#11 T-7: 21:31
Dass ihr Mann verschwunden ist, hat sie ganz gut aufgenommen.
»Ach, weißt du, das wird wieder so sein wie letztes Mal«, meinte Sabina nur und klang dabei wie jemand, der sich mit dem Alleinsein abgefunden hat. Die Frau eines Managers ist halt eine Witwe, deren Mann noch lebt. Haha.
»Ja, denke ich auch«, log ich knallhart, dann plätscherte das Gespräch seinem verdienten Ende entgegen. Mit »letztes Mal« meinte sie den Großalarm vor ein paar Monaten. Da hat die Datacorp Nick auch mitten in der Nacht rausgeklingelt und er ließ dann tagelang nichts mehr von sich hören. Offiziell war der Einsatz mal wieder streng vertraulich. Dabei brauchte man nur CNN einzuschalten, um zu ahnen, wo Nick gerade war - nämlich im schönen Wyoming. Auf einer Luftwaffenbasis da oben war den Amis echt ein grober Schnitzer passiert: Die konnten -einfach gesagt - ihre Atomraketen nicht mehr erreichen. Hätte im Bunker in diesem Moment jemand den Roten Knopf gedrückt, wäre nichts passiert. Die USA standen mit runtergelassener thermonuklearer Hose da. Alarmstufe Rot. Schuld war natürlich die antiquierte Raketentechnik. Eine Menge von dem Zeug stammt aus den Sechzigern, und es ist bekannt, dass an einigen Stellen noch Floppy Disks rumgereicht werden.
»Update« ist auf den Atombasen ein böses Wort, weil das die 100-prozentige Einsatzfähigkeit bedrohen würde. Die Weisheit Never change a running system hat bei denen den Rang einer Religion - eine der wenigen Religionen übrigens, für die wir uns erwärmen können. Wie dem auch sei: In den Atomwaffenbunkern kassiert der Kantinenkoch schon eine Abmahnung, wenn das Verfallsdatum auf dem Hühnchensalat abgelaufen ist. Gut vorstellbar, was abging, als die Atomraketen einfach offline waren. Nick kam nach einer Woche total durch den Wolf gedreht zurück. Doch die ganze Aktion fühlte sich völlig anders an. Das war ein Großeinsatz, da brummte die Bude, das hat man selbst als Unbeteiligter mitgekriegt. Diesmal läuft alles viel stiller ab. Und selbst wenn sie Nick wieder abgeholt haben - er hätte vorher das Büro abgeschlossen, egal, ob der Dritte Weltkrieg gleich ausbricht oder nicht. Immerhin bleibt ihm die Hitze hier erspart, damit kommt er ohnehin nicht gut klar. Ich habe alle Jalousien zugedreht und schaue zu, wie die Nachmittagssonne durch die Spalten kleine Laserstrahlen in meine Bude schießt. Fehlt nur noch eine Frau, die sich mit knallrotem Lippenstift davorstellt, und schon wäre das Poster von Patrick Nagel komplett. Stattdessen legen sich die Strahlen gemütlich über mein »I want to believe« -Poster. Das hat Nick mir auf dem Höhepunkt des »Akte X« - Hypes mal besorgt und ich lasse es weiter über meinem Futon hängen - nur aus schlechtem Gewissen, weil ich ihm nie was schenke. I want to believe. Ich will glauben. Zum Beispiel, dass sich hier hin nochmal eine Frau verirrt. Aber selbst wenn, würde sie sich spätestens bei diesem Poster wahrscheinlich wieder umdrehen.
»Das Dorint«, so nennt der Beifahrer immer meine Bude, weil draußen auf dem Gang so dunkelroter Hotel-Teppichboden verlegt ist. Im dritten Semester hat er mir geholfen, meine Möbel von meinen Eltern hierher zu bringen. Die habe ich dann in der Wohnung exakt genauso wieder aufgebaut wie in meinem Jugendzimmer: Links in der Ecke die Stereoanlage, daneben der Ikea-Nachttisch, im Bücherregal die kompletten Jahrgänge von »Aktueller Software Markt«.
