#14 T-6: 20:50
Mein Magen knurrt. Aber bis zum Essen zu warten war nicht drin. Die Emo-Kellnerin ließ mich erst abziehen, nachdem ich ihr - für nichts! - ein deftiges Trinkgeld rübergeschoben hatte. Ärgerlich, aber die Mission erlaubte keinen Aufschub. Den letzten halben Kilometer vom Biergarten zum Dorint bin ich sogar gerannt - nicht gelaufen: gerannt, als ob die Ärsche von der anderen Seite des Schulhofs hinter mir her wären. Hätte ohnehin nicht mehr lange bleiben können, denn kurz vorm Dorint prasselten schon die ersten Regentropfen runter. Jetzt schnell den Rechner an, Videoplayer starten. Eine dicke Schweißperle rollt meinen Unterarm runter. Kurz bevor sie zwischen der Leertaste und dem »M« verschwindet, reiße ich die Hand von der Tastatur weg. Nur nicht auf den letzten Metern noch was riskieren. Play, Pause, noch ein Bild nach vorne springen, jetzt kommt der Moment. Volltreffer. Bei Sekunde vierundvierzig berührt Nick mit der Spitze seines Zeigefingers die Uhr - genau da, wo auf dem Armband dieser ultrapathetische Spruch anfängt. Listen To The Light. Das Licht ist natürlich der Monitor, ich brauche ihm nur noch zuzuhören. Er hat seine Nachricht rausgeschmuggelt - codiert im Flackern des Bildschirms. Ah, mein Beifahrer. Er wusste, dass ich als Erstes die Überwachungskameras abchecken würde, falls er mal nicht nach Hause käme. Er kannte mein ... Fuck, wer ist das schon wieder? Ohne den Blick vom Monitor zu nehmen, reiße ich das Telefon vom Schreibtisch runter.
»Ja?«
Im Hörer ist nur ein Schlucken zu hören. Oh nein, es ist Sabina und sie weint. Defcon One, damit können Jungs gar nicht umgehen. Das muss sofort aufhören.
»Kee?«
Es klingt schon fast wie ein Flüstern.
»Ja.«
Sie schluchzt nochmal leise, dann beschließt sie, dass es Zeit ist, aus dem aufgelösten Frauchen wieder die beherrschte Sabina zu machen. Sie räuspert sich.
»Hast du schon was von Nick gehört?«
Was soll ich dir sagen? Dass ich genau jetzt auf ein Videostandbild gucke, auf dem er zu sehen ist? Also bleibt mir nicht anderes übrig, als weiterzulügen.
»Äh, nein. Aber es wird alles sein wie beim letzten Mal ...«
»... beim letzten Mal hat er wenigstens angerufen«, fährt Sabina ungeduldig dazwischen. Oh, oh, die besorgte Ehefrau mutiert zur wütenden Furie. Nicht gut, ich muss sie beruhigen.
»Aber du weißt doch: Manche Jobs bei der Company ... Da geht's halt echt um so Geheimzeugs, da kann man nicht einfach ... « »Du hast recht«, unterbricht sie wieder. Sie klingt, als ob sie sich gefangen hätte. Mensch Mädchen, ich würde dir ja liebend gerne sagen, wo sich Nickybaby aufhält, aber dafür musst du mich diese verdammten Videoframes jetzt auszählen lassen!
»Du hast recht«, sagt sie und lacht ein wenig gekünstelt.
