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Wie lang eine Kassettenseite ist - unglaublich. Und das hat man früher ständig ausgesessen, bevor es die Doppeltapedecks mit dem Modus zum schnellen Überspielen gab. Jede Seite eine satte Dreiviertelstunde - was haben wir in der Zeit nur gemacht? Ach ja, wichtige Sachen wie: den Zauberwürfel auseinandernehmen und von innen mit Vaseline einschmieren, damit er sich leichter drehen lässt. Um die Zeit totzuschlagen, gehen wir abwechselnd in dem Restaurant direkt neben dem KAFE INTERNET 24 essen. Klar, man hätte sich auch bei McD verpflegen können, aber die Imbissbude nebenan heißt 3 ELEVEN und wir haben seit jeher ein Herz fur Markenrechtsschänder - zumal das Original, der Minisupermarkt von 7 ELEVEN, nur eine Querstraße weiter residiert. In dem kleinen, von Neonröhren ausgeleuchteten Kabuff drängen sich die ersten Kunden, um ihr Mittagessen abzuholen. Der Betreiber hätte es sich sparen können, drei Tische samt Monobloc-Stühlen in den Gastraum zu quetschen, denn bis auf mich möchte in diesem Ambiente anscheinend niemand essen. Alle sitzen draußen auf dem Bürgersteig. Auf einem Leuchtbalken hinter der Theke sind Fotos der Gerichte angebracht. Die Bilder sehen aus wie zugeblitzte Fotos von einem Tatort und lassen nur erahnen, was nachher tatsächlich auf dem Teller liegt. Irgendwie macht alles, was die Spurensicherung abgelichtet hat, einen einheimischen Eindruck. Wie soll man da die Ignoranz aufrecht erhalten? Zähneknirschend bestelle ich eine Art Ramen-Suppe mit etwas Gelbem drauf. Es entpuppt sich als geschlagenes Ei und schmeckt auch noch verdammt gut. Lecker einheimisch essen - so werden wir niemals das Niveau eines Berger erreichen. Was kommt als Nächstes? Eine nette Plauderei mit den anderen Gästen, um Land und Leute kennen zu lernen? Als ich zurückkomme, kauert Nick in unveränderter Position am Bildschirmplatz 29. Er starrt auf eines von Irvings Papieren; ab und zu schaut er hoch, um was im Netz nachzuschauen - schließlich wollen wir für unser Geld auch was haben. Ich falle in den Stuhl neben ihm und reibe mir den Bauch. Im kleinen Fensterchen des Rekorders kann man erkennen, dass fast das ganze Band von der linken auf die rechte Spule rübergewandert ist; die Überspielerei auf den Dienstrechner muss gleich zu Ende sein. Aus Langeweile schalte ich nochmal den Grid an. Die gleiche bernsteinfarbene Schrift, die gleichen, langweiligen Menüs - alles sieht immer noch so sexy wie die Steuerung einer Klimaanlage aus. Keine neuen Geheimnisse an dieser Front. Ich probiere nochmal alle Kombinationen mit der Taste Code durch, die ist schließlich als einzige nicht weiß, sondern rot beschriftet. Code-A, Code-O, Code-P. Komisch, war dieses Symbol, das aussieht wie eine Brezel, schon immer unten rechts auf dem Bildschirm? Bestimmt - wenn der Beifahrer das Teil unter die Lupe genommen hat, dann gründlich. Nick übersieht nichts, darauf kann man sich verlassen. Plock - die Wiedergabetaste des Rekorders springt raus. Nick schreckt hoch und wir beugen uns beide über meinen Dienstrechner, um die digitale Kopie von Irvings Kassette unter die Lupe zu nehmen. Also, los geht's: erst mal mit dem rechten Kanal anfangen, auf dem dieses dumpfe, analoge Grummeln zu hören war. Wellenform-Editor aufrufen, detune plus 100 Prozent, die Spur wird mit doppelter Geschwindigkeit wiedergegeben. Keine große Veränderung.
»Leg noch 'ne Schippe drauf«, schlägt Nick vor. Plus 200 Prozent, schon besser. Plus 400 Prozent, der Soundbrei erinnert immer noch an eine weit entfernte U-Bahn. Doch dann, bei 700 Prozent, sind wir da: Jetzt ist das Audiosignal ganz klar und deutlich. Nach und nach nehmen die Signale Gestalt an und fangen an, nach ganz normalen Geräuschen zu klingen: Eine Klimaanlage rauscht, ein Generator brummt - und Schritte. Unregelmäßige Schritte, als ob jemand vorwärts stolpert. Dazwischen schweres Atmen, wie bei »2001« - die Szene, in der Astronaut Frank den Raumspaziergang macht, um die defekte AE-35-Einheit auszutauschen. Minutenlang ändert sich nichts am Soundtrack. Mal wird das Atmen lauter, dann klingen die Schritte, als ob jemand eine Stahltreppe hochsteigt. Aber plötzlich, kurz vor dem Ende der Aufzeichnung, taucht am rechten Bildschirmrand, wo die Wellenformen vorbeiziehen, ein Berg auf. Unser Wow!-Signal. Ich tippe mit dem Finger drauf: »Schau mal, da kommt was Lautes.«
Nick atmet fast so schwer wie der Mann auf dem Tape.
»Ich wette, da sagt einer was.«
Und dann sagt wirklich einer was. Die Stimme ist gut zu verstehen, sie klingt nach einem sechzehnjährigen Amerikaner. Man, this place is awesome!
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Nick kramt eine zerknüllte Serviette aus seiner Hosentasche und wischt sich den Glanz von der Stirn. Die Bewegung sieht ziemlich nach Opa aus. Stirnschweiß, eine weitere Geißel der Lebensmitte, fast noch schlimmer als die Sache mit den Haaren in den Ohren.
»Also, Irvings Apartment kann er nicht gemeint haben, dafür war die Klitsche viel zu wenig awesome.«
»Ne, das klingt außerdem nach einem viel größeren Raum, die Early Reflections kommen erst nach 100 Millisekunden. Mindestens zwanzig Meter Abstand zwischen den Wänden, würde ich sagen.«
Mein in die Jahre gekommenes Audionerd-Wissen prallt innerhalb von null Millisekunden am Beifahrer ab. Nick schnippst den durchnässten Serviettenball auf die Tastatur.