Während der Nuller kamen ein paar pseudostylishe Möbel dazu, die mir retromäßig noch vertretbar erschienen, der unvermeidliche Panton-Stuhl zum Beispiel. Alles musste vintage sein, klar. Wobei mal ein kluger Mensch gesagt hat, dass Leute, die sich ihre Bude ausschließlich mit Vintage-Kram vollstellen, eigentlich nur Angst vor ihrem eigenen Geschmack haben. Wie dem auch sei. Jedenfalls ist es immer noch mein Jugendzimmer, nur dass ich es jetzt mit einer dünnen Tarnschicht Erwachsenheit überzogen habe. Ach was: Die Datacorp hat Nick bestimmt abgeholt und in die Staaten geschafft. Und es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Ich trotte zum Kühlschrank rüber und ziehe ein Mut-Corona raus. Es ist Zeit, Kontakt zum Olymp aufzunehmen.
»Hi guys!«, trällert Andie. REM 1: Obwohl sie auch schon lange die Dreißig hinter sich gelassen hat, klingt sie bisweilen immer noch wie ein Teeniemädchen in den Nullern, die gerade ihr erstes Video bei MySpace hochgeladen hat - mit diesem »Haaaaaiigaaaaisss«, gefolgt von schrillem Kichern. REM 2: Andie hat definitiv noch nichts von Johns Unfall gehört, sonst wäre ihre Laune nicht so glänzend. REM 3: Sie spricht mich schon im Plural an, was bedeutet, dass Nick und ich es mit unserer kleinen Bromance in der Vergangenheit etwas übertrieben haben. Höchste Zeit für eine Klarstellung.
»Hi Andrea, it's just me.«
Oh Gott, warum klingt man auf Englisch immer so dämlich?
»Oh, hi«, flötet sie in ihr Telefon, wieder mit einem breitgekauten »haaaiiii«.
Wie komme ich jetzt dezent zur Sache, was heißt Flugbuchung nochmal auf Englisch? Zu spät, Andie schnattert schon los.
»You know what? I'm just picking up my breakfast at Ambrosia!«
So hieß der Coffeeshop in San Jose, wo wir damals immer rumgehangen haben, während des Einsteigerseminars, das uns die Datacorp spendiert hatte. Das Ambrosia ist einer dieser Läden, die sich furchtbar europäisch vorkommen, nur weil die Truthahn-Wurst auch auf Baguettebrot serviert wird und die Toilette stinkt. Ins Ambrosia sind wir immer in den Seminarpausen rübergegangen. Es war herrlich, mit anzuhören, wie sie an der Theke ihre Bestellung runterratterte. Oder besser gesagt: ihre Nicht-Bestellung. Denn ihre Order bestand aus einer langen Aufzählung von Dingen, die sie nicht auf ihrem Sandwich haben wollte: keine Majo, kein Ketchup, kein Käse, nicht mal potenziell fetthaltige Sesamkörner auf dem Brot. Damit habe ich sie immer aufgezogen, war sozusagen unser Running Gag. Dann hat sie immer gelacht, und den Kopf so weit nach hinten gelegt, dass ihre schwarzen Locken fast unten am Hohlkreuz anstießen. Dabei sah sie original wie Andie McDowell aus, was allein namensmäßig ja exzellent passt, allerdings findet der Beifahrer, dass sie vom Gesicht her eher Sean Young ähnelt, also Rachael aus »Bladerunner«, plus einem guten Schuss Prinzessin Leia. Alle Schlüsselreize also bedient. Man muss echt aufpassen, was man Jungs zwischen elf und fünfzehn so medial vorsetzt. Jedenfalls war da was. Natürlich nicht so richtig. Die Beziehung zwischen ihr und mir lief auf dem gleichen Niveau ab wie alle meine Beziehungen: Die Affäre war eingebildet - aber ausbaufähig. Vielleicht sollte ich sie echt mal in Kalifornien besuchen und einfach auf den Ausländer-Bonus hoffen. Hört man doch immer wieder, dass irgendwelche Nerds in Übersee den totalen Volltreffer landen, ganz einfach, weil die Sprachbarriere ihre Nerdyness schluckt. Die Ladys merken einfach nicht, mit wem sie es in echt zu tun haben. Und wenn sich herausstellt, dass mit den »Kumpels«, von denen er immer sprach, nur Jungs aus seiner World-of-Warcraft-Gilde gemeint waren, die er noch nie im Leben getroffen hat, ist es zu spät. Hm, wäre einen Versuch wert. Okay, never change a running gag: »So you're having another one of those low-carb, low-fat, low-sodium, low-taste sandwiches?«
