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Major Tom hat natürlich nicht angerufen. So was macht er nie. Wenn überhaupt, überlässt er es seinen Vasallen, Informationen zu verteilen. Die geben dann Befehle durch, die mit einem »John meinte, dass du ...« anfangen. Macht nichts, dass er nicht angerufen hat - im Gegenteil. Wenn er nämlich angerufen hätte, müsste ich mich jetzt mit dem kleinen schwarzen Kasten beschäftigen und könnte nicht auf dem Balkon des Dorint sitzen und ein Radler zischen. Schon nach einer kurzen Inspektion ist mir nämlich die Lust an dem neuen Gadget vergangen: In der Rückseite der Kiste steckt ein Port, in dem weibliche und männliche Stecker gemischt sind; die Sorte habe ich noch nie gesehen. Dafür einen Adapter zu löten würde Ewigkeiten dauern, neue Software für den Datenaustausch zu schreiben erst recht. Von der Stromversorgung mal ganz abgesehen: Bei dem Rechner lag nämlich nicht mal ein Netzkabel dabei - so, als ob er vom Lastwagen gefallen wäre. Außerdem ist Samstag, und man muss ja nicht den Arbeitswahn der Amis nachmachen. Vor mir steht das Radler, von dem ich seit der LegaSys träume, und ich genieße die Nachmittagssonne. Nick nennt meine Bude immer Dorint, weil die Gänge des Apartmenthauses mit dunkelrotem Teppich ausgelegt sind, genau wie in den Schlafburgen am Stadtrand. Fand er damals todkomisch, das Wort. Ich mag das Dorint trotzdem. Es ist herrlich anonym und gerade teuer genug, um das schlimmste Volk draußen zu halten - also Leute wie uns, bevor man uns den Job vor die Füße gelegt hat. Anders als Nick bin ich nicht fünf Minuten, nachdem wir den Arbeitsvertrag bei der Datacorp unterschrieben hatten, losgerannt, um meine Studi-Bude zu kündigen. Nein, ich fand, dass eine Veränderung am Tag mehr als genug war. Und so sitze ich weiter schön in 30 Quadratmetern mit meiner Sammlung toter Medien und genieße die Freiheit. Ich muss keinen Rasen mähen, keine Sträucher schneiden und keine der anderen Frondienste erbringen, bei denen sich Nick jedes zweite Wochenende verletzt. Apropos. Er hat sich gerade gemeldet und gefragt, ob ich Lust hätte, heute Abend bei ihm im Garten abzuhängen. Seit er stolzer Besitzer eines Reihenhauses ist, schlägt er das regelmäßig vor, und ich ignoriere es genauso regelmäßig. Heute habe ich ihm zugesagt und fühle mich direkt gut dabei. Warum nicht? Er hat durchblicken lassen, dass wir allein sind, Sabina also nicht auf die Spaßbremse treten kann. Kann er sich gleich mal den schwarzen Kasten angucken. Das Telefon klingelt wieder. Andie ist in der Leitung. Es scheint ein Tag der angenehmen Überraschungen zu werden.

»Hi«, säuselt sie heiser ins Telefon, »I just got up.«

Vielen Dank, dass du diese weltbewegende Neuigkeit mit mir teilst. Ich schreie» Thanks for sharinq« in den Hörer und pfeffere ihn so lange gegen die Wand, bis die schwarzen Plastikbrösel über den ganzen Teppich verteilt sind. Zumindest hätte sie es verdient - so lange, wie sie sich nicht gemeldet hat. Aber Andie ist halt eine Göttin, und genau so muss sie auch behandelt werden. Also überziehe ich mein Lübke-Englisch fingerdick mit gespielter Besorgnis und erkundige mich, warum sie denn so heiser sei, ob es ihr auch gut ginge und so weiter. Schon während des Redens fällt mir auf, was für einen unfassbar banalen Scheiß ich ablasse. Es stimmt einfach: Auf Englisch ist man dümmer. Ach, sie sei mit den »graphics guys« gestern Abend aus gewesen, und es sei soooo lustig gewesen, flötet sie in die Leitung. Damit meint sie zwei Schmierlappen, die seit letztem Monat bei der Datacorp dafür zuständig sind, alte Computergrafiken zu konvertieren. Wie schwer kann das wohl sein? Ich hasse sie jetzt schon. Wahrscheinlich ehemalige Agenturfritzen mit Pseudo-Iro, denen John womöglich erlaubt, ihre schwarzen Hemden weiterzutragen. Obwohl ihr erstes Projekt echt cool war, das muss man zugeben: Also, eine Woche, nachdem sie bei der Datacorp angefangen haben, ruft in ihrer Abteilung irgend ein Museum an. Man habe da im Nachlass von Andy Warhol einige Disketten für den Amiga gefunden und frage sich, was da wohl drauf sei, erzählt der Kurator. Die Deppen schauen sich die Sache an und finden zwanzig vom Meister selbst am Rechner handgepixelte Porträts von Marilyn Monroe. In ihrem G5 kloppen sie die Frames zusammen, hauen den passenden Soundtrack drauf - und schon ist eine der ältesten Multimedia-Präsentationen der Weltgeschichte gerettet: You are the one. Diese fünfzehn Minuten Ruhm schlachten sie anscheinend noch heute aus, um Geek-Girls abzuschleppen. Da kann man mal sehen, dass ein Macjob nicht unbedingt ein McJob sein muss. Andie ist mittlerweile aufgewacht und schnattert ohne Punkt und Komma.