»Hm, Wie wär's damit: Irvings Sohn hat ihm mal eine Art von Hörspiel aufgenommen, und sein alter Herr hat die Kassette später dazu benutzt, irgendwelche Daten zu speichern; solche Typen sind doch gefühlsmäßig meist ein bisschen unterkühlt. Jedenfalls gäbe es zwischen dem linken und dem rechten Kanal dann keinen Zusammenhang, und wir jagen einem Phantom hinterher.«
Mir bleibt nichts, als den Finger in die Wunde zu legen.
»Dafür müssten wir erst mal wissen, was für Daten auf dem linken Kanal drauf sind.«
Nick schaut genervt auf den Dienstrechner.
»Jau.«
Seit dem Mittagessen hat er alles versucht, um den Bitstrom auf dem linken Kanal der Kassette zu entschlüsseln - ohne Erfolg. Jetzt ist es halb fünf, und unsere Nerven liegen blank. Statt uns für die jugendliche Energie zu begeistern, sind wir nur noch genervt vom ständigen Lärm und den Wolken von Teenieschweiß, die durch den flachen Schlauch wabern. Außerdem stecken wir seit drei Tagen mehr oder weniger in den gleichen speckigen Jeans, uns gehen schon wieder die TShirts aus, Nick hat Sodbrennen vom Fraß in 3 ELEVEN und wir beide müssten mal dringend zwei Tage am Stück schlafen. So ratlos habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Eigentlich habe ich ihn noch nie ratlos gesehen, wenn es um Technik ging, höchstens »ge-challenged«, wie er in seinem Business-Blabla sagen würde. Grundsätzlich lagen wir ja richtig: Auf dem linken Kanal sind Daten drauf, wie auf einer Kasi für den C64. Nur was sie bedeuten, das konnten wir noch nicht rausfinden. Nick hat die Daten mit jedem halbwegs bekannten Maschinencode verglichen und jedes Entschlüsselungstool in seinem Arsenal drüberlaufen lassen - ohne Erfolg. Sollte es wirklich ein Programm sein, dann kennen wir den dazu passenden Rechner jedenfalls nicht. Wir stehen vor einem großen Haufen Bitmüll. Noch traut sich keiner von uns, laut die Frage zu stellen, dabei ist sie nur logisch: Warum nicht einfach aufgeben? Selbst Nick spielt mit dem Gedanken, das sieht man seinem Gesicht an. Streng genommen haben wir unseren Auftrag ja erfüllt: Wir waren in lrvings Wohnung, haben alles durchsucht, keine Disketten für den Grid gefunden, Ende, aus. Theoretisch könnte ich Andie anrufen, und in fünf oder zehn Stunden säßen wir wieder in einer Maschine nach Hause. Alles wäre gut. Major Tom könnte seinen Vorgesetzten, falls es die überhaupt gibt, mit gutem Gewissen berichten, dass alles versucht wurde. Ich könnte im Dorint sitzen und auf einen Anruf von Andie warten, Nick wäre rechtzeitig zum Abendessen und Rasenmähen bei seiner Sabina. Doch so sehr er auch ein Konzernsoldat geworden sein mag - er könnte jetzt niemals aufgeben. Vor allem, weil ich dabei bin. Wie heißt es bei der Nasa: Failure is not an option, Versagen ist keine Option. Schlösser sind eine Provokation und müssen geknackt werden - und erst recht dieses letzte Schloss, das den Eingang zu Vaters Höhle versperrt, so verlangt es der Codex des Tech Model Railroad Club. Genau deshalb hat uns John, der Fuchs, überhaupt zusammen losgeschickt. Weil er weiß, dass keiner von uns der Loser sein will, der vor dem Rätsel kapituliert hat. Ein smarter Schachzug, Herr Major, denn wir werden wirklich weitermachen, bis die Herren bei der Datacorp zufrieden sind.
»Lass mal die Location wechseln«, schlägt Nick vor. Wir packen unseren Krempel zusammen und schwanken auf die Hitzemauer hinter dem Ausgang zu.
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Es tut gut, endlich aus dem Zockbunker rauszukommen, obwohl es draußen schwül wie im Affenhaus ist und auf der Straße pure Anarchie herrscht: Schulter an Schulter schieben sich die Menschen den Bürgersteig runter, immer haarscharf vorbei an den mit Plastikflaschen übersäten Monobloc-Tischen der Imbissbuden. Gesichter rauschen auf uns zu und weichen in letzter Sekunde aus: ein chinesischer Fahrradkurier, eine Gruppe Inder um die Vierzig mit kurzärmeligen hellgelben Hemden (ein Betriebsausflug?), eine wunderschöne Thailänderin mit drei Kindern im Schlepptau (eine Nanny?). Komisch, keine Frau hat hier was Kurzes an. Der Menschenstrom fließt zäh in Richtung Innenstadt, es wird rüder gedrängelt als zuhause auf der Herbstkirmes - jahrelang der Höhepunkt unseres Lebens. Keuchend rempeln wir uns vorwärts, unsere elektronischen Habseligkeiten wie einen rettenden Fallschirm an die Brust gedrückt. Beware of pickpockets - Vorsicht vor Taschendieben, stand auf dem kleinen Schild, das das Hotelmanagement etwas verschämt ans Ende der Rezeptionstheke verbannt hat. In diesem Chaos könnten sie uns die Hosen ausziehen, ohne dass wir was merken würden.
»Also«, hechelt Nick. Weiter kommt er nicht, weil plötzlich ein Imbisswagen aus dem Katamari Damacy der Körper auftaucht. Wir weichen nach links in den Menschen-Gegenverkehr aus und tauchen frontal in die heiße Dampfwolke der mobilen Küche ein; sie riecht nach Frittierfett, Ingwer und Curry. An einem Stromkasten hängt ein Plakat mit einem kranken Kind drauf. BEWARE OF DENGUE! Na toll, der Schnitt an der Hand brennt noch stärker als heute morgen. Noch mehr Geschubse, Sorry Ma'am, zurück in unsere Spur, zwischendurch immer mal die Straße scannen, ob ein Taxi vorbeikommt, das uns klimatisierten Frieden schenken könnte.