Ihr Lachen klingelt durch die Leitung. Waren echt nette Zeiten, damals beim Boot Camp. Durch dieses Blitztraining schleust die Datacorp alle Mitarbeiter, die gerade angefangen haben. Da kriegen die Neuen dann wichtige Amikonzern-Grundregeln eingetrichtert, zum Beispiel: Fahre niemals alleine mit einer weiblichen Kollegin im Aufzug! Machst du es doch, kriegen sie dich vielleicht wegen sexueller Belästigung ran. An so was denkt man natürlich nicht als durch und durch moralisch verkommener Europäer. Andie musste sich den ganzen Quatsch auch anhören, weil sie kurz zuvor bei Jeppesen eingestiegen war, das ist eine Art von internem Reisebüro der Company. Wenn ein Legacy Systems Consultant irgendwo auf der Welt ein Feuer löschen muss, organisiert Andie das Ticket. Und genau darum würge ich mir hier einen ab weil sie wissen könnte, wo Nick ist. Doch um meine volle Social-Engineering-Power loslassen zu können müsste mich die Göttin - ihr interner Codename bei uns -allerdings erst mal zu Wort kommen lassen, was sie nicht tut. Sie gackert weiter.
»No, I'm done with that. I'm even putting some sugar in my coffee right now.«
Sie betont es so, als würde sie Nitroglyzerin in ihren Kaffee kippen. Gott, sie war vorher schon so was von heiß, und jetzt nimmt sie auch noch Kalorien zu sich! Das bedeutet, ihre MBA-Bitch-Hosenanzüge sitzen in Zukunft endlich mal vernünftig. Und schon ist das Hirn wieder geschmeidig in die Einbahnstraße eingebogen. Schrecklich: Da ist man bald so alt wie Yoda, aber der Typ, der im Kopf die Filme einlegt, bleibt immer fünfzehn. Ah, sie muss atmen! Jetzt schnell zum Geschäftlichen kommen. Ich frage, ob sie für Nick in den letzten Tagen irgendwas gebucht hat, und versuche dabei so unaufgeregt wie möglich zu klingen.
»Nothing that I know of. Do you want me to check the records?«, gibt Andie sachlich zurück. Zack, schon hat sie auf Geschäftston umgeschaltet. Dass was nicht stimmt, hat sie natürlich auch sofort gerochen. Vor Andie kann man nichts geheim halten, ich jedenfalls nicht. Eigentlich wäre jetzt genau der richtige Moment, sie zu bitten, bei der Gelegenheit gleich noch einen Blick in Johns »records« zu werfen. Doch die Frage kann ich mir sparen, weil er zu den Häuptlingen gehört; sie bekäme ordentlich Ärger, wenn jemand merkt, dass sie in seinen Reiseabrechnungen rumstöbert. John ist off-limits, jenseits der Grenze. Verdammt, dabei ist sein Flugplan von letzter Nacht bestimmt interessant. Die Cessna, die im Wald lag, das war doch so ein ganz kleiner Grashüpfer. Die Dinger können nicht so weit fliegen. Wo ist John bloß gestartet? Der Pausenclown aus Old Germany hat die US-Göttin dann noch ein bisschen unterhalten - alles natürlich ohne Hinterngedanken -, bis der nette Mexikaner vom Ambrosia ihre Sandwiches fertiggemacht hatte. Dann beendete Andie das Telefonat mit ein paar professionellen Floskeln, von wegen »take care« und so. Das war vor einer halben Stunde. Jetzt habe ich das Corona zum Runterkommen ausgetrunken und das Telefon klingelt schon wieder. Andie ist dran, großartig. Man kann sich echt auf sie verlassen. Wenn sie verspricht, nochmal anzurufen, dann macht sie das auch. Allerdings klingt sie total ausgewechselt. Die Quasselquelle ist versiegt, Schluss mit lustig. Nein, es habe in den letzten 48 Stunden bei Jeppesen keine Buchungen auf Nicks Namen gegeben, erklärt sie knapp. Ihre Stimme klingt gedämpft, als ob sie Angst hat, einer ihrer Kollegen könnte das Gespräch mithören. Und auf einmal fragt sie mich, ob ich das von John gehört hätte. Mir bleibt nicht mal Zeit, rumzueiern.
