LEVEL 17
Alles ist wieder gut. Wir stehen mitten auf einem einsamen Highway im Nirgendwo und atmen tief den Pinienduft ein, der durch das Seitenfenster zieht. Es ist der Geruch von Urlaub mit den Eltern in Südfrankreich; er erinnert an eine kühle Orangina nach zehn Stunden autoroute du soleil ohne Klimaanlage, an Siebzigerjahre-Ferienbungalows mit braunem Kachelboden, an FKK. Auch der Soundtrack könnte nicht besser sein: Tausende von Grillen zirpen im Straßengraben, gelegentlich unterbrochen vom Krächzen eines Walkie-Talkies. Es ist der Klang der kalifornischen Berge am Ende eines heißen Sommernachmittags - vor einer Baustelle. Nach einem atemlosen Sprint haben wir das Silicon Valley weit hinter uns gelassen. Zwischendurch erschien uns der Plan des Bösewichts aus »007 - Im Angesicht des Todes«, das ganze Tal unter Wasser zu setzen, ganz vernünftig - allein aus ästhetischen Gründen. Doch schon jetzt kommt es mir wie eine halbe Ewigkeit vor, dass wir uns durch die Betonwüste des Bay Area gekämpft haben. Die untergehende Sonne färbt die Ponderosa-Pinien auf der linken Seite des kleinen Tals hellrot; von der Schattenseite weht ab und zu eine kühle Brise rüber.
»Hier haben sie Lassie gedreht«, meint Nick. Ich stimme eher für Bonanza. Hauptsache wieder allein. Das ist das Wunderbare an diesem Land. Egal, wie schlimm Eigenheimsiedlungen und Einkaufszentren-Terror auch sein mögen: Ein paar Stunden Fahrt bringen dich an einen Ort, der so einsam ist, dass du fünf Meter neben der Straße sterben kannst und deine Leiche niemals gefunden wird. Der Student vor uns auf der Straße scheint die goldene Stunde genau wie wir zu genießen. Gemütlich hockt er in seinem Campingstuhl und liest ein Comic-Heft, das er auf seinem Bauchansatz balanciert. Er sieht aus, als hätte er die ganzen Sommerferien so verbracht. Das Schild, auf dem vorne Stop und hinten Slow steht und mit dem er eigentlich den Verkehr regeln sollte, lehnt an seinem 86er Chevrolet Caprice - unserer Meinung nach der letzte echte amerikanische Wagen.
»Could be twenty minutes«, hatte er rübergerufen, nachdem wir auf die Pole Position am Ende des geteerten Stücks Straße vorgefahren waren. Als wir den Motor ausgemacht haben, lag noch eine dünne Staubwolke in der Luft, was bedeutet, dass der Lotsenwagen, hinter dem alle Autos durch die Baustelle zuckeln müssen, gerade erst um die Ecke verschwunden ist. Bis er mit dem Gegenverkehr zurückkommt, kann noch einige Zeit vergehen, also machen wir es uns bequem. Nick legt seine Füße auf das Armaturenbrett und fischt eine Limo unter seinem Sitz hervor.
»Erstmal'n Dew ...«
Wir schauen aus dem Fenster und wünschen uns mal wieder, auch einen Sommer lang Stop-Slow-Mann zu sein, am liebsten zusammen mit einer Stop-Slow-Studentin - einer von denen, die in den letzten Jahren häufig die Herzen von zwei Geekolos erfreut haben. Jetzt, wo die Räder stillstehen, fällt mir wieder ein, wie aufgeregt wir eigentlich sein müssten: »Mach halt den Scheiß Karton auf«, sage ich. Ohne weitere Worte zu verlieren, werfen wir den ursprünglichen Plan, bis zum Abend zu warten, über Bord. Nick jongliert mit einer Hand den Pappkasten von der Rückbank nach vorne. Ritsch, Tape ab, klapp, klapp. Trommelwirbel. Er greift hinein, raschelt rum und zieht einen Papierstreifen raus, der in etwa so breit ist wie drei oder vier Luftschlangen zusammen nebeneinander, mit Tausenden von kleinen Löchern drauf, wie eine Art von Blindenschrift.
