#19 T-5: 16:04
Nachdem wir beide unsere Herzdamen angerufen hatten, waren wir natürlich gefühlsmäßig viel zu aufgewühlt, um die Pläne vom Table Dance weiterzuverfolgen. Wie hätten wir uns danach zwanzigjährige Aerobic-Sandras angucken können, die uns ihre drallen, sonnenbankgetoasteten und eingeölten Hintern unter die Nase halten? Das wäre doch eine Art von emotionalem Fremdgehen gewesen. Wir entschieden uns stattdessen, anderen Leuten dabei zuzusehen, wie die sich von zwanzigjährigen Aerobic-Sandras dralle, sonnenbankgetoastete und eingeölte Hintern unter die Nase halten lassen. Wenn man sich selbst keine Tänzerin an den Tisch bestellt, ist man ja quasi nur zufälliger Augenzeuge, das geht emotional dann wieder in Ordnung. Wir spannen also völlig verklemmt aus den Augenwinkeln zu den Tischen rüber, an denen die Typen sitzen, die den Fuffi für einen Tanz am Tisch haben springen lassen, und freuen uns diebisch - vor allem, wenn diese Brünette performt, die sich aus der amerikanischen Polizistenuniform schält. Nach jeder Nummer verschwindet sie nackt in einem Hinterzimmer, um dann wieder nach einer Minute in der vollen Cop-Montur rauszukommen; ist fast wie beim Zocken, wenn man ein neues Leben kriegt. Während der Anziehpausen starren wir peinlich berührt auf den Boden, auch der Beifahrer, was in gewisser Weise beruhigend ist. Denn zuerst ist Nick ziemlich pseudo-selbstbewusst in den Laden reinmarschiert, dass ich schon wieder kurz dieses Gefühl bekam, der Zurückgebliebene zu sein - wie damals, als er nach ein paar Monaten mit Sabina süffisant fallen ließ, er habe »vom Eintopf gekostet« - wohl wissend, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal in die Nähe einer Küche gekommen war. Aber so lief das damals: Mal lag der eine beim Erwachsenwerden vorne, mal der andere. Nachdem wir diese asiatisch aussehende Garderoben-Tussi mit ihren Doppel-D-Körbchen passiert hatten, verfiel Nick Gott sei Dank wieder in seinen natürlichen Zustand -äußerste Verklemmung. Alles andere wäre auch unnatürlich gewesen für einen Menschen, der sich zu Schulzeiten auf so ziemlich jede Diskette das Soundfile GESTOEHNE gezogen hat -fünf Sekunden aus irgend'nem Porno rausgesampelt. Das sorgte vor allem beim Laden immer für Lacher: SEARCHING FOR GESTOEHNE Wir stehen also wie festgewachsen neben der Bühne und versuchen, so wenig wie möglich aufzufallen. Ungefähr zwanzig Zentimeter von Nicks Kopf entfernt räkelt sich eine etwas zu dralle Wasserstoffblonde auf einer Harley. Sie trägt das klassische Fick-mich-Schuhwerk: Plateausandalen mit -und das ist wichtig! -Absätzen aus durchsichtigem Plastik. Darauf hat mich der Beifahrer schon beim Reinkommen mit einem anerkennenden Nicken hingewiesen. Auf keinem Gebiet haben wir derart viel theoretisches Wissen angehäuft wie bei Stripper-Schuhwerk. Da sind wir echt »cutting edge«, könnte Nick sagen. Nachdem wir ungefähr fünf Tänzerinnen, die bei uns vorbeikamen, durch simultanes Stottern klargemacht haben, dass wir nicht vorhaben, ihre neue Eichenvertäfelung daheim zu finanzieren, ignorieren sie uns. Das kommt natürlich super schnorrermäßig rüber, deshalb bestellen wir ein Bier nach dem anderen, damit der Laden wenigstens auf diesem Weg einen Schnitt macht. Obwohl es schon kurz vor zehn ist, tut sich noch nichts. Die Ladys in den Käfigen treten zu ohrenbetäubendem Eurodisco-Umpf müde von einem Bein aufs andere. Unserer Stimmung tut das aber keinen Abbruch: Von den ganzen Schlechtes-Gewissen-Bieren sind wir mittlerweile mächtig angegangen. Und der Nickmeister schafft es mal wieder, das perfekte Gesprächsthema für die erotisch aufgeladene Umgebung rauszukramen.
»Hey, wusstest du, dass Robocop in Wirklichkeit Jesus ist?«
Vor Lachen sprudeln mir ein paar Tropfen Bier aus der Nase. Die Dame auf der Harley schaut professionell weg und tut so, als bekäme sie nichts von meiner Hust-Attacke mit.
»Was?«, schreie ich zurück.
»Ja klar«, grölt Nick. Unten an seiner Nase klebt ein kleines bisschen Bierschaum, aber bei seinem Pegel merkt er so was natürlich nicht mehr. Als guter Kumpel zeige ich kurz auf meine Nase, bis er's peilt und sich den Schaum abwischt.