»He's been taken to a hospital, that's all I know«, erkläre ich wahrheitsgemäß.
»That's good«, sagt sie und dann nochmal nachdenklich »that's good«, so als ob es gut wäre, dass John aus dem Verkehr gezogen wurde. Unsinn, vermutlich ist sie nur froh, dass sie John schnell verarztet haben, oder irgend so ein Shaun-Typ steht gerade hinter ihr und sie darf sich nichts anmerken lassen. Jedenfalls steht damit fest, dass Nick nicht zu irgendeiner geheimen Dienstreise aufgebrochen ist, oder zumindest keiner, die in den Akten erscheint, was bei der Datacorp natürlich nichts heißt. CNN jedenfalls meldet aktuell keinen IT-Großbrand, bei dem er mitlöschen könnte. Damit sind meine Optionen aufgebraucht: Nick ist entführt worden, Andie weiß nichts, John kann mir nicht helfen, Shaun hasst uns. Ich muss die Suche nach Mister Spock also selbst starten. WELCOME TO DATACORP.
Die weißen Fixedsys-Buchstaben strecken sich über den Bildschirm aus, darunter wartet der Cursor geduldig blinkend auf mein Passwort. Früher wirkte die Eingabezeile wie eine Verheißung, wie die Einladung zu einem neuen Leben. Mittlerweile hat sie etwas Bedrohliches. Ich tippe unser neues persönliches Passwort ein, das sich Nick letzte Woche ausgedacht hat:
SETEC ASTRONOMY
Nein, wirklich sicher ist es nicht, jeder Cracker mit einem Funken Geschichtsbewusstsein würde das als Erstes ausprobieren. Aber manchmal schlägt Nostalgie eben Security. Apropos: Am Anfang dachten wir ja immer, bei der Datacorp säßen die totalen Sicherheitsprofis. Mein Gott, was haben die für einen Zauber veranstaltet, als wir da angefangen haben. Wirklich jede Flaschendreh-Knutscherei aus den letzten zwanzig Jahren mussten wir beichten, jeden Bekannten mit Namen und Anschrift angeben, jeden Besuch im Land der Gar-nicht-mal-so-Freien rechtfertigen. Why did you visit the US in 1999? Wir haben uns drauf geeinigt, statt den Ausflug zum Area 51 lieber Angeln in Montana anzugeben. Und so ging das weiter: Nehmen Sie Drogen? Haben Sie Schulden? Klar, die wollen keine Leute an Bord haben, die erpressbar sind, aber es wurde so tief gebohrt, dass es schon weh tat. Was die Sicherheitsregel in puncto Frauen ist, hat uns ein Kollege später mal gesteckt: »Everything's fine as long as you fuck NATO.«
Solange die Gute aus dem Bündnisraum kommt, ist alles roger. In letzter Zeit haben wir allerdings gemerkt, dass das alles nur Show war und die Datacorp auf Sicherheit pfeift, wenn man erst mal im Club drin ist. Ich sitze auf dem Balkon des Dorint, wobei »Balkon« vielleicht etwas zu hoch gegriffen wäre. Es ist ein Quadratmeter Kachelboden mit Geländer drum herum. Aber wenn man direkt vor dem Erwachsenen-Klappstuhl aus Teak eine leere Becks-Kiste als Fußbank positioniert, sitzt es sich echt bequem auf dem Balkon. Für Menschen, die von ihrer Umwelt außer dem nächsten Bildschirm etwas wahrnehmen - Frauen zum Beispiel-, wäre es trotzdem nichts. Schon zehn Uhr und trotzdem noch T-Shirt-Wetter, besser geht's eigentlich nicht. Normalerweise würden wir jetzt bei Nick auf dem frisch gemähten Rasen sitzen und uns von Sabina ein Bier bringen lassen. Dass sie uns bedienen würde, hätte dabei nichts mit Machotum zu tun, sondern wäre schlicht und ergreifend nötig, weil sich Nick, der stolze Häuslebesitzer, nach einem Wochenende voller Gartenmaloche nicht mehr bewegen, ergo