»Ruf halt einfach an, wenn du was Neues hörst.«
»Werde ich machen - versprochen.«
»Danke.«
Ich lege auf und schaue raus. Mittlerweile hat es angefangen zu Gewittern. Die ersten Tropfen sind so groß, dass sie richtig Blasen auf dem Boden werfen. Durch das gekippte Balkonfenster zieht der schönste Geruch der Welt rein: Regen auf Asphalt nach einem langen Sommertag. Und so, wie es aussieht, wird er wirklich lang. Der Nickmeister hat also klammheimlich eine Nachricht an mich abgesetzt. In seiner unendlichen Genialität hat er den Rechner, vor den ihn die Idioten gesetzt haben, so programmiert, dass er auf den Monitor abwechselnd dunkle und helle Flächen projiziert. Hell steht für »1«, dunkel für »0«.Ihm war klar, dass der helle Bildschirm auf seine Klamotten abstrahlen würde, als ob man mit einer Taschenlampe draufleuchtet. Und genau dieses Geflacker hat auch die Überwachungskamera gefilmt. Ich muss also nur das Video Standbild für Standbild durchgucken, und schauen, wo Nicks Hemd hell aussah und wo nicht. Dann habe ich die Nullen und Einsen zusammen, die Bits, aus denen die Botschaft besteht. Vater hätte in dieser Lage wahrscheinlich Morsezeichen verwendet, der alte Pfadfinder. Aber wir sind nicht bei Fähnlein Fieselschweif groß geworden, sondern vor dem Commodore 64, und wenn es so was wie den Code unserer Generation gibt, dann ist es sicher nicht der von Herrn Morse, sondern ASCII, der American Standard Code for Information Interchange. Er stand ganz hinten in der Cevi-Bedienungsanleitung, und die Seite war vom ständigen Nachgucken irgendwann so abgewetzt, dass Nick durchsichtige Buchfolie drübergeklebt hat, damit sie nicht zerreißt. Wer wollte, dass die Maschine normale Buchstaben auf den Bildschirm zaubert, kam nicht drum herum, früher oder später ASCII zu lernen. Für ein »A« zum Beispiel mussten die Bits 01000001 in den Speicher gepoket werden. So funktionierte ASCII. Und genau in dieser Lingua franca hat Nick seine Botschaft codiert. Also los: Video auf Anfang setzen und Start. Ich suche mir einen Punkt auf der Vorderseite seines Hemdes raus und drücke auf das erste Videobild. Der Stoff wirkt dunkel, in dieser halben Sekunde muss der Monitor schwarz gewesen sein. Also der nächste Frame. Plötzlich leuchten die Falten neben der Knopfleiste so hell, als hätte jemand in diesem Moment ein Foto mit Blitz gemacht. Bingo - eine »1«, das erste Bit. Jetzt geht's los. Sofort fängt die Lernkurve an. Schon nach drei weiteren Bits hat das Hirn auf Fließbandproduktion umgeschaltet. Ich drücke mit der linken Hand auf die Leertaste, um das nächste Videobild aufzurufen, mit rechts schreibe ich , »0« oder »1« auf, je nachdem, ob sein Hemd hell oder dunkel wirkt. Ich benutze den Kuli, den wir auf der Klassenfahrt nach Berlin gekauft haben, '88 oder so. So ein schrecklicher hellblauer Souvenirstift, in dem ein Mini-Doppeldeckerbus aus Plastik schwimmt, der in Zeitlupe hin-und herfährt, wenn man den Kuli kippt. Entweder er fährt zur einen Seite, wo der Funkturm steht, oder zur anderen mit dem Brandenburger Tor. Da stoppt der Bus dann vor einem Mini-Plakat mit der Aufschrift »Achtung! Sie verlassen den amerikanischen Sektor«.