»Also«, setzt Nick wieder an, als wir ausnahmsweise mal drei Meter freien Asphalt vor uns haben.
»Um auf unsere Diskussion von vorhin zurückzukommen ...«
Achtung, Gedächtnis aktivieren, denn »vorhin« bedeutet bei ihm nämlich nicht unbedingt »vor einer halben Stunde« oder »vor einer Minute«, sondern es kann gut sein, dass er irgendetwas rauskramt, worüber wir vor Tagen oder sogar Wochen gesprochen haben.
»Vorhin« heißt nur, dass er auf dem Gedanken im Interrupt weiter rumgebrütet hat.
»... ob ich mir mein Leben so mit sechzehn vorgestellt hätte.«
Ach, die Sache. Die Frage ist an sich völlig akademisch, denn eigentlich hatten wir früher überhaupt keine Vision von unserer Zukunft - von der Sache mit dem Loft und den Models aus »Addicted to Love« mal abgesehen. Allein das Jahr Zweitausend erschien einem Teenager in den Achtzigern so unendlich weit weg. Unmöglich, sich das vorzustellen. Wir würden erfolgreich sein, irgendwie, ganz bestimmt, und wir würden 1999 Party machen, naja, als ob 1999 wäre, wie ein kleiner Mann, der damals noch Prince hieß, sang. Alles andere lag im Dunkeln. Ohne die Straße aus den Augen zu lassen, steige ich ins Thema ein.
»Alles jenseits von Zweitausend konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Dreißig werden, vielleicht heiraten, Kinder kriegen - das war Eltern-Zeugs, darüber wurde nicht mal nachgedacht«
Nick lacht etwas verkrampft.
»Allerdings.«
Er hat gut lachen. Er hat das Erwachsenending gut im Griff, mit Sabina, seinem Haus und seinem Posten, der Rest ist doch nur noch Formsache. Wenn in ein paar Monaten der Herbst kommt und der Hausmeister vor dem Dorint seinen Laubbläser anwirft, werde ich ihn wieder ein bisschen beneiden, vielleicht sogar ein bisschen mehr als im letzten Jahr. Einen eigenen Laubbläser besitzen oder sogar einen Hochdruckreiniqer und damit dann mal so richtig saubermachen vor dem Haus - das wär's. Bei der Gelegenheit könnte ich gleich noch einen Bewegungsmelder für die Lampe neben der Hausnummer installieren. Aber warum hatte Nick das Thema überhaupt nochmal angeschnitten?
»Ja, und?«
Er guckt etwas verlegen weg.
»Na ja ...«
Jaja, wunderbar, tolle Rede, Mann, aber nicht jetzt! Ich klopfe ihm auf die Schulter.
»Sorry, aber da drüben kommt ein Taxi!«
Wir boxen uns durch die Menge zum Rand des Bürgersteigs durch. Von hinten kommt ein erbostes »Hey«.
Kein gutes Gefühl, zu den Kosmoproleten zu gehören, die rumrempeln und zuhause nur erzählen, wie viel sie auf dem Hin-und Rückflug getrunken haben. Beim Einsteigen mustert uns der Fahrer neugierig: zwei Europäer mit irgendwelchem Elektroschrott unterm Arm - diese Rucksacktouris werden auch immer seltsamer.
»To the Towers?«, fragt er mit einem breiten Lächeln. Wir müssen beide lachen.
»Why not?«, rufe ich an Nicks Schulter vorbei.
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Okay, das Spiel heißt: über die Wupper gehen. Die Regeln sind einfach: Einer muss eine Sache erwähnen, die man früher supercool fand, also zum Beispiel einen Film oder eine Fernsehserie. Schauspieler gehen auch. Und der andere muss dann sagen, wann derjenige oder die Sache über die Wupper ging, also uncool wurde. Ein einfaches Spiel, wenn man a) leicht verbittert und b) leicht angetrunken ist. Zweimal ein klares positive: Wir sitzen vor dem höchsten Gebäude der Welt, das übrigens auch von Nahem aussieht, als wäre es von einem Konditorlehrling designt worden, und machen unser viertes Tiger-Bier auf. Das heißt, wir machen die Flasche tarnmäßig im Innern einer brauen Papiertüte auf. da wir bisher noch niemanden in Kuala Lumpur gesehen haben, der öffentlich Alkohol trinkt. Wahrscheinlich gibt's dafür dreißig Stockschläge auf den Rücken, so singapurmäßig. Also besser tarnen. Wir sitzen auf einer Treppenstufe direkt am Fuß der ach so tollen Türme und schauen - Punk! - in die andere Richtung, also vom Gebäude weg. Nach den Trophäen-Ehefrauen zu urteilen, die an uns vorbeihetzen, scheint drinnen ein Luxus-Einkaufszentrum untergebracht zu sein. Die kleinen Stückchen Frau, die nicht von riesigen italienischen Sonnenbrillen oder einem Schleier verdeckt werden, sehen nach der Arbeit guter Schönheitschirurgen aus. Reihenweise Beachvolleyballerinnen mit einem perfekten hellbraunen Teint tänzeln an uns vorbei, an zwei Pennern in nassgeschwitzten Shirts. Ein großer Teich, der die Form eines Firmenlogos hat, nimmt einen Großteil des Platzes ein. Da er so groß ist, kann man nicht erkennen, um welche Firma es sich handelt – OCP vielleicht. In seinem Wasser spiegeln sich die Fassaden der Hochhäuser gegenüber. Ab und zu, wenn der Wind gut steht, weht eine kühle Brise vom Teich rüber, der fast bis zu unseren Füßen reicht. Die Luft riecht schon ein bisschen nach Abend; noch eine halbe Stunde, und der Ofen KL kühlt sich endlich ab. Ich starte unser Spiel mit etwas Einfachem.
»John Cusack?«
Der Beifahrer lästert gierig los: »Ging direkt nach dem Volltreffer über die Wupper. Dreht heute romantische Komödien, in denen sich Hundebesitzer im reifen Alter ineinander verlieben.«
Also etwa schwieriger.