auch kein Bier holen könnte. Wir würden in den Liegestühlen lümmeln und uns wie Waldorf und Statler über die Jugend von heute aufregen, das heißt, vor allem Nick würde sich aufregen und in eine seiner endlosen Predigten verfallen, so was in die Richtung: »Die Kids von heute haben einfach kein Gefühl mehr dafür, wie wertvoll Speicher ist! Die verschwenden für den kleinsten Scheiß ein Gigabyte. Aber wir, ja wir wussten RAM noch zu schätzen. Beim C64, da war Speicher so knapp, dass wir die Befehle JSR und RTS in einer verschachtelten Subroutine durch JHP ersetzt haben, weil man dadurch ein Byte sparen konnte. Ein Byte, dafür haben wir noch gekämpft!«
Ich würde »Genau!« sagen, obwohl ich kein Wort verstanden habe, und hoffen, dass Opa bald aufhört, davon zu schwadronieren, wie viele Groschen ein Kilo Kartoffeln früher gekostet hat. Stimmt schon, diese degenerierten jungen Menschen haben einfach keine Ahnung. Zum Beispiel die im dritten Stock des Dorint: Lassen mitten in der Woche einfach wieder eine Party steigen. Nach dem Lärmpegel zu urteilen, lungert die halbe Truppe draußen auf dem Balkon rum. Amorphes Indie-Geklampfe dröhnt runter, garniert mit einigen Fetzen typischem Ersti-Gewäsch, das übliche Gejammer über »total harte Klausuren« et cetera. Über der verkehrsberuhigten Straße liegt der typische Duft eines Sommerabends. Es riecht nach diesem roten marinierten Asi-Fleisch, von dem selbst fünf Kilo weniger kosten als die Grillkohle, und das niemand unter 25 Grad Außentemperatur anrühren würde. Von oben zieht die unvermeidliche Dope-Wolke runter. Ich spüle den letzten Bissen von dem Döner runter, den ich mir beim türkisch-chinesischen Pizzadienst um die Ecke geholt habe, und versuche, mich auf den Bildschirm zu konzentrieren. Bizarr. Der Abstand zwischen mir im ersten und den Studis im dritten Stock könnte nicht größer sein. Die machen Party und ich fahnde nach einem Menschen, den ein globaler Megakonzern verschluckt hat. Immerhin werde ich dafür den Balkon des Dorint nicht verlassen müssen, wenn alles glatt läuft. Der Wendepunkt kam nach unserem letzten Einsatz oben in Washington. Er endete damit, dass uns ein lieber Kollege seine Glock an den Kopf gehalten hat. Danach musste sogar der Beifahrer eingestehen, dass das Verhältnis zu unserem Arbeitgeber ein wenig zerrüttet war. Selbst seine Nibelungentreue war aufgebraucht. Seitdem bespitzelt er die Company mindestens so gründlich, wie er vorher Johns Befehle ausgeführt hat - auch wieder typisch deutsch. Letztens haben wir uns einen Spaß daraus gemacht, im Datacorp Secure Network ein bisschen rumzustochern, und fanden dabei raus, dass das Firmennetz nicht halb so secure war, wie es dem Namen nach klingt. Und genau das, was wir damals gemacht haben, werde ich jetzt einfach wiederholen. Es wird Zeit, ein weiteres Mal hinter die Mauern zu schauen. Es wird Zeit für den Kamera-Hack - wobei »Hack« vielleicht ein bisschen hoch gegriffen ist. Die Sache ist ganz simpel: Uns ist gleich von Anfang an aufgefallen, dass bei der Datacorp überall Überwachungskameras hängen, egal, wo man hingeht, sogar im Flur vorm Seminarraum. Liegt vermutlich an den krassen Immobilien, in die die Company zum Teil eingezogen ist - ehemalige Konsulate, Bunker, Radarstationen und so weiter. Die wurden in den Achtzigern und Neunzigern billig der