LEVEL 12
Das gestern Abend in den Nachrichten angekündigte Tiefdruckgebiet hat uns eingeholt und einen Schleier aus Nieselregen über das Land gelegt - was nicht wirklich stört. Denn mit jeder Meile, die wir nach Westen fahren, nähert sich das Panorama mehr und mehr einem Sportplatz an. Die letzten Büsche und Sträucher verschwinden, bis nichts übrig bleibt als eine Mondlandschaft aus rotem Sand. Sie erinnert ein bisschen an das Monument Valley, früher die Kulisse jeder zweiten Zigarettenreklame. Es ist eine öde, abweisende Wildnis, in der man anscheinend nicht einmal mehr Kühe grasen lassen kann; gleichzeitig ist das Land aber nicht wild genug, um Touristen anzulocken. Es wirkt leer, nutzlos, feindlich. Das kann nur eines bedeuten: Wir nähern uns einem Indianer-Reservat. Und tatsächlich: Nach zehn Minuten passieren wir ein Schild, das verkündet, hier beginne die Selbstverwaltungszone des Soundso-Stammes. An der Straßenqualität ändert sich nichts, weil der Asphalt wohl weiter vom amerikanischen Staat bezahlt wird. Davon abgesehen aber verwahrlost sofort alles: Statt adretter Holzhäuschen säumen jetzt die billigen Wohnwagenhäuser den Highway, vor denen jeweils zwei Autowracks parken, so, als sei das Vorschrift. Der Soundso-Stamm gehört offenbar nicht zu jenen Indianern, die sich in den Neunzigern mit Casino-Lizenzen eine goldene Nase verdient haben. Jedenfalls besteht das nächste Kaff nur aus einer Tankstelle, einem halben Dutzend staatlich geförderter Holzhäuser und einem Karton, der mitten auf dem Highway steht, um in handgeschriebenen Lettern den Weg zu einem YARD SALE zu weisen. Wir lassen den Flohmarkt links liegen und halten stattdessen einige Meter weiter vor einer Blechhütte an, an die jemand »Video-Games« gesprüht hat. Mittlerweile schüttet es richtig, sodass wir die paar Meter bis zum Eingang rennen, um nicht nass zu werden. Im Innern des Verschlags steht noch die Hitze der vergangenen Tage; es riecht nach Desinfektionsmittel, Rauch und feuchtem Boden. Nach Spielhalle sieht das Ganze nicht aus, eher wie ein Lager für alte Arcade-Automaten. Da es keinen Angestellten zum Geldwechseln zu geben scheint, renne ich noch mal zum Auto zurück und sammle ein paar Quarter, die sich während der Fahrt auf dem Boden verteilt haben. Als ich wieder in die Neonhölle der Zockhalle zurückkomme, ist Nick schon ausgeschwärmt.
»Geil, Alter, 1942, stürzt leider alle paar Minuten ab.«
Ich entdecke einen Super Mario Brothers und spiele, bis das Flimmern des kaputten Monitors zu sehr nervt. Wie üblich reicht unsere Retro-Energie nur ungefähr 20 Minuten, dann schlendern wir auf der Suche nach neueren Games durch die Gänge - immer mit einem schlechten Gewissen im Hinterkopf, so, als ob man sich bei einem alten Freund nicht mehr meldet, obwohl der treu Weihnachtskarten schreibt. Bei Hydro Thunder bleiben wir stecken, einem Bootsrenn-Simulator, dessen knallblauer Plastiksitz uns schon beim Reinkommen ins Auge gebrüllt hat. Unaufdringlich ist anders. Nachdem wir uns eine halbe Minute über die eklige Autoscooter -Optik aufgeregt haben, steigen wir ein und haben einen Heidenspaß. Die 3D-Wasseroberfläche ist super gerendert, es gibt geniale Schanzen, von denen aus man 100-Meter-Sprünge starten kann, und - spätestens da hatten sie uns im Sack - einen Turboknopf . Als ich ihn zum ersten Mal drücke, entfährt mir ein »Yiehaaah«, und Nick fängt von der Seite an zu drängeln, weil er auch spielen will. Er reiht seine ganzen 25-Cent-Münzen neben dem Bildschirm auf, was nach guter alter Spielhallen-Etikette ungefähr so viel bedeutet wie: Mach endlich Schluss, du Idiot! Nach einer Viertelstunde gehen mir die Quarter aus, und ich muss das Feld räumen.
»Da hätten wir uns früher auch nicht reingesetzt«, sagt Nick, während er mich ungeduldig aus dem Cockpit rausschubst.
