#08 T-8: 13:26

»Das Teil ist der Hammer!«

Allein seine Ansage ließ nichts Gutes vermuten, und dann kam es auch ziemlich dicke: Nick schleifte einen Altpapier-Karton in die Mitte des Büros und fischte aus den stinkenden Tiefen eine RCA Studio II ans Licht, eingesponnen in einen Wust aus Kabeln. Die Studio II ist so ziemlich die einzige antike Spielkonsole, für die Sammler noch keine Fantasiesummen hinblättern. Baujahr 1977, ein Plastikklotz, so groß wie zwei alte Telefone. Dass er ausgerechnet jetzt mit diesen elektronischen Belanglosigkeiten anfangen würde, war klar. Immer, wenn das Schicksal irgendwie zuschlägt, verbarrikadiert er sich in seiner Nerd-Welt, das ist bei ihm reiner Selbstschutz. Damals, als sein Dad gestorben war, hatte er sich auch eine Woche lang zurückgezogen, um aus seinem Apple Newton eine Garagenfernbedienung zu bauen. Trauerarbeit ala Nickmeister halt. Deshalb stürzte er sich jetzt auch so gierig auf die bekackte Spielkonsole - um nicht daran denken zu müssen, dass John in dieser Sekunde vielleicht irgendwo um sein Leben kämpfte. Wow, allein diese Farbe! Die muss schon in den Siebzigern eine Zumutung gewesen sein, so ein fieses Braun in Richtung Stützstrumpf. An der schon ekligen Plaste hat obendrein jahrzehntelang der Zahn der Zeit genagt, und genau so sieht die Konsole jetzt auch aus: vergilbt wie ein Pennerzahn. Da hilft auch der silberne Zierstreifen nichts, der sich um die Worte HOME TV PROGRAMMER herumzieht. Am linken und rechten Ende sind zwei Zehnertastaturen eingelassen, über die man die Games steuert, für jeden Spieler eine. Die schwarzen Tasten glänzen speckig und abgewetzt wie ein Straßenbahn-Haltegriff im Hochsommer. Zeit, ein bisschen zu sticheln.

»Da kann man mal wieder sehen, dass Technik nicht in Würde altert«, bohre ich los. Diesen Frontalangriff auf sein Weltbild kann der diensthabende Retromane natürlich nicht einfach so schlucken.

»Warum?«, schnappt Nick zurück.

»Also, denk zum Beispiel mal an ,Wall Street', das Original natürlich. Was bleibt davon in Erinnerung?«

Für alle ambitonierten Wirtschaftsstudis war der Film seinerzeit natürlich Pflichtprogramm.

»Weiß nicht? Schulterpolster. Gier ist gut. Haargel?«, nuschelt Nick vor sich hin, während er irgendwas hinterm Fernseher rumprokelt. Er muss die Konsole, aus der natürlich ein amerikanisches Fernsehsignal nach NTSC-Norm kommt, erst mal an einen PAL-Wandler anstöpseln. Und den wiederum muss er erst mal im dichten Kabeldschungel finden, der sich in der Ecke auftürmt. Also zur Abwechslung mal freie Bahn für einen Vortrag von mir: »Also bei mir ist von >Wall Street< nur eine Szene hängen geblieben, und zwar die, wo Michael Douglas sich dieses gigantische Motorola-Handy ans Ohr hält. Das Teil ist so groß wie sein verdammter Aktenkoffer! Wenn man das heute guckt, kann man den Film spätestens an dieser Stelle nicht mehr ernst nehmen. Technik wirkt halt so schnell, naja, lächerlich. Erinner dich einfach an irgendeinen Film, in dem ein ...«, ich male mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »Computerexperte vorkommt. >Wargames< oder >Jurassic Park< oder was weiß ich. Ungefähr zehn Minuten nach dem Kinostart sind alle Szenen mit dem Computerexperten nur noch peinlich, weil der Computerexperte mit irgendwe1chen Geräten rumhantiert, die vermutlich schon beim Kinostart des Films völlig überholt waren.«

» ... es sei denn, der Regisseur setzt Technologie ein, die so alt ist, dass sie schon wieder cool wirkt«, grätscht Nick dazwischen. Ein absolut vorhersehbares Gegenargument. Warum lasse ich mich auf den Scheiß immer wieder ein? Das endet ohnehin nur in endlosen Monologen. Auch diesmal.