»Arnold Schwarzenegg ...«
»... angezählt nach dem Film mit Danny DeVito, in dem er einen schwangeren Mann spielt, ausgeknockt mit Jingle all the Way, diesem unsäglichen Weihnachtsscheiß!«
»Rocky?«
Wie jeder Junge unseres Jahrgangs hat auch Nick irgendwann mal ein rohes Ei runtergewürgt, um für einen Moment so wie Rocky zu sein; doch wie bei vielen anderen hielt der so geschlossene Bund mit Mister Balboa nicht allzu lange.
»Teil III, als Stallone gegen Hulk Hogan kämpft. Da wurde Rocky zur Witzfigur«, rattert Nick voller Abscheu runter.
»Star Wars?«
Er muss zögern.
»Eigentlich würde ich sagen Episode I, der Moment, in dem angedeutet wird, dass Anakin Skywalker unbefleckt empfangen wurde.«
Kurze Denkpause.
» Aber eigentlich war Lucas schon mit den Ewoks in der Rückkehr der Jedi-Ritter über die Wupper gegangen.«
Ich sehe da einen größeren Zusammenhang.
»Vielleicht auch schon vorher? Star Wars gehört zu den Sachen, die - wenn man mal richtig drüber nachdenkt - nur als Idee gut sind und die sich ohne den Nostalgiefaktor in nichts auflösen.«
Nick guckt so angewidert, als müsste er Haare aus einem verstopften Waschbecken ziehen. Wenn ihm ein Gedanke gefällt, dann der, dass die Klassiker, wie er sie nennt - also alles, was in seiner Kindheit cool war -, eben doch keine Klassiker sind. Dass die Filme, Spiele und Helden am berühmten Ende des Tages über das reine Ey-weißte-noch-Geschwärme hinaus überhaupt keinen Wert haben. Für ihn undenkbar. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass die alten Sachen fast immer auch besser sind. Deshalb spielt er auch so gerne bei über die Wupper mit: Es gibt ihm die Gelegenheit, ganz genau festzulegen, wann das Neue kam - und damit der Abstieg begann. Sein Gegenangriff lässt nicht lange auf sich warten, und er startet ihn, gar nicht doof, über die erotische Flanke: » Prinzessin Leia im Metallbikini hat also keinen Wert?«
Augenzwinkern. Ein fieser Trick. Mir bleibt nichts übrig, als zu kapitulieren.
»Okay, der Punkt geht an dich.«
So richtig scheint sich Nickybaby aber nicht über den Sieg zu freuen. Zwischen seinen Augenbrauen wirft sich diese Falte auf, in die er seine gesamte Sorge über die Welt von heute packt - ein sicherer Vorbote für einen nahenden Retroanfall. Und dann ist es auch schon so weit. Mit düsterer Miene beginnt er, in seine Biertüte hineinzulamentieren.
»Gibt es überhaupt wen, der nicht über die Wupper gegangen ist?«
So leicht darf der Yesterday Man nicht gewinnen!
»Klar: Eastwood, Bowie, James Last. Alle top bis zum Schluss.«
Obwohl er eigentlich nicht will, muss Nick grinsen. Doch dann setzt er zur nächsten Strophe in seinem großen Klagelied über die Welt an, die über die Wupper gegangen ist.
»Nehmen wir mal die Nasa ...«
Ein bitteres Beispiel, stimmt. Niemand genoss bei uns früher mehr Respekt als die Nasa. Alles, was die Jungs in Houston anpackten, war perfekt, am technischen Limit, ausgereift. Deshalb mussten alle Sachen, die auch nur im Entferntesten mit der Nasa oder mit Raumflug zu tun hatten, angeschafft werden - bis hin zum Astronauten-Kuli, der auch in Schwerelosigkeit oder an der Decke schreiben konnte. Nasa, das war Nerdtum in Vollendung. Eine Traumwelt. von der jeder ein Stückchen abhaben wollte. Deshalb wird es am Ende dieser Mission nochmal ordentlich krachen, nämlich dann, wenn es darum geht, wer den Grid behalten darf - den Space-Shuttle-Laptop! Mitte der Achtziger ging dann der Scheiß los: Challenger - okay, konnte man noch als bedauerlichen Unfall abtun. Dann haben die Ingenieure Meter mit Fuss verwechselt und so die Marssonde Climate Orbiter noch vor der Landung gegrillt. Und spätestens als rauskam, dass die Nasa die einzigen hochauflösenden Filmaufnahmen von der Mondlandung ein paar Jahre lang verbummelt hatte, krepierte die Legende. Der Stoff, aus dem die Helden waren, wurde plötzlich der Stoff, aus dem billige Witze sind. Nicks Stimme senkt sich wie zum Gebet.
»... und am Schluss waren sie nur noch Beamte.«
Mit bleibt nichts übrig, als betroffen zu nicken. Seine Analyse trifft den Nagel auf den Kopf. In der Hoffnung, wieder in fröhlichere Welten eintauchen zu können, stoße ich mit meiner Tüte gegen seine Tüte und bringe einen Toast aus.
»Auf die alte Nasa!«
Doch der Beifahrer ist noch nicht fertig. Mit glänzenden Augen schaut er zu den Türmen hoch, während er einen tiefen Schluck aus seiner Tüte nimmt. Jetzt kann das Schlusswort nicht mehr weit sein.
»Stell dir mal vor.«
Er zeigt auf den Brückengang, der die Türme verbindet.
»Ungefähr bis da hin reichte die Spitze der Saturn-V-Rakete, mir der sie zum Mond geflogen sind - das größte und schwerste Fluggerät, das die Menschheit jemals gebaut hat ...«
Alles klar, theatralische Wortwahl, jetzt kommt gleich das große Überhaupt und dann ist Schluss.