»... and he was, like, you can't be serious!«

Bla, bla, bla. Dazwischen immer dieses Idioten-Füllwort »like«, Und ich so, und er so, und sie dann - sie klingt wie alle College-Schnepfen aus den Staaten mit ungefähr einer Gehirnzelle. Dabei ist sie nicht doof, sogar ziemlich clever, mit MBA und so. Wir haben sie damals bei unserem ersten Einsatz kennen gelernt, auf dem Weg nach Russland. Sie war dafür zuständig, dass der Jet uns pünktlich nach Moskau bringt. Solche Sachen sind ihr Job: Die Firma, bei der sie arbeitet, heißt Jeppesen International Trip Planning und ist eine Art von Reisebüro, das für die Datacorp Privatflüge organisiert und all das, was man nicht ohne Weiteres im Netz buchen kann. Mittlerweile ist sie bei der Firma Vice President of Irgendwas, wie jeder zweite Ami eben. Jeppesen hat sich auf nicht ganz astreine Aktionen spezialisiert. Als wir zum Beispiel aus Russland zurückkamen, hatte es einer der Datacorp-Muftis an Bord furchtbar eilig; er zitierte den Piloten nach hinten, um ihm irgendwelche Sonderanweisungen durchzugeben. Danach gingen Landung und Abfertigung verdächtig schnell über die Bühne.

»Der Pilot hat bestimmt ATFM-Ausschluss an den Tower gefunkt - das ist das Kürzel für Schwerverletzte an Bord. Alter CIA-Trick, so wird man schneller durchgewunken«, hatte Nick rübergeflüstert. Damals hielt ich das für eine seiner Wahnvorstellungen; heute bin ich mir nicht mehr sicher. Andie hat nur gelacht, als ich sie später mal drauf angesprochen habe. Gelacht, aber nicht widersprochen. Jedenfalls war ich mir - mit mir selbst - schnell einig, dass Andie eine Göttin sein muss. Nick zu solchen Sachen zu befragen macht keinen Sinn, denn der ist sogar verbal seiner Sabina treu. Er fährt voll das retrosexuelle Programm: ausrücken zum Jagen, Frau erlegen und danach keine andere mehr angucken. Jedenfalls ist Andie einfach perfekt: Die schwarzen Korkenzieherlocken, die Augen von Counselor Troi aus der »Next Generation« und die Figur von Kelly LeBrock in »L.I.S.A. Der helle Wahnsinn« - der Film, in dem sich die zwei Nerds am Rechner ihre Traumfrau zusammenbasteln. Yeah, die Szene mit den 3D-Vektorgrafikbrüsten, unvergessen. Ergibt zusammen Andie MacDowell aus der Zeit von »Sex, Lies and Videotape«, noch bevor sie in »Und täglich grüßt das Murmeltier « etwas zu sehr ins Mütterliche abrutschte. Dass Andie dann echt noch Andrea heißt, hat den letzten Zweifel ausgeräumt: Sie kann nur eine Göttin sein. Und die steigen halt nicht vom Olymp runter, auch nicht zu mir, obwohl ich zwei Jahre lang alles versucht habe. Also »alles« im Sinne von einmal fraqen, ob sie mit mir ausgeht, ein »Nein« kassieren und sofort aufgeben. Seitdem bin ich ihr »buddy«, den sie gerne mal anruft, wenn sie sich langweilt. Der nette Depp from Old Germany, dem die ach so isolierte Geschäftsfrau gefahrlos ihr Herz ausschütten kann. Als ob sie keine Freunde hätte. Andie wohnt in Georgetown, einem - wie sie behauptet - furchtbar hippen Stadtteil von Washington D. C. mit reichlich Kneipen um die Ecke. Da waren wir einmal sogar zusammen weg, zufällig nach dem so genannten Boot Camp - das ist ein Kurs, bei dem das Datacorp-Management den Neulingen die wichtigsten Sachen beibringt. Ist schon lange her, aber an dem Abend lag was in der Luft, ganz sicher. Klar: Als Mann denkt man ja latent, eine Liga höher zu kicken, als man in Wirklichkeit kann. Aber nicht in dem Fall, wirklich: Als sie sich zur Verabschiedung rüberbeugte, da war ein Sekundenbruchteil diese Verzögerung, so, als wüsste sie nicht, wohin die Reise gehen soll. Der Abschiedskuss landete dann doch auf der Wange. Trotzdem - da war was. Ihre Kneipenstory ist mittlerweile nahtlos in einen Tätigkeitsbericht der letzten Woche übergegangen.

» ... and the phone was, like, ringing all the time ...«

Wie immer, wenn sie ihren Müll fertig abgeladen hat, faselt sie etwas davon, dass man sich doch mal in San José/Kalifornien treffen könne; da liegt die Zentrale von Jeppesen, und wie immer bekunde ich, wie »great« das sei und wie unbedingt man das mal machen müsse. Doch dann weicht sie auf einmal vom Programm ab. Ihre Stimme verlässt die hohe Schnatterfrequenz und klingt ungewohnt ernst. Sie habe das Gefühl, da sei irgendwas Großes am Laufen und ich solle gut aufpassen. Noch bevor ich nachfragen kann, bricht sie das Gespräch ab.

»Hey, take care. Gotta go.«

Extraleben - Trilogie
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