Ah, Westalgie. Die ersten sechzehn Bit sind geschafft: 10101010 10100110, langsam füllt sich der Notizzettel. Und, Nick? Schauen wir nach, für welche Buchstaben sie stehen? Machen wir natürlich nicht, niemals! Stattdessen würde der Beifahrer das Video bis zum letzten Frame durcharbeiten, den ganzen Bit-Salat in ordentliche Buchstaben übersetzen und erst dann den Monitor mit einem triumphierenden Grinsen zu mir umdrehen. Und genauso werde ich das auch machen, quasi ihm zu Ehren. Shit, das klingt schon fast nach Nachruf. Die Leertaste klackert, die Hand mit dem Kuli kritzelt. Der Tag in Ost-Berlin, das war echt eine geile Geisterbahnfahrt. Wir schlugen den Kragen hoch und trippelten von einem Bein aufs andere, während die DDR-Grenzer sich Mühe gaben, die kapitalistischen Siebzehnjährigen, also die ignorantesten kohlenstoffbasierten Lebensformen im Universum, in der Warteschlange möglichst grimmig anzustarren. Zwanzig Mark oder so musste man an der Grenze in diese wertlose Ostkohle umtauschen. Die Münzen fühlten sich so leicht an, als wären sie aus Pappe. Dann blieb genau ein Tag, um das Geld raus zuhauen. Also haben wir uns - wie alle West-Schüler - in einer Bäckerei am Alex kiloweise Baumkuchen gekauft und in der Eiseskälte unter dem Fernsehturm in uns reingestopft. War die einzige Sache, die es im Osten echt billiger gab. Insofern hatte der Arbeiter-und Bauernstaat zumindest für Nick was Paradiesisches: Wenn es nach ihm ginge, würde er ja den ganzen Tag nur von solchem Kuchenzeugs leben. Es geht quälend langsam voran. Videobild für Videobild zuckelt vorbei, abgehackt wie die Bewegungen der Tänzer im Licht der Strobos. Einige Vollidioten aus unserer Klasse sind ja damals echt ins Big Eden gegangen, in diese schrille Touristendisco auf dem Ku'damm. Für uns musste es natürlich 'ne Nummer cooler sein: Wir haben eine Stunde vorm Dschungel in der Nürnberger Straße angestanden und sind schließlich am Türsteher gescheitert - was Nick im Nachhinein zu einer besonders denkwürdigen Aktion umgedeutet hat. Sein Argument: »Zu der Zeit hat Benno Führmann an der Tür gearbeitet!«
Wir sind also - vermutlich - von einem zukünftigen B-Promi zurück in die Jugendherberge geschickt worden. Purer Rock 'n' Roll. Ich bin schon fast durch das Video durch, nur noch fünf Sekunden, noch vier, noch drei. Nick steht auf, das Licht geht aus. Fertig. Ich schaue auf die Zahlenkolonnen, die den Notizzettel füllen. Immer acht Bit habe ich hintereinandergeschrieben, also ein Byte. Danach kommt ein Zwischenraum. Es sind insgesamt fünfzehn Blöcke, Nicks geheime Botschaft besteht also aus fünfzehn Buchstaben. Meine Hand zittert, während ich die Nullen und Einsen in die ASCII-Übersetzung eingebe. Das war schon eine verdammt geile Idee, Nickmeister, verdammt geil. Den Trick hätten die kleinen Skript-Pupsis von heute nicht hingekriegt, dafür muss man nämlich wissen, was in der Maschine so abgeht, und nicht nur Icons hin-und herschieben. Oh Mann, ich klinge schon wie er. Es ist so weit. Die Bits stehen aufgereiht wie Soldaten in der Maske des ASCII-Übersetzungsprogramms und warten darauf, dass ich Eingabe drücke. Ich schließe die Augen. Enter. Als ich sie wieder öffne, steht auf dem Bildschirm:
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Ohhh-kayy. Wo liegt der Fehler? Ach, natürlich, ich dachte, dass Nicks Botschaft beim ersten Bildschirmflackern anfängt, aber vielleicht gehörte auch schon die Dunkelheit davor dazu. Also einfach noch eine Null vor die Zahlenschlange setzen - Bitshift nach rechts - und das Ganze nochmal in Buchstaben umwandeln lassen. Enter. Weiß auf Schwarz, und diesmal klar leserlich, spuckt das Übersetzungsprogramm die Worte aus.
USEMBASSYFRAGACS
Sie haben ihn also wirklich nicht weit weggebracht, er hat die ganze Zeit quasi um die Ecke gesessen.