsiebzig Fotos. Und heute? Da kommt am Ende des Tages die freundliche Nachricht mit dem Hinweis, doch bitteschön an den Erinnerungen teilzuhaben. Und wehe, du brichst unter dem Mobbing zusammen - dann heißt es: Slideshow, 576 ltems.«
Er schiebt ein »ts, ts« hinterher, wie ein Opa, der sich über die zu tief sitzenden Jeans der Jugend aufregt. Der Dialog, also der Austausch von Infos, und seien es auch nur Fotos, liegt dem Beifahrer eben nicht so. Wenn es nach ihm ginge, könnte man in jeden Netzanschluss eine Diode einbauen - damit ja nichts von den niedrigen Anwendern in die perfekte Datenwelt zurückfließt. Ist natürlich mal wieder ausgemachter Stuss, aber aus Trägheit winke ich sein Argument durch.
»Jap, fast so schlimm wie Interaktivität.«
Nick tut so, als spucke er auf den Boden.
»Oder Sendungen im Radio, wo die Leute anrufen können und sich dann furchtbar freuen müssen, wenn sie ein Meet-and-greet mit irgendwelchen Boyband-Pupsies gewonnen haben.«
»Tja, heute müssen sich halt alle bei den Händen fassen und Kumbaya singen, da ist es nicht mehr so unpersönlich wie früher.«
»Dreck. Gelobt sei das Unpersönliche. Zu unserer Unizeit, zum Beispiel, da war alles noch schön überlaufen, schön anonym, da gab's keine Kuschelsprechstunde beim Prof, und der kannte auch nicht deinen Vornamen, selbst nach zehn Semestern. Herrlich. Und heute? Die Studis kriegen Heuleritis, wenn sie dem Dozenten ein paar Tage lang nicht die Hand schütteln dürfen.«
Womit er mal wieder ziemlich weit vom Thema abgekommen wäre. Es braucht halt einen echten Nickmeister, um die Verbindung zwischen dieser armen Videokamera-Werbung und dem Betreuungsverhältnis an deutschen Hochschulen herzustellen. Nachdem das geklärt wäre, können sich Waldorf und Statler, die zwei verbitterten Herren aus der »Muppet Show«-Loge, wieder in ihren Sesseln zurücklehnen.