»... und überhaupt: Selbst wenn die Amis wollten, könnten sie keine Saturn-V mehr bauen, weil die Techniker das nötige Wissen mit ins Grab genommen haben. Davon ganz abgesehen, dass niemand mehr genug Geld für so eine Aktion locker machen könnte. Mit dem Mondflug ist es genau dasselbe wie mit der Concorde: Kein Land oder kein Unternehmen auf der Welt hätte mehr die Milliarden, um einen neuen Überschalljet zu bauen oder sonst eine große Vision zu verfolgen. Nein, ich sag's dir: Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird als goldene Ära der Hardware in die Geschichte eingehen. Und man wird uns noch heftig dafür beneiden, dass wir das mitgekriegt haben!«
Am liebsten würde ich »Amen« sagen, doch dann würde die Predigt weitergehen. Also murmele ich nur »wahrscheinlich« und starre entschieden solidarisch in den Himmel. Warum schmeckt Bier eigentlich besser, wenn man beim Trinken mehr als hundert Meter freie Sicht in die Ferne hat? Sogar dieser lächerliche Teich schafft es, die Tiger-Plörre zu adeln und die goldene Stunde noch etwas goldiger zu machen. Die Aussicht tut einfach gut, und dass die Bodenfliesen noch glühen, obwohl uns die Türme längst mit ihren Schatten eingeholt haben, auch. Kühl von oben, warm von unten, Panoramablick - was will der Rentner mehr? Ruhe vielleicht. Aber die gibt's nicht. Denn direkt vor unserer Nase turnt ein kleiner malayischer Junge mit einer Handycam rum. Er fuhrwerkt wild mit dem Zoomhebel herum und schreit dabei ständig Regieanweisungen zu seinen Eltern rüber, die sich gerade eben mit einem lauten Stöhnen auf den Stufen neben uns fallen gelassen haben. Um ihnen zu zeigen, wie schlaff sie aussehen, dreht der Junge kichernd das Display um. Mensch, das ist es!
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Zuzugeben, dass er was nicht weiß, war noch nie die Stärke des Beifahrers. Und sollte sich ausnahmsweise doch mal eine Wissenslücke auftun, versucht er alles, damit es nicht auffällt. Das läuft immer gleich ab: Erst mal rettet er sich mit einem »so« über die Runden. Anstatt zu sagen »wusste ich nicht«, eiert er rum und behauptet »das wusste ich so nicht«, Das soll dann klingen, als ob er es anders gewusst hätte, sich aber nicht an die trivialen Details erinnern kann. Danach startet er sein nächstes Ablenkungsmanöver: Er lässt sich alles genau erklären, nickt währenddessen wohlwollend und schiebt ein »exakt« oder »genau« dazwischen. Mit dieser Taktik erreicht er, dass man am Schluss das Gefühl hat, er habe einem was erklärt. An diesem Punkt sind wir fast angekommen. Der Beifahrer nickt doller als ein Wackeldackel auf der Rückbank eines Audi 100, während er ständig dazwischenquatscht - »ja, doch, klar, Pixelvision, ich erinnere mich«.
Ich lasse ihm den Spaß und klappe den Dienstrechner auf, um aus dem DCSNet schnell die Details zu meiner Theorie zu fischen. So, wie es aussieht, stehen wir kurz davor, das Rätsel der Kassette aus Irvings Apartment zu lüften. Mal sehen, ob mir auch so eine kulturhistorische Einordnung gelingt, wie Nick sie zu allem und jedem aus dem Ärmel schütteln kann.
»Also:1987 bringt Fisher Price in den USA eine Videokamera für Kinder raus. Das Medium Musikvideo ist auf dem Höhepunkt seiner Popularität angekommen. Es ist das Jahr legendärer Clips wie Land of Confusion von Genesis - das mit den Puppen aus Spitting Image ...«
Nick gackert vor sich hin.
»Und nicht zu vergessen das Hair-Metal-Meisterwerk der Dekade: Whitesnake mit Here I go again. Unerreicht die Dame auf der Haube des Jaguar.«
Weiteres Kichern, leichtes Erröten. Wie hält Sabina nur diese geballte Verklemmtheit aus? Keine weiteren Tiger in deinen Tank, Dude, sonst kriegen wir das Tape heute nicht mehr geknackt. Das ist meine Show, verdammt! Ich versuche, meinen Vortrag seriös fortzusetzen.
»Jedenfalls bringt Fisher Price dieses Teil raus, die PXL2000. Mit der Kamera kann ab sofort jeder Junge sein eigener Videoregisseur sein, und das für gerade mal 100 Dollar.«
Herrlich, ein Produkt, das 2000 im Namen trägt, eigentlich eher typisch für die Siebziger. Wir checken das Foto aus dem Netz. Die Kamera sieht aus wie eine Super -8-Kamera für Barbies, mit abgerundeten Ecken und dem damals üblichen Overkill an Knöpfchen und Schiebereglern. Quer über das klapprige Plastikgehäuse zieht sich ein hässlicher Rallyestreifen mit dem Schriftzug PXL2000 drauf. Unten aus dem Klotz schauen vier überdimensionale Tasten raus: Record, Play, Rewind und Stop - genau wie bei einem Kassettenrekorder. Und ziemlich genau das war die Pixelvision auch.
»Und jetzt kommt der Hammer: Weil die Kids sich kein teures Bandmaterialleisten können, zeichnet die Kamera ihre Bilder auf eine stinknormale Audiokassette auf. Video auf Musikkassette!«
Obwohl Nick den Kopf sehr wissend zur Seite gekippt hat, merke ich, dass er von dem Teil noch nie gehört hat. Kee: 1-Nick: 0.Yess! Es ist Zeit, unbarmherzig wie mein großes Vorbild zur Detailschaufel zu greifen: „Damit die Bilddaten auf das Tape passen, läuft das Band mit gut achtfachem Tempo durch. Bei normalen Tempo abgespielt, dürfte das ziemlich seltsam klingen. Kommt uns bekannt vor, oder? Na ja, jedenfalls schaffen es die Techniker von Fisher Price mit ihren technischen Tricks tatsächlich, ein paar Minuten Film - schwarz-weiß, versteht sich - auf eine Neunzig-Minuten-Kasi zu quetschen.«
Und jetzt, mein lieber Watson, kommen wir zum alles entscheidenden Beweis.
»Dabei zeichnet die Pixelvision die Bilddaten auf dem linken Kanal auf und den Ton auf dem rechten.«
Nicks Mund steht offen.
»Echt?«
»Echt.«
Genau wie bei der Kassette aus lrvings Bude. Ich überfliege den Rest der Info.