amerikanischen Regierung abgekauft, offiziell, um da Data-Center unterzubringen. Ob's stimmt - wer weiß? Solche Perimeter - ein göttliches Wort! -werden natürlich von Natur aus gut überwacht, obwohl das einen Mordsaufwand bedeutet: Um alles mit analogen Überwachungskameras abzudecken, musste man früher kilometerlange RG-59 -Kabel durch die Landschaft verlegen, und zwar von jeder Kamera zu einem zentralen Videorekorder. Deshalb hat die Datacorp vor ein paar Jahren moderne Kameras angeschafft. Da braucht man nur noch ein einziges Kabel, um die Bilder an einen Zentralrechner zu übertragen. Und damit nicht ständig jemand vor Ort sitzen und auf den Monitor starren muss, hängen die Kameras am Firmennetzwerk. Das bedeutet allerdings auch: Jeder kann bei der Peep Show dabei sein, wenn er nur weiß, wo er suchen muss. Alles, was man braucht, ist die Netzwerkadresse der Kamera. Und genau an diesem Punkt waren die lieben Kollegen von der Konzernsicherheit nicht auf der Höhe: Sie haben die Kamera im Netzwerk miserabel versteckt. Alle Seiten der Videokameras im Netzwerk bekommen nämlich vom Hersteller immer so voreingestellte Titel - meistens der Modellname und dazu ein generisches Blabla wie »Live View«.
Genau diesen Default haben die Jungs nicht verändert, und das bedeutet: Wir mussten zum Beispiel im Datacorp-Netz nur nach »intitle: Axis206M + Live View« suchen und voila: Alle Überwachungskameras vom Typ Axis 206M ließen uns an ihren Bildern teilhaben. Die Welt der Datacorp lag uns zu Füßen. Auf einmal konnten wir per Video in alle Niederlassungen einen Blick werfen, manche Kameras ließen sich sogar aus der Ferne schwenken. Wir waren total geflasht, ungefähr wie damals in den Neunzigern, als die ersten Webcams aufkamen.
»Wow, man kann sehen, was in dieser Sekunde gerade auf dem Times Square abgeht. Das ist die Zukunft! «, dachten alle. Dann wurde natürlich erst mal die Kaffeekanne in Cambridge angeguckt und zehn Minuten lang umsonst darauf gewartet, dass Jennifer Ringley sich vor der Kamera auszieht. Hat sie natürlich nicht gemacht, doch andere Mädels zierten sich weniger. Und so übernahmen in der Welt der Webcams anstatt von süßen Jennys die dreckigen Cam-Huren die Macht und die Sache verlor mächtig an Appeal. So ähnlich lief das auch mit den Datacorp-Kameras ab. Wir waren erst mal voll aufgeregt, dass wir jetzt aus der Ferne das Wetter vor der Datacorp-Station in Kangerlussuaq abchecken konnten -aber dann ließ die Energie auch schon nach und wir loggten uns wieder aus. Okay, in Wirklichkeit haben wir auch deshalb so schnell aufgesteckt, weil wir Panik bekamen, unser kleiner Überwachungskamera-Hack würde in irgendwe1chen LogFiles auftauchen. Damals hatten wir noch was zu verlieren. Jetzt irgendwie nicht mehr. What. The. Fuck. Ist das jetzt echt ... Nein, das kann nicht sein. Doch es kann: Die Studis oben haben die Titelmusik von »Baywatch« reingeworfen -und was viel schlimmer ist, sie gehen total drauf ab! Vielleicht hat Nick doch recht, und mit der Jugend stimmt was nicht. Immerhin ein Höhepunkt am heutigen Abend. Das Cam-Surfen dagegen lässt sich ziemlich lahm an. Ich habe ein kleines Skript zusammengezimmert, das alle Überwachungskameras im Firmennetz lokalisiert und mir ein Livebild dreißig Sekunden lang anzeigt. Dann spürt es die nächste Cam auf. Anstelle aufregender