»... in >Watchmen< zum Beispiel steht auf dem Schreibtisch von Ozymandias ein Macintosh SE/30 in Schwarz«, doziert Nick gnadenlos weiter, »und der sieht total cool und gar nicht überkommen aus, wenn du mich fragst. «

Die letzten vier Wörter kommen schon im Sperrdruck raus, es ist also Zeit, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, sonst kriegt der Beifahrer wieder so einen cholerischen Anfall. Es soll Ignoranten geben, die sagen, die RCA Studio II sei die schlechteste Konsole aller Zeiten. Sie untertreiben brutal. Die Realität sieht so aus: Wir sitzen vor einem schwarzen Bildschirm, auf dem ein paar weiße, gestrichelte Linien von oben nach unten zuckeln. Zwischen ihnen wabert ein weißer Blob herum, den Nick kontrolliert und der wohl ein Auto darstellen soll. Ab und zu kollidiert der Blob mit weiteren Blobs, die vor ihm herwackeln. Bei jedem Unfall wimmert aus dem Lautsprecher ein Ton, der klingt, als ob der Soundchip, falls die Kiste so was überhaupt hat, gerade verreckt. Die Studio II spendiert uns weder einen Punktestand noch irgendwe1che Kurven oder anderes nennenswertes Gameplay. Nur Agonie in Endlosschleife. Wenn in der Hölle Konsolen stehen, dann sind es RCA Studio 11. Die Reaktion eines normalen Menschen wäre: in einer Femtosekunde den Stecker ziehen und die wahnwitzige Lebenszeitverschwendung beenden. Nicks Reaktion: mit äußerster Zock-Konzentration - die Zunge in den Mundwinkel geklemmt - vor der Kiste kauern, auf die Tasten hämmern und im Abstand von dreißig Sekunden ein atemloses »Wie geil« raus drücken. Er hat sich von der Menschheit doch schon ziemlich weit entfernt. Um seine Therapie nicht zu stören, beschränke ich mich darauf, mir seine Haribo Quaxi-Fröschli reinzuschieben und dem Säuseln der Dörrmaschine zu lauschen. Zu allem Überfluss scheint die Konsole auch noch kaputt zu sein. Denn die weißen Blobs frieren alle paar Sekunden ein oder verschwinden, um dann an einer völlig anderen Stelle wieder aufzutauchen. Langsam ist meine Geduld am Ende.

»Alter, mal im Ernst: Das Teil ist ja absoluter Scheiß! «

Nick sendet einen maximal verärgerten Blick rüber.

»Nein, das Teil ist ein Meilenstein! «

Aus meiner langjährigen Kumpelerfahrung weiß ich, dass das eine das andere nicht unbedingt ausschließen muss. So richtig glauben kann Nick an sein Gefasel aber anscheinend selbst nicht, jedenfalls fängt er ziemlich hysterisch an zu lachen -als Kinder hätten wir gesagt: zu geiern.

»Ich zitiere Tom Hall, Designer von Doom: Je niedriger die Auflösung, desto besser die Kunst. «

Weiteres Kichern.

»Jedenfalls ... «, er stopft sich auch eine Hand voll Quaxis in den Mund, »jedenfalls werde ich mir mal den Speicher anschauen, den Code des Spiels auslesen, ein bisschen die Maschinensprache vom RCA-1802-Prozessor studieren -der steckt da nämlich drin -, und dann werde ich die Welt regieren. Har, har, har!«

Das Lachen soll wie das eines wahnsinnigen Bond-Gegenspielers klingen, ist aber viel zu dünn mit Ironie überzogen, um verstecken zu können, dass er es ernst meint. Die Diagnose: Tastenkombination IDDQD - er steckt im God Mode fest. Sobald ich das Büro verlassen habe, wird er exakt das tun, was er gerade angekündigt hat: Er wird die Konsole auseinandernehmen, die Sprache des Prozessors lernen, den Spielcode debuggen -und nicht aufhören, bevor das Teil wieder läuft wie zu dem Zeitpunkt, als es neu war und wir noch in den Kindergarten gingen. Was für eine Verschwendung. Ich versuche, ihn noch einmal zu retten.

»Aber warum, warum, warum? Du wirst doch niemals wieder in deinem Leben mit diesem 18-was-weiß-ich-Chip was zu tun haben. Hallo? Wir haben nicht mehr 1977.«

Auf einmal hört Nick auf zu lachen und schaut ernst, fast traurig.

»Du weißt doch: Ich bevorzuge die Vergangenheit. In der sogenannten Gegenwart fühle ich mich nicht wohl.«

Ich habe ihm dann noch geholfen, die RCA Studio 11 wieder auszustöpseln und das Tape in der Dörrmaschine zu wenden. Als ich ging, gab er mir seine Autoschlüssel und hielt mir wie ein guter Gastgeber die Tür auf. Draußen zwitscherten schon laut die Vögel. Wir hatten erfolgreich sieben Stunden lang nicht an John und sein Schicksal gedacht. Nick streckte die Hand zum Bikergruß aus.

»Bis morgen.«

»Ja, bis morgen, Alter.«

Als ich den Dienstwagen aufschloss, sah ich nochmal hoch zur Tür. Nick hob etwas unsicher die Hand. Da habe ich ihn das letzte Mal gesehen.

Extraleben - Trilogie
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