»Ein Lochstreifen.«
Nick zieht in seiner Spock-Manier eine Augenbraue hoch und hat direkt eine Story parat: »Ein Kumpel von mir, der beim Bund war, hatte kistenweise davon zuhause rumliegen. Das haben die in den Achtzigern wohl noch benutzt, um Befehle per Fernschreiber auszutauschen, »Fahne auf Halbmast setzen' und so.«
Wir haben unseren Arsch also für eine Rolle Papier riskiert. Super. Ich rolle den ersten Meter ab. Tatsächlich: ein Standard-Lochstreifen, wahrscheinlich mit irgendeinem Programmcode drauf. In jeder Reihe sind jeweils sieben Bit nebeneinander gespeichert. Ein Loch bedeutet »1«, kein Loch bedeutet »0«, ganz einfach; über die Perforation in der Mitte zieht das Lesegerät den Streifen ein. In der Computer-Steinzeit fütterten die Programmierer ihre Elektronenhirne normalerweise über solche Lochstreifen oder Karten. Dass das Medium heute überhaupt noch bekannt ist, verdankt es einem ganz ähnlichen Streifen mit der Aufschrift X507.84. Die Legende geht so: 1975 sitzt ein gewisser William H. Gates III in einem Flugzeug von Boston nach Albuquerque, im Handgepäck genau so einen Lochstreifen mit ebendiesem Kürzel drauf. Auf der Papierrolle hatte Gates eine selbst geschriebene Version der Programmiersprache BASIC gespeichert. Dass er mit dieser Rolle den Grundstein zu einem Milliarden-Dollar- Imperium legen sollte, ahnt der Harvard-Student nicht. Er will das Programm einfach nur verkaufen, und zwar an eine Firma namens MITS. Die hat kurz zuvor den ersten Heimcomputer auf den Markt gebracht, der zu einem Preis von 621 Dollar erstmals auch für Schrauber erschwinglich ist. Für ihr Geld bekommen die Käufer einen blauen Kasten mit ein paar Schaltern und Lämpchen vorne dran, mehr nicht. Monitor und Tastatur hat der Rechner namens Altair 8800 noch nicht, genauso wenig wie Software. Zumindest das will der junge Gates ändern: Wer seinen Interpreter in den Rechner lädt, kann zumindest einfache Programme schreiben, die zum Beispiel die Lämpchen am Altair in Reihe aufblinken ließen. So sieht interaktive Heimunterhaltung Mitte der Siebziger aus. Gates und sein Kompagnon Paul Allen wissen, dass sie den Chefs von MITS mehr bieten müssen als blinkende Lichtchen. Deshalb gibt Allen während der Präsentation an Ort und Stelle den Code eines einfachen Flugsimulators ein. Das Spielchen beeindruckt die Altair-Herren so, dass sie sofort Gates' Programmiersprache einkaufen. Der schmeißt daraufhin sein Studium, die Papierrolle landet in einem Museum im kalifornischen Mountain View, der Rest ist Geschichte. Nachricht an uns selbst: dringend mal hinfahren! Mr. Spock scheint in Gedanken die gleiche Geschichte durchzuarbeiten, denn nach einigen Minuten Schweigen und einer halben Dose lauwarmem Dew präsentiert er seine Analyse: »Hypothese: Auf dem Streifen ist ein Spiel gespeichert, wahrscheinlich für den Altair 8800, Imsai 8080 oder einen anderen Rechner mit Intel-8080-Prozessor. Die Frage ist: Wo kriegen wir hier in der Pampa ein Lochstreifen-Lesegerät mit RS-232-Schnittstelle her?«
Guter Punkt - wenn man mal von Nicks EDV-Namedropping absieht. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, die Daten per Auge abzulesen und die Bytes einfach aufzuschreiben - aber dafür ist der Streifen viel zu lang. Um die ganze Rolle auszulesen, würden wir Tage brauchen. Nein, wir müssen einen anderen Weg finden, diesem umgekehrten Konfetti Daten abzuringen. Mit einem Fauchen taucht der Lotsen-Pick-up hinter der Biegung auf. Der Mann mit dem besten Job auf der Welt dreht sein Schild von Stop auf Slow, ohne sich aus seinem Lesesessel zu erheben, und wir reihen uns artig als einziges Auto hinter dem Baustellenfahrzeug ein. In der letzten Viertelstunde ist niemand den Highway entlang gekommen. Erst als wir die Mitte der Baustelle erreicht haben - es sieht aus, als sei der halbe Berg weggesprengt worden -, erscheinen die dunklen Umrisse eines anderen Autos im Rückspiegel. Ich versuche zu erkennen, wie viele Leute drinsitzen, aber der andere Wagen scheint zu bremsen und fällt schnell zurück. Wahrscheinlich hat der Fahrer Angst davor, dass ihm der Rollsplitt um die Ohren fliegt und ein Loch in die Scheibe reißt, wenn er zu viel Gas gibt. War das nicht wieder ein Ford? Egal. Wir lehnen uns für den orangefarbenen Rest des Tages zurück, versichern uns noch einmal, wie cool die Aktion bei der Datacorp war, und spielen ein paar Ideen zu dem Lochstreifen durch. Und obwohl die Straße eng und kurvig ist, fliegen die Meilen schneller vorbei als auf so mancher Interstate. Zerknirscht müssen wir uns eingestehen, dass zumindest diese Elternweisheit stimmt: Wenn man sich unterhält, geht die Zeit wirklich schneller vorbei.