Schlüsselloch-Blicke produziert das Programm leider ohne Ende Langeweile im Format 800 mal 600 Pixel. Unser Arbeitgeber logiert viel unexotischer, als wir angenommen hatten. Ein stinknormaler -und obendrein leerer -Büroflur reiht sich an den nächsten, gefolgt von Parkplätzen, Tiefgaragen und weiteren Bürofluren. Wo das Gebäude steht, in dem die jeweilige Kamera installiert ist, lässt sich - wenn überhaupt - nur an Kleinigkeiten erkennen: Sind die Kannen in der Kaffeemaschine oben abgerundet? In diesem Fall ist es ein amerikanisches Modell, wahrscheinlich von Mr. Coffee oder Kitchen Aid. Die Kannen in Deutschland von Severin und Krups sind eher eckig-bauhausmäßig. Dann gibt es noch die Türöffner: In Amerika ist es meist ein Knauf zum Drehen, in Deutschland standardmäßig die Klinke. Aber am leichtesten lässt sich der Ort natürlich rausfinden, wenn ein Lichtschalter zu sehen ist. Die amerikanischen Modelle mit diesem kleinen, zierlichen Schalter kann man selbst bei kleiner Auflösung gut von den massiven deutschen unterscheiden. Wenn eine Parkgarage zu sehen ist, wird die Sache völlig banal. Da erkennt man immer ganz gut, ob die Kamera auf amerikanischen Boden gerichtet ist oder nicht. Obwohl selbst das schwieriger geworden ist, schließlich haben auch drüben die gesichtslosen Mobilitätsautomaten, die Toyota Camrys und Ford Focus, die Macht übernommen. Straßenkreuzer gibt's in Amiland schon lange nicht mehr, was einerseits natürlich schade ist. Andererseits ließe sich argumentieren, dass man nicht die Hälfte der freien Welt dazu zwingen kann, für immer und ewig auf einem ökologischen Abenteuerspielplatz zu leben, nur damit man sich als deutscher Autoromantiker an gigantischen Blechmonstern erfreuen kann. Unsere Vermutung, dass die Datacorp kleidungsmäßig gleichgeschaltet ist, scheint übrigens zu stimmen. Keiner der Typen auf den Videobildern trägt eine Krawatte, sondern alle hetzen mit Hemden und Flanellhose zwischen den Büroboxen hin und her. Frauen sieht man so gut wie keine. Niemand rebelliert gegen diesen Preppy-Dresscode, nicht mal ein Administrator mit T-Shirt oder so fällt aus dem Rahmen. Wie immer bei der Datacorp gilt: Alles ist so unauffällig, dass es fast wieder auffällig ist. Ich muss kurz vom Bildschirm weggucken, weil die Augen anfangen zu brennen. Über dem Dach des Altenwohnheims schwebt gerade eine letzte Maschine Richtung Flughafen. Ihre Landescheinwerfer bohren sich in den Dunst der Sommernacht, die Landeklappen fahren mit einem lauten Pfeifen aus. Das bedeutet, es ist gleich elf. Nach diesem Flugzeug wird die Nabelschnur zur Welt gekappt und die kleine Stadt in Deutschland darf wieder das tun, was sie am besten kann -schlafen. Die Studi-Grillwolke hat sich mittlerweile verzogen, jetzt weht eine klare Brise durch die verzinkten Gitter des Balkons. In einer halben Stunde muss die Entscheidung fallen: entweder das Kapuzensweatshirt von der University of California anziehen, das ich in akademischem Überschwang angeschafft habe, oder reingehen. Auf dem Bildschirm laufen weiter nur triste Büroflure durch. Ich genieße den Bodensatz des letzten Corona für heute und schaue an den Tautropfen vorbei in den Nachthimmel, über den sich die Milchstraße wie ein Brautschleier zieht. Wieder mal fällt es leicht, zu erraten, was der Beifahrer in diesem Moment sagen würde.