»Na ja, das Teil floppte jedenfalls gewaltig und wurde 1989 wieder vom Markt genommen. Bei dem Mördertempo, den das Band draufhatte, rissen die Antriebsriemen andauernd; außerdem kriegten es kleine Kinder mit der Angst, wenn sie die Filme anguckten, weil durch die billige Optik alle Gesichter wie Gespenster aussahen.«
»Ich bin der Choppeeeer«, röchelt Nick. So albern war er schon lange nicht mehr drauf - an sich erfreulich, nur im Moment etwas ungelegen. Die Info, dass die Pixelvision-Kamera danach hauptsächlich von lesbischen Independent-Filmerinnen benutzt wurde, spare ich lieber mal aus. Sonst kriegt sich der alte Klemmi überhaupt nicht mehr ein. Ich schiebe den Rechner zu ihm rüber .
»Wir haben einen Auftrag, würde ich sagen.«
Sofort findet Nick zu alter Dienstbeflissenheit zurück.
»Alles klar. Mal sehen, wie es in Vaters Höhle ausschaut!«
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Ein neues Taxi, ein neuer Inder, die Achterbahn setzt sich wieder in Bewegung, diesmal zurück ins Hotel.
»Komm schon, komm schon, komm, kleiner Schlagmann, mach mit!«
Nick trommelt gegen die Portabdeckung des Dienstrechners. als ob er ein lahmes Pferd über eine letzte Hürde peitschen müsste. Wenn auf eine Sache Verlass ist, dann die: Sobald ihn eine Maschine zum Duell auffordert, ist alles andere vergessen: die Schwüle, die Müdigkeit, sogar die Tiger-Biere. Da ist er echt launisch im positivsten Sinn. Hoch konzentriert wie ein Formel-I-Pilot vor dem Start scannt Nick die Zeilen auf seinem Bildschirm; dabei zucken seine Pupillen mit einem fast erschreckenden Tempo hin und her. Ob ihm die Databorgs irgend ein Zeug mitgegeben haben, Speed oder so? Um der Musikkassette die Videobilder zu entlocken, reicht meine lächerliche Technik-Einführung natürlich nicht aus. Das waren profane Informationen für Anwender, die FAQ. Für die echte Arbeit muss der Profi zurück an die Quelle gehen. Ein paar Großbuchstaben huschen über Nicks Bildschirm. NUMBER 5, 010,415 APPARATUS FOR STORING VIDEO SIGNALS ON AUDIO CASSETTE. Er scannt die Patentschrift der Pixelvision-Kamera nach Hinweisen, die uns helfen können, die Daten auf der Kasi zu entschlüsseln. Den Ton auf dem rechten Kanal haben wir ja schon, jetzt fehlt nur noch das Bild.
»Looking for the gift of sound and vision«, spricht er vor sich hin, während er die Bildschirmseiten ohne anzuhalten runterscrollt; schnell lesen konnte er schon immer, aber er ist noch besser geworden in den letzten zwei Jahren. Die Welt um ihn herum hat er längst ausgeblendet. Keine Klage über das sperrangelweit offene Fenster des Taxis, durch das der Klang von Kuala Lumpur wie ein Presslufthammer hereindröhnt. Kein Kopfschütteln über das Mördertempo, mit dem der Inder den Wagen durch die Rush Hour hetzt. Kein Gemecker über den Hiphop, der so laut aufgerissen ist, dass die Boxen in der Hutablage klingen, als ob jemand Papier zerreißt. Dieses Sitar-Sample, ist das nicht Panjabi MC? Was für ein Klischee, so, als würde man am Münchner Hauptbahnhof ins Taxi steigen und der Fahrer hätte die Zillertaler Herzbuben eingelegt. Nachdem er die technischen Daten des Pixelformats innerhalb von zwei Minuten inhaliert hat, fischt Nick die digitale Kopie der Kassette aus dem Speicher des Dienstrechners und macht sich an die Arbeit. Wie er den Bitstrom wohl in Bilder umwandelt? Er sieht jedenfalls aus, als wüsste er, was er tut. Gezielt klickt er sich durch seinen digitalen Werkzeugkasten und doziert weiter vor sich hin.
»Okay, unser Fehler war, dass wir auf der Kassette nach einem Programm gesucht haben. In Wirklichkeit ist der Bit-Salat, den wir bei achtfacher Bandgeschwindigkeit empfangen haben, ein digitales Fernsehsignal, und zwar eines, das brutalst zusammengeklappt wurde. Geht ja auch nicht anders: Ein normales Bild hat vertikal 576 Pixel. Das ist 'ne Menge Holz und passt nie und nimmer auf eine Audiokassette, nicht mal bei achtfachem Tempo. Also haben die Ingenieure bei Fisher Price ordentlich abgespeckt: Die Pixelvision-Cam zeichnet nur 120 mal 90 Pixel auf, schwarz-weiß. Statt zwei Megahertz ist so nur eine Trägerfrequenz von 100 Kilohertz nötig, die kriegt man auf eine beschleunigte Kasi gerade noch so drauf.«
Bahnhof, Nickybaby, Bahnhof. Er schaut mitleidig zu mir rüber.
»Mann, je schneller ein Magnetband läuft, desto höher ist die Bandbreite -logisch, oder?«
Ein malayischer Polizeiwagen sprintet auf der Standspur vorbei; die Cops tragen verspiegelte Brillen und bewegen ihre Köpfe keinen Millimeter. Zoom, wir rasen unter den Betonpfeilern der Einschienenbahn durch. Direkt dahinter kassiert der Taxifahrer einen klapprigen, grünen Bus, der eine schwarze Dieselfahne hinter sich herzieht. Hinter der Betonbarrikade, die die Spuren der Stadtautobahn trennt, tauchen kurz die oberen Stockwerke unseres Hotels auf. Wenn der Fahrer weiter so heizt, sind wir in zehn Minuten da. Und was dann? Was, wenn die Typen mit dem schwarzen Geländewagen da schon warten? Nick jetzt darauf anzusprechen wäre Schwachsinn. Er ist im Flow, wie nach drei Stunden Commando zocken am Stück, er hat auf Autopilot geschaltet, sitzt im Tunnel. Ihn da jetzt rauszuholen, würde auch nichts bringen. Nein, je schneller wir rauskriegen, was auf dem Band drauf ist, desto besser; vielleicht wissen wir ja dann, warum die Typen hinter uns her sind. Wie besessen hackt der Beifahrer immer neue Werte in die Eingabefelder des Video-Analyseprogramms.