»Ja, also«, er lacht weiter, »denk mal drüber nach: Murphy ist ja erst 'n ganz normaler Bulle. Dann wird er von dieser Gang zu Unrecht getötet -und steht quasi als Robocop wieder von den Toten auf. Und am Schluss, kurz bevor er die Bösen um die Ecke bringt, gibt es ja noch diese Szene, wo Robocop durch eine Pfütze marschiert. Musste mal drauf achten, das sieht total aus, als würde er über Wasser gehen!«
Er nickt ein paar Mal schwachsinnig, mit so einem leicht debilen Ne-hätteste-nicht-gedacht-Ausdruck. Ich sage »Klar, Alter, Robocop ist Jesus, kein Zweifel« und versuche zu klingen wie jemand, der seinem Kind erzählt, dass es den Weihnachtsmann wirklich gibt. Doch diese Ironie registriert der Beifahrer gar nicht mehr, genauso wenig wie die Turnübungen hinter ihm: Die Harley-Dame hat jetzt nämlich ihre Brüste auf dem Tank abgelegt, der mit einer amerikanischen Flagge verziert ist, und streckt ihren Hintern so weit in die Luft, dass es von hier aussieht, als würde er wie der Mond über Nicks Kopf aufgehen. Der Dude würde es wahrscheinlich nicht mal mehr mitkriegen, wenn sie schon auf seinem Kopf säße. Er blüht in seinem Nerd-gibt-auf-dem-Pausenhof-an-Modus voll auf.
»Und, und«, er nimmt hektisch einen Schluck, »wusstest du, dass das Gehirn von Optimus Prime auf eine Floppy Disk passt?«
»Ist nicht wahr!«, tue ich erstaunt. Optimus Prime, war das nicht der gute Transformer? Woher nimmt Nick nur die Hirnkapazität, um sich diese ganzen Achtziger-Nichtigkeiten zu merken? OUT OF MEMORY ERROR scheint's bei ihm nie zu geben. Nicks Wangen glühen: »Doch! Im Comic, da bringt sich Optimus Prime doch um, aber Ethan hat sein Hirn vorher noch praktischerweise abgespeichert. Und dann holt er eine Floppy aus so 'nem Zettelkasten. Das ganze Bewusstsein passt auf eine Diskette - also 165 Kilobyte, oder das Doppelte, wenn er sie gelocht hat!«
Wahnsinniges Lachen. Vor lauter Begeisterung über sich selbst fuchtelt er so wild mit dem Bierglas rum, dass ein Schluck auf seine Hose schwappt und direkt - wo auch sonst - im Schritt landet, knapp vorbei an der Ausbeulung in seiner rechten Hosentasche, in der das Tape drin steckt. Ich zeige mit dem Finger hin.
»Sag mal: Ist das 'ne Quarter-Inch-Cartridge oder bist du nur froh, mich zu sehen.«
Nick krümmt sich und japst nach Luft. Der wird doch nicht gleich Asthma kriegen oder so? Doch plötzlich, als ob jemand den Stecker rausgezogen hätte, hört er auf zu lachen, rappelt sich hoch und starrt mich mit dem versteinerten Blick eines Besoffenen an, der ernst genommen werden will. Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Er kneift die Augen zusammen.
»Alter, merk dir, was ich dir jetzt sage.«
Jedes Wort kommt total klar raus, keine Spur mehr von all den Bierchen. Unglaublich, er wollte die ganze Zeit nur fröhlich und betrunken sein, aber der Prozessor in seinem Kopf hat völlig normal weitergearbeitet. Sein Frohsinn war exakt berechnet. Manchmal macht mir sein Übermenschentum richtig Angst. Er tippt mit dem Finger gegen seinen Hosenbund.
»Dieses Tape, mein Freund, dieses Tape ist Millionen wert.«
Schweigen. Nick weiß genau, wie sein Satz eingeschlagen ist, und er genießt es, dass ich platt bin. Seelenruhig setzt er sein Glas an, kippt den Bodensatz runter und gibt ein lautes »Aaah« von sich. Dann hebt er den Krug hoch und macht mit der anderen Hand in Richtung Bar ein Victory-Zeichen. Noch zwei, bitte!
»Was heißt Millionen?«, frage ich. Nick lächelt die Bedienung, die mit dem Nachschub zu uns rübertrabt, etwas zu offensiv an.
»Wirst schon sehen«, sagt er ganz beiläufig, »wirst schon sehen«.
Er nimmt dem Mädel die Gläser ab und drückt ihr mit einem »is okay« einen Schein in die Hand. Ein bizarr hohes Trinkgeld. Wir waren zwar vorhin nochmal am Geldautomaten, um abzuräumen, was ging, aber die Kohle jetzt so rauszuhauen? Nicht klug. Lustig: Wir hatten uns die Scheine hektisch in die Hosentasche gestopft und sind weggerannt wie zwei Schulkinder, die als Mutprobe beim Zeitschriftenhändler ein Päckchen »Mondbasis Alpha Eins«- Panini-Bildchen geklaut haben. Der Beifahrer klopft mir jovial auf die Schulter, so, als wäre er Fridolin Kiesewetter, der Käpt'n Haddock gerade eine Versicherung andreht.
»So, jetzt trinken wir erst mal auf eine weitere gelungene Dienstreise.«
Sein Glas klirrt unangenehm laut mit meinem zusammen.
»Ja, äh, genau auf die Dienstreise!«, antworte ich mechanisch. Warum fühlt es sich so an, als wäre es unsere letzte?