»Alter, die Wahrheit ist da draußen. Wirklich.«
Das Extraterrestrische ist auf seiner Agenda in letzter Zeit wieder mächtig nach oben gerutscht. Wenn man fies wäre, könnte man sagen: Seit er Vater ist, scheint für ihn die Idee vom Leben auf einem fremden Planeten an Attraktivität gewonnen zu haben. Aber das ist unfair, denn eigentlich war er zeitlebens totaler Ufo-Freak. Yes, Mr. Bowie, he's loving the alien! Irgendwann in der ersten oder zweiten Klasse fing das an. Da hatte Nick Mumps, und der Apotheker gab seiner Mom so ein »Junior«-Heftchen mit. Auf dem Titel flog ein Ufo in psychedelischem Pink-Orange herum, und daneben stand: »Gibt es sie wirklich?«
Das Teil hat er mehrfach im Fieberwahn durchgearbeitet, dann kam er zu einer klaren Antwort: Ja, es gibt sie wirklich. Eigentlich freue ich mich immer, wenn er mir seine außerirdische Sichtung des Tages präsentiert - schließlich ist die allemal interessanter als seine drögen Assembler-Vorträge. Letzten Monat zum Beispiel hat er wieder die Story vom Mini-Ufo aufgewärmt. Sie fing wie immer mit dem Wort »angeblich« an; damit signalisiert Nick, dass er zu dem haarsträubenden Bullshit, der gleich folgen wird, selbstverständlich die kritische Distanz eines Wissenschaftlers wahrt.
»Angeblich haben 1972 zwei Jungs in Japan, genauer gesagt: in der Präfektur Kochi ...«.
Aha, blabla. Im Endeffekt ist ein Mini-Ufo ins japanische Reisfeld gefallen, na toll. Auf dem Foto, das er als Beweis präsentierte, sah die Untertasse verdächtig aus wie eine echte Untertasse, die einfach jemand mit Silberfarbe angesprüht hat. Doch das durfte ich unter keinen Umständen sagen! Vor dem großen Richter Nick sind alle Ufo-Zeugen grundsätzlich glaubwürdig. Ein Hoax? Niemals! Jedenfalls hatten die Schuljungs das Teil gefangen und in die Löcher auf der Unterseite Wasser gegossen, berichtete Herr von Däniken und legte aufgeregt nach: »Und weißt du, was dann passierte?«
Nein.
» ... dann fing es an zu zirpen und leuchtete blau!«
Ist nicht wahr. Gegen Ende der Story, wenn Sput-Nick merkt, dass die außerirdischen Dönekes sein Publikum nicht umhauen, fransen seine Erzählungen immer weiter aus, besser gesagt: Er fängt an, frei rumzuspinnen.
»Apropos Untertassen. Weißte noch? Saucer Attack -dieses coole Spiel aufm 64er. Die Grafik vom Weißen Haus war ja wohl der Hammer, und dann konnten die Ufos ja sogar den Obelisken abbrutzeln. Komisch nur, dass im Intro >God save the Queen< lief, ist ja die britische Hymne ... Na egal, hat der Typ nicht '85 dann diese geniale Demo Time Crystal gemacht? Wenn daraus echt ein Spiel geworden wäre ...«
Und so weiter und so fort, in alle Ewigkeit. Eigentlich müsste Nick an der Straßenadresse Infinite Loop 1 wohnen. Klack. Die Studis oben haben die Balkontür zugemacht, ich sollte auch langsam mal über einen Feierabend nachdenken. Die Überwachungskameras der Datacorp geben immer noch nichts her. Über meinen Rechner, den ich auf dem Kachelboden abgestellt habe, flimmert gerade eine weitere Serie von Parkplatz-Impressionen - liegen diesmal stilistisch zwischen Cyberdyne und Initech, der Firma aus »Office Space«.
Lustig: Durch die ganzen amerikanischen Filme kommt einem das alles total vertraut vor. Würde man die ganzen Stunden vor der Glotze zusammenrechnen, käme wahrscheinlich raus, dass wir mehr Zeit in amerikanischen als in deutschen Büros verbracht haben. Okay, noch zehn Minuten, dann reicht's. Wäre ja auch zu einfach gewesen.