»Bin fast da, bin fast da«, murmelt er, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Keine Angst, niemand wird dich beim Zielanflug stören.
»Jetzt noch den schwarzen Rand berücksichtigen ...« „Welchen Rand?«
»Weil das Videobild selbst so klein ist, hat die Pixelvision einen schwarzen Kasten drum herum gerechnet, damit man sich das Ganze auf einem normalen Fernseher angucken kann. Also quasi Bild-im-Bild.«
Weiteres Tastaturhacken. „Kleine Warnung schon mal: Bild und Ton werde ich nicht ganz synchron kriegen ...«
Was bist du denn für ein German Engineer? Das macht dann nochmal zwanzig Stockschläge, Dude. Das Taxi donnert so heftig über ein Schlagloch, dass Nick fast der Rechner vom Schoß kippt. Es ist höchste Zeit, dass wir mal wieder in einem eigenen Auto sitzen. Wie der Beifahrer nur dieses Beifahrertum aushält? Ohne Lenkrad in der Hand ist doch überhaupt kein klarer Gedanke möglich. Sollte irgendwann mal der Individualverkehr total abgeschafft werden, sitze ich hoffentlich schon sabbernd im Altersheim. Das Taxi taucht in die Palmenhaine des Stadtwalds ein. Sofort weht es ein bisschen kühler rein. Man kann schon fast das Fenster unseres Zimmers an der Hotelfassade abzählen: einundzwanzig Stockwerke nach oben, dann ganz in die Mitte. Nick schwitzt wie ein Schwein. „Jetzt nur noch ... «, presst er zwischen den Zähnen raus, während er auf seiner Unterlippe rumkaut. Ich tippe den Fahrer an der Schulter an und zeige auf die Straßenecke vor unserem Hotel. „You can drop us off over therel«
»Very well, Sir«, antwortet der Inder überfreundlich. Er spricht viel zu laut und deutlich - halt auf diese Art, an der man Leute erkennt, die ihr gesamtes Leben lang ständig Kontakt mit Menschen hatten, hinter einer Theke oder eben dem Steuer eines Taxis. Jetzt hilft nichts mehr: Ich muss Nick zurückholen.
»Alter?« „Was?«
»Alter, wir sind da!« „Trifft sich gut ...«
Ich schaue beim Abschnallen rüber.
»Warum?«
Nick grinst extrabreit. „Willkommen in Vaters Höhle! «
Er setzt dazu an, den Rechner rumzudrehen. Doch bevor er zu seiner legendären Handbewegung ansetzen kann, steigt der Taxifahrer voll in die Eisen, um nicht an der Hoteleinfahrt vorbeizudonnern.
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Man hört ja immer wieder von diesen Snuff-Streifen, in denen angeblich echte Menschen beim Sterben gefilmt werden. Sollte es die wirklich geben, fangen sie sicher so an. We're on a road to nowhere. Come on inside ... Genau an dieser Stelle des Videos müssten eigentlich die Talking Heads laufen. Aber es läuft gar nichts, denn der Beifahrer hat den Ton doch nicht hingekriegt. Dafür das Bild. Aber das alleine reicht schon. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich die Haare auf Nicks Unterarm aufstellen - trotz fünfundzwanzig Grad im Schatten. Wir starren auf eine schwarz-weiße Straße, die so gerade am Horizont verschwindet, als hätte sie ein Schüler gemalt, der im Kunstunterricht gerade die Fluchtpunktperspektive gelernt hat. Es ist eine kleine Straße, ohne Mittelstreifen, auf beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt. Von der Landschaft neben dem Asphaltband ist nichts zu erkennen; vielleicht Wüste. Langsam quält sich die Kamera voran, genau, das sind Pappeln am Straßenrand. Warum Pixelvision floppte, ist jetzt auch klar. Die fahlen Bilder sehen aus wie eine Live-Übertragung aus dem Jenseits, wie ein Nahtod-Erlebnis - nein, genau! - wie die Bilder aus den Zielkameras der Stealth-Bomber. 120 mal 90 Pixel-wie niedlich, erinnert an die Videos aus frühen Netztagen, als noch die süße Jennycam auf Sendung war und nicht nur versaute Cam-Huren. Als BigVideos bedeutete, dass das Wiedergabefenster auf dem Bildschirm so groß war wie einer dieser gelben Haftnotizzettel. Als es mal ganz gut für uns lief. Es war die Ära der Wunderkinder, von Shawn Fannings Napster und Mare Andreessens Netscape. Eine Zeit lang sah es damals aus, als bekämen wir, die Computerkids der Achtziger, endlich das, was uns schon immer zustand: die Weltherrschaft, zum Beispiel. Am Schluss haben wir den ganz großen Fisch - so mit Millionen und Börsengang - zwar nicht an Land gezogen, aber immerhin: Nick wurde von seinem Prof damit beauftragt, die Seite des Lehrstuhls im Netz zu renovieren; dass er nur noch pro forma ein-geschrieben war und eigentlich gar nicht mehr studierte, hatte wohl keiner bemerkt. Selbst ich durfte bei dem Job mitmischen und ein paar extrem stylische animierte GIF-Grafiken beisteuern, so was in Richtung UNDER CONSTRUCTION. Doch die Sache lief nicht rund, vielleicht, weil wir zu viel Frisbee im Park spielten. Letztendlich hat dann irgendein Ersti die Sache übernommen. Nicks Entwurf war technisch wahrscheinlich so weit draußen, dass außer seinem eigenen Rechner kein anderer auf diesem Planeten die Seite anzeigen konnte. Schnitt. Der Bildschirm wird schwarz. „Was soll das?