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»Und jetzt?«
Ich setze das Beck's an. Der zweite, nicht vom Reisekostenbudget gedeckte Griff in die Minibar innerhalb von vierundzwanzig Stunden - unsere Dienstreise gerät aus den Fugen.
»Jetzt wissen wir, wem die Kiste gehört«, Nick presst die Lippen zu diesem Tja-Ausdruck zusammen, »oder mal gehört hat. Mehr aber auch nicht.«
Wir stehen nebeneinander am Fenster und starren ins Nichts. Wenn man sich den Kopf verrenkt, kann man die haushohen Plakatwände drüben am Elektronikmarkt erkennen. Irgendein toller neuer Prozessor wird angepriesen. DIE ULTIMATIVE GAME-MACHINE. Was auch immer. Als Nick damals davon sprach, dass Irving eine »Legende« sei, klang das erst mal nach seinem üblichen Bullshit, denn für ihn ist so ziemlich jeder eine Legende. Er hat eine ganz eigene, völlig verquere Definition von Startum: Je obskurer eine Person ist und je unsichtbarer ihr Beitrag zur Nerdgeschichte war, desto besser findet er sie. Da kann es ihm gar nicht »granular« genug sein, wie er sagt. Klingt immer ein bisschen nach Katzenstreu. Ihm reicht es halt nicht, zu wissen, welcher Schauspieler in »Star Wars« unter der Maske von Greedo steckte, bevor Han Solo als Erster zog und ihn wegpustete. Nein, er huldigt dem Schauspieler, der in Episode IV Jabba the Hutt spielte und rausgeschnitten wurde! Der Typ war niemals auf der Leinwand zu sehen! Das einzige, was er vom Lucas-Universum gesehen hat, war der Papierkorb im Schneideraum. Und trotzdem ist er ein Star, ach was, ein Kultstar, der es verdient hat, dass man den Mädchennamen seiner Mutter kennt. Nein, wenn Nick davon spricht, dass jemand eine »Legende« sei, bedeutet das nichts. Absolut nichts. Im Fall von Irving scheint allerdings etwas dran zu sein. Wenn John uns durch so viele Reifen springen lässt, nur um rauszukriegen, was der Typ auf seinem privaten Rechner hat, muss etwas dahinterstecken. Langsam wird es mir fast peinlich, diesen IT-Schrat nicht zu kennen.
»Was war Irving eigentlich für ein Typ?«
Nick senkt den Kopf wohlwollend, so als akzeptierte er mein Eingeständnis, ein Ignorant zu sein. Dann setzt er - erst mal ganz knapp-an.
»Ein Hardy Boy, ein Hardware-Schrauber der ersten Stunde. Schon zu Lebzeiten eine Legende. War angeblich dabei, als Intel Ende der Sechziger den 4004 gebaut hat.«
Er bemerkt meinen leeren Blick und steigert schrittweise die Detaildosis: »Mann, Intel 4004, der erste Mikrochip, der in Serie ging. Hatte nur 2 300 Transistoren, nicht Milliarden, wie die Chips heute. Irving hat ihn mit entwickelt - und ein paar andere Prozessoren wohl auch. In den Siebzigern wechselte er dann in den militärisch-industriellen Kornplex.«
»Wehrtechnik?«
»Munkelt man. Angeblich hat er das Head-up-Display für die F-16 und andere Kampfflugzeuge designt. Embedded Systems, Kram, den niemals jemand außerhalb des Militärs zu sehen kriegt. In den Achtzigern ging er nochmal kurzfristig in den zivilen Sektor zurück, zu Western Digital; doch das war nur ein kurzes Gastspiel. Kurz nachdem er angeheuert hatte, gab es einen Riesenskandal in der Firma: Einige der Festplatten von Western rauchten bei den Kunden nach nur einem Jahr ab, und zwar seltsamerweise alle gleichzeitig. Nachher kam raus, dass irgendwelche Chips eine Macke hatten. Nach der Episode tauchte Irving jedenfalls irgendwo in Asien ab, so wie Arthur C. Clarke. War für ihn wohl kein großes Problem, da er in den Staaten als Engländer ohnehin immer ein Außenseiter war.«
»Was wollte er dann auf der LegaSys?«
Nick hebt seine Flasche an.