»In der Tat.«
Zu den guten Dingen in unserem Alter gehört, dass die panische Angst davor, irgendwie peinlich zu wirken, der Gewissheit gewichen ist, es ohnehin zu sein. Das befreit ungemein. Als Teenager konnte ich nie verstehen, dass meine Eltern im Ferienclub ohne Not beim Clubtanz mitmachten. Ich dachte nur: Merken die denn nicht, wie total peinlich sie sind? Heute weiß ich: Sie haben es gemerkt, und es war ihnen völlig egal. Eingesehen zu haben, dass alle Coolheitsanstrengungen eigentlich nichts bringen, macht den Weg frei für schöne Dinge wie Karaoke - wenn es sein muss, sogar nüchtern. Das haben wir natürlich früher nicht so gelassen gesehen, vor allem in unserer Merkur-Phase Anfang der Neunziger: Da hatten wir den Führerschein gerade in der Tasche, Nick fuhr schon einen eigenen Wagen, die Welt stand uns offen. Und was haben wir aus der neuen Freiheit gemacht? Wir fuhren mit unseren weiblichen Eroberungen zur Spielothek in der Stadt. Wir nahmen ernsthaft 30 Minuten Gezuckel über die Landstraße in Kauf, nur um im Toilettensteinmief zu stehen und Prinzenrolle aus dem Automaten zu essen. Unfassbar. Noch heute frage ich mich, warum sich die Mädels nicht sofort abgeseilt haben. Wenn wir wenigstens Billard gespielt hätten, das wäre ja noch halbwegs cool gewesen! Aber nein, die Ladies mussten sich mit ihren ausgeschnittenen Bodys und engen Leggings von den Profidaddlern begaffen lassen, während wir stundenlang vor den Videospielen rumhingen. Nun muss man ehrlicherweise sagen, dass Zocken am Arcade-Automaten per se peinlich ist. Oder sieht man Harley Davidson und den Marlboro-Mann jemals dabei, wie sie Mrs. Pac-Man spielen? Nein, die sind nämlich lieber cool und tot, als uncool und lebendig. Diese leicht gebückte Haltung, der spastisch umkrampfte Joystick, das zittrige Hämmern auf den Feuerknopf - das sieht doch alles ein wenig zu sehr nach Masturbation aus. Die bittere Wahrheit ist: In puncto Coolheit steht man in einer Spielhalle auf verlorenem Posten; da bleibt einem nur übrig, die Peinlichkeit irgendwie einzudämmen. Deshalb lautete unsere oberste Regel schon immer: so wenig bewegen wie möglich. Hätte es ein Spiel mit Gedankensteuerung gegeben - unser letzter Heiermann wäre hineingewandert. Leider arbeitete der Zeitgeist damals gegen uns. Die ersten Leute hatten 16-Bit-Konsolen wie den Sega Mega Drive zuhause stehen und keine Lust mehr, für die gleichen Games in der Spielhalle eine Mark einzuwerfen. Im Rennen um die meiste Rechenpower waren Heimgeräte längst an die Profikisten herangekommen. Deshalb zogen die Hersteller der Arcadespiele ihre letzte Trumpfkarte: die Controller. Kein Mensch stellt sich einen Snowboardsimulator in seine Bude; niemand verschandelt sich die Einrichtung mit zwei Autositzen wie bei Cruis'n USA , von einem kompletten Afterburner -Cockpit mal ganz zu schweigen. Das wussten die Segas, Namcos und Ataris - und handelten: Fast monatlich schickten sie neue Monster in unsere Merkur-Spielothek, eines aufwändiger, riesiger - und leider auch cooler - als das andere. Schnell waren wir gezwungen, unsere Regel aufzuweichen: Ab sofort verweigerten wir uns nur noch Games, bei denen der Spieler irgendwie hydraulisch durch-geschüttelt wurde, wie beim Motorradsimulator Hang-on , wo der Sitz hin-und herkippte. Darüber, eine VR-Brille aufzusetzen, dachten wir selbstverständlich nicht einmal nach. Einen Persilschein stellten wir uns dagegen für die Schießstände von Operation Wolf, Operation Thunderbolt und dieses geile Terminator -Spiel aus, obwohl ich mir heute nicht mehr sicher bin, dass wir in den Augen der Ladies vor unseren Plastik-Uzis irgendwie cooler aussahen als auf einem Plastik-Motorradsitz. bei manchen Dingen gibt es eben keine Abstufungen. Ende der Neunziger erreichte der Controller-Wahnsinn seinen vorläufigen Höhepunkt mit der japanischen Dance Dance Revolution , bei dem der Spieler auf einer druckempfindlichen Plattform Tanzschritte nachmachen muss, während er aus den Boxen mit allerschlimmstem J-Pop malträtiert wird. Es ist schwer zu verstehen, warum jemand Geld dafür zahlt, den schlimmsten Albtraum eines jeden Heranwachsenden erleben zu dürfen: alleine tanzen, umringt von einer Menschenmenge. Warum nicht gleich zusammen mit den Eltern im Fernsehen Emanuelle ansehen?