“, murmelt Nick, nachdem er den Dienstrechner ein bisschen auf der Liege zurechtgerückt hat. Gleich hoch aufs Zimmer zu gehen haben wir uns noch nicht getraut -wegen ihnen. Vor der Tür des Hotels und in der Lobby ist uns zwar niemand aufgefallen, aber man weiß ja nie. Um auf Nummer sicher zu gehen, hängen wir jedenfalls erst mal am Hotelpool ab, was sich als ziemliche Scheiß-Idee herausgestellt hat. Denn der Garten ist so leer wie ein Seebad in der Vorsaison, sodass wir total auf dem Präsentierteller sitzen. Menschen sind der beste Schutzschild – weiß doch jeder Sofa-Agent! Um uns herum rascheln Palmblätter im Abendwind. Wie nett, das würde auch unseren Müttern gefallen, bis auf die Mücken und die Stadtautobahn hinter der Hecke vielleicht. Auf den paar Metern vom Taxi hierher ist es stockdunkel geworden, einfach so. Die Sonne ging nicht unter - sie stürzte ab. Jetzt leuchtet nur noch das Wasser des Pools diabolisch unsere Hälse hoch. So hellblau angestrahlt sieht Nick original aus wie Spock, wenn er in dieses Gerät schaut, das immer alles Mögliche anzeigt. Ob die netten Kellner mit den bordeauxroten Westen wohl auch einen Drink hier rausbringen? Zimmerservice - das ist echt einer der großen Vorteile bei dem ganzen Business-Spielchen. Früher auf unseren Forschungsreisen hätten wir uns eher die Hand abhacken lassen, als zum Telefonhörer zu greifen und uns was zu essen kommen zu lassen. Denn das hätte bedeutet, zuhause noch eine Woche länger nur von Miracoli zu leben, um das Geld wieder reinzuholen. Jetzt spielt es keine Rolle mehr, solange man - ja Nick! - eine Quittung vorweisen kann. Da, das Daumenkino aus der digitalen Vorzeit zuckelt wieder los. Das muss die Höhle sein! Pechschwarzes Bildschirmrauschen, dann taucht von unten langsam ein Fußboden auf; er wackelt bei jedem Schritt des Kameramanns hin und her. Wie bei Doom. Heimatgefühle. Und es geht Egoshooter-mäßig weiter. Die Kamera schwankt durch einen kreisrunden Tunnel, der rundherum mit Wellblech ausgekleidet ist. Eine Druckschleuse kommt ins Bild. Auch sie ist kreisrund, wie die Tür zu einem Schweizer Banktresor. Dann wieder Bildausfall. Schwarz, weiß, der Kameramann ist wohl unter einer Lampe durchgelaufen. Fuck, die Framerate des Videos ist ja unterirdisch. Haha. Da, eine neue Kulisse, mit viel mehr Hightech. Schwenk über Metallfronten mit großen Schaltern und Warnschildern.
»Unterbrechungsfreie Stromversorgung«, flüstert Nick. Besitzt Irving wirklich ein eigenes Rechenzentrum? Schwenk zurück. Tatsächlich. Eine kleine Reihe von Rechnerschränken. Schwenk nach oben. Unglaublich, der Raum ist mehrere Stockwerke hoch und halbrund, wie die Kuppel einer Kathedrale, nur aus Beton. Genüsslich zittert die Kamera den gesamten Stahlbetonbogen ab. Bei der Datacorp haben wir ja schon einige subterrane Installationen gesehen, aber so was noch nie. Das muss die Stelle sein, wo der Typ this place is awesome sagt. Und es ist keine Übertreibung. Dieser Ort ist der Hammer. Wieder Blackout. Hektik. Jetzt ist dem Kameramann wohl eingefallen, dass die Kassette schon fast voll ist, denn auf einmal macht er nur noch Schnappschüsse, keiner länger als zwei Sekunden. Rasender Schwenk durch den Raum; viel Platz für wenige Rechner, die Schränke stehen in der Mitte der riesigen Halle wie ein Altar. Nahaufnahme auf den Rechnerschrank. Was ist das? Nicht die üblichen Blades, sondern große weiße Kästen, jeweils drei übereinander. Auf dem obersten liegt etwas, eine Tortenabadeckung aus Plastik. Definitiv keine neue Technologie - oder von unserer Welt.
»IBM 3330«, stellt Nick fest, »100-MB-Wechselplatten, Mitte der Siebziger auf den Markt gekommen. Angeschlossen an einen Series/1-Mikrocomputer.«
Damit wäre meine Alien-Vision wohl gekillt, schade. Immer wieder beschämend, wie gut er die technischen Handbücher auswendig gelernt hat, die uns unser Brötchengeber zu Beginn unseres, ja, Anstellungsverhältnisses rübergeschoben hat. Meine Aufmerksamkeitsspanne reichte nur für das Inhaltsverzeichnis plus ein paar Seiten, mehr war nicht drin. Nobody reads the fucking manual, oder? Nick reads the fucking manual, und wieder mal hat es sich ausgezahlt. Sollte das die Lektion der Arbeitswelt sein -lies die Gebrauchsanweisung und bringe es zu was? Deprimierend. Noch ein kurzer weißer Lichtblitz, dann endet die Aufzeichnung.
»Wow«, stellt Nick fest.
»In der Tat, aber was haben wir gerade gesehen?«
»Ein privates Datenarchiv, würde ich tippen.«
Er sagt das so, als ob man so was heutzutage einfach im Keller haben muss .
»Ja, aber die Räume ...«
»Die waren in der Tat komisch. Wie ...« „... ein Bunker.«
Nick kippt unschlüssig den Kopf hin und her.
»Schon, aber die Halle am Schluss war doch ein bisschen zu groß für einen stinknormalen Bunker.«
»Ich fasse zusammen: Dr. Irving hat sich irgendwo auf der Welt ein nettes unterirdisches Plätzchen für seine Sicherheitskopien eingerichtet. Kein Wunder, dass in seiner Bude keine Disketten für den Grid rumlagen. Derart profane Speichermedien hat der schon in den Siebzigern hinter sich gelassen.«
Der Beifahrer schaut zustimmend .
»Bleiben zwei Fragen.«
»Wie hat er die Daten da hingekriegt ...«.
lege ich vor.
»... und wo genau liegt Vaters Höhle?«, locht Nick ein. Aber vielleicht haben wir das fehlende Glied längst gefunden, ohne es zu merken. Dieses Symbol, das auf dem Grid erschien, als ich vorhin auf der Kiste rumgedrückt habe - diese Brezel. Das könnte auch ein Telefonhörer sein. Und Nick hat ihn wirklich übersehen.