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»Finger weg!«
Nick hechtet rüber und schlägt mir auf den ausgestreckten Arm. Automatisch ziehe ich meine Hand vom Tastenfeld zurück. Was ist denn jetzt los?
»Hey - ganz locker!«, pfeife ich ihn an.
»Erst mal überlegen«, keucht der Beifahrer und macht einen kurzen Headbang, dass die Schweißtropfen nur so von seiner Stirn fliegen. Dann presst er seinen Rücken gegen die Betonwand, um seinen Kopf wenigstens ein kleines Stück in den Schatten zu manövrieren, der sich um das Häuschen herumzieht. Mittlerweile geht es auf zwölf zu, die Hitze ist unerträglich. Wie im Backofen rösten wir auf der offenen Fläche vor uns hin, und ich befürchte, dass Nick umkippt, wenn wir nicht langsam mal in Vaters Höhle runtersteigen können. Sein Augenlid zuckt schon so komisch. Bis hierher war unser Einbruch - das klingt nicht gut, aber so muss man es jetzt wohl nennen - der reinste Spaziergang. Bis eben sah es fast danach aus, als hätte der Beifahrer mit seinem von Tylenol-Happymachern befeuerten Optimismus mal wieder richtig gelegen. Der erste Zaun war das reinste Kinderspiel. Einfach nur die Zahlenkombi aus dem Grid eingeben, die schon bei Irvings Absteige in Kuala Lumpur funktioniert hat - und schon summte das elektrische Schloss auf. Damit war die Sache aber nicht gegessen. Denn hinter dem Zaun wartete der Todesstreifen auf uns. Der Perimeter, auf den sich unser kleiner Landetrupp runtergebeamt hat, ist kreisrund, so groß wie ein Fußballplatz und komplett mit braunem Schotter bedeckt. Es ist eine ordentliche Wüste. Die Steine sehen aus, als hätten sie japanische Mönche erst heute morgen zurechtgeharkt. Häuser sind keine zu sehen, nur ein kleines Kabuff, das genau in der Mitte der Steinwüste vor sich hin schmort; es ist vielleicht so groß wie vier Telefonzellen nebeneinander. Das muss der Eingang zur Unterwelt sein, oder zum Raketensilo, mal abwarten. Drumherum ist absolut nichts, nicht mal eine Straße. Nur zwischen dem Zaun und dem Kabuff markieren kleine rote Stöckchen im Boden einen Weg. Fast eine Viertelstunde haben wir quer durch die Schotterwüste bis zum Häuschen gebraucht, dabei sind es höchstens dreißig Meter. Schritt für Schritt haben wir uns vorangetastet, ohne auch nur einmal hochzugucken, aus Angst davor, mit dem Fuß auf den Schotter neben einem Stöckchen zu treten. Denn das würde bedeuten ... Ja, was genau? Darüber haben wir kein Wort verloren. Doch die Sache ist klar. Wenn irgendwas wie ein Minenfeld aussieht, dann das. Minefield, war das eine geile Sprachausgabe bei Desert Fox. In echt nicht ganz so unterhaltsam: Jeder Zentimeter dieser absolut gleich großen, braunen Steinchen brüllt Lebensgefahr. Wir sind die Jungs im Landetrupp mit den roten Uniformen. Nach dieser Zitterpartie stehen wir jetzt endlich vor dem Kabuff - und vor dem nächsten Codeschloss. Immerhin: Im Gegensatz zu der militärischen Edelstahlversion eben am Zaun macht es einen beherrschbaren Eindruck. Es sieht aus wie der Tresor in einem billigen spanischen Hotelzimmer: dunkelbraunes Plastikgehäuse, Folientastatur mit messingfarbener Beschriftung, Baujahr '84 schätzungsweise. Neben dem Tastenfeld steht ARM, CODE und STATUS. Dass die Leuchtdiode neben dem Wort ARM rot glimmt, kann man nur erkennen, wenn man vorsichtig die Hand rüberhält, so, wie ich es gerade versucht habe. Nick lehnt an der Wand.
»Also, Irving ist kein Idiot. Er wird nicht zweimal die gleiche Kombination verwenden«, keucht er, immer noch außer Atem.
»Logisch.«
Hey, ich wollte wirklich nichts eingeben, Dude. Der Beifahrer dreht sich ein Stück zur Seite, um einen Blick auf das Schloss zu werfen. An der Wand hat sein Rückenschweiß einen dunkelgrauen Fleck auf dem Beton hinterlassen. Im Gesicht sieht er irgendwie bleich aus, als ob der Körper das ganze Blut im Hirn zusammengezogen hat. Falls er wirklich kurz vorm Umkippen ist, verbirgt er es zumindest gut. Konzentriert wandert sein Blick über das Schloss, auf der Suche nach der Schwachstelle. Er weiß natürlich genau, dass es keine gibt. Denn die Zeiten, in denen sich solche Schlösser mit einer 9-Volt-Batterie und ein bisschen Alupapier knacken ließen, sind lange vorbei. Falls die Geschichten überhaupt stimmen. Der Beifahrer nickt kurz, so, als ob er ein Gespräch mit sich selbst beendet hätte, und startet plötzlich eine ganz seltsame Aktion: Ohne ein Wort zu verlieren, kniet er sich hin und fängt an, auf dem Boden vor seinen Füßen rumzuwühlen. Schottersteinchen für Schottersteinchen schiebt er zur Seite, bis der getrocknete beige Lehmboden darunter zum Vorschein kommt. Dann bricht er mit den Fingernägeln aus dem harten Boden ein kleines Klötzchen raus und zerdrückt es in der Hand. Hallo, wie wär's mit einem Kommentar für das unwürdige Publikum?
»Was soll das?«
Aus seiner Hand bröseln ein paar Lehmklümpchen raus, fallen auf den Boden und hinterlassen kleine Staubwölkchen, als ob Bomben dort eingeschlagen wären. Ab und zu kontrolliert Nick das Ergebnis, pustet leicht in die Hand und knetet weiter. Dann lässt er sich doch noch zu einer Erklärung herab: »Bei solchen billigen Codeschlössern nutzen sich die Tasten schnell ab - vor allem, wenn sie oft gedrückt werden, sprich: in der Geheimzahl vorkommen. Durch das Gedrücke wird das Plastik glatt poliert. Das führt dazu, dass Dreck an diesen Tasten nicht so leicht hängen bleibt wie an den unbenutzten, bei denen die Oberfläche noch rau ist.«
Zufrieden begutachtet der Beifahrer das feine Lehmpulver in seiner Hand.
»Pass mal auf.«
Er holt tief Luft und pustet den Staub gegen das Schloss.