»Genau das ist die Frage. Deshalb waren ja alle so gespannt, was er sagen würde. Wenn so ein Einsiedler die Wüste verlässt, hat er dafür meist einen guten Grund.«
Ich werfe einen Blick auf den Grid, der zugeklappt auf der TV-Anrichte steht.
»Meinste, die Antwort steckt da drin?«
»Sicher nicht. Ich habe alle Verschlüsselungsalgorithmen, die so eine Maschine drauf haben könnte, durchprobiert. Bis auf Irvings Namen und ein paar Zahlen war nur Datenmüll im Magnetblasenspeicher. Nein, wenn der wirklich eine große Sensation in der Hinterhand hatte, dann liegen die Informationen sicher woanders. Irgendwo auf einer Fünfeinviertel-Zoll-Diskette am anderen Ende der Welt vielleicht. Im Rechner sind sie jedenfalls nicht. Weißt du, was ich glaube? Wer immer den Grid der Datacorp gegeben hat, hat einfach vergessen, Irvings Diskettensammlung samt passendem Laufwerk - gab's als Zubehör - mitzuliefern.«
Er macht eine lange Pause.
»Unser Job ist jedenfalls erledigt - und sie haben meinen Garten umsonst verwanzt.«
Es ist das erste Mal seit gestern Abend, dass er die Sache nochmal erwähnt. Was aber nicht heißt, dass er nicht darüber nachgedacht hat. Im Gegenteil: Er hat mit Sicherheit in jeder wachen Sekunde alle mögliche Täterprofile und -motive durchgespielt. Bei ihm laufen ständig Dutzende von Threads im Kopf ab, nur dass man normalerweise nichts davon merkt.
»Wer, glaubst du, sind sie?«
»Keine Ahnung. Konkurrenz, Industriespione, Drogenhändler. Wir wissen ja nicht, womit sich Irving so beschäftigt hat in den letzten Jahren.«
Mit einem Tag Abstand erscheint mir die Idee, von einer geheimen Macht observiert zu werden, abstruser als je zuvor. Deshalb binde ich das Thema mit einem geschäftsmäßigen »wahrscheinlich « ab. Bleibt die Frage, was wir mit dem hoch brennbaren Elektroschrott in unserem Zimmer machen. Überhaupt breitet sich ein unangenehmes was nun? im Raum aus. Und was tun zwei brave Angestellte in so einem Moment? Sie schicken eine Aktennotiz an den Chef natürlich! Ich befreie meinen Dienstrechner aus dem T-Shirt-Knäuel in der Ecke und schalte ihn an. Morgen ist Sonntag, spätestens Montag müssen wir echt neue Klamotten einkaufen gehen. Aber so, wie es aussieht, geht unsere Flucht ohnehin bald zu Ende und Dr. Kimble darf zurück in sein Dorint.
»Dann schicke ich John mal die Daten und frage ihn, wo wir den Grid abgeben sollen, oder?«
Der Beifahrer nickt. Ich klinke mich abhörsicher ins Datacorp Secure Network ein; für einige Sekunden blitzt die übliche Begrüßungsmeldung auf, weiß auf schwarz: WELCOMETODATACORP Dann fährt das Terminalprogramm hoch und das System erwartet meine Eingabe.
»w«
Klick - »h«
Klick - »0«
Klick. Nicks Dienstrechner erscheint im Netzwerk. Ich kopiere mir die Daten rüber, die wir aus dem Grid ausgelesen haben, und tippe Johns Adresse ins Nachrichtenfeld ein. Noch ein paar warme Zeilen als Anschreiben, um die Form zu wahren. Wie schreibt man das auf Englisch am besten? Egal. John interessieren ohnehin nur die Daten. How are we supposed to proceed? Wie sollen wir jetzt weiter vorgehen? Senden. Die Netzwerk-LED flackert. Zum ersten Mal, seit wir vor ihnen weggerannt sind, brechen wir die Funkstille.