LEVEL 28

Nick tut zwar immer so, als sei er ein Einzelgänger, aber solange er nicht viel dafür tun muss, hat er ganz gerne Gesellschaft. Tief in ihm drinnen steckt ein Sozialtier, ein Two-Player-Typ, der sich mit seiner abgefuckten Jeansjacke nur als einsamer Wolf verkleidet hat. Das merkt man daran, wie oft er vorschlägt, doch »zusammen zu zocken«, nämlich bei jeder Gelegenheit. Mir ist es prinzipiell egal, ob allein, gegen-oder miteinander gespielt wird, solange es bunte Bilder zu sehen gibt, deshalb gehe ich auf alle seine Vorschläge gerne ein. Und ich muss zugeben, dass die schönsten Zock-Erinnerungen wirklich entstanden sind, wenn wir uns eine Maschine geteilt haben: Bei Operation Thunderbolt zusammen das Cockpit stürmen, Cabal mit zwei 1-Mark-Stücken komplett durchzuspielen, gemeinsam bei Raiden im Hagel der Projektile unterzugehen - und dem gestorbenen Kumpel dann ganz locker die Bomben wegnehmen. Das waren große Momente, die länger vorhielten als jeder noch so erfolgreiche Alleingang. Denn für das Solo gibt es als Belohnung nur drei kümmerliche Großbuchstaben in einer Highscore-Liste, in die wir meistens ohnehin nur AAA eintragen, um möglichst schnell weiterzocken zu können. Dass wir wirklich gegeneinander spielen, kommt eher selten vor, und wenn, dann läuft das seit den Tagen von International Karate auf dem C64 immer gleich ab: Es beginnt mit den obligatorischen Krepel-Runden, in denen wir uns durchwursteln, bis wir die Steuerung verstanden haben. Danach folgt meine Siegesserie. Das hat einen ganz einfachen Grund: Anders als Nick gehe ich ein neues Spiel nicht systematisch an, sondern rühre so lange wild mit dem Joystick rum, bis ich zufällig den Roundhouse-Tritt oder irgendeinen anderen Killer-Move finde, den Nick noch nicht blocken kann. Und den wiederhole ich dann stupide Runde für Runde. Wie ein Lemming, der immer wieder eine Klippe hinabstürzt, holt sich Nick jedes Mal die Packung ab, und ich merke, wie seine Halsadern langsam anschwellen - insgeheim ist er nämlich ziemlich ehrgeizig und obendrein ein schlechter Verlierer. Trotzdem genieße ich jeden Treffer, der in die geniale Musik von Rob Hubbard hineindonnert, in vollen Zügen - vor allem, weil mir klar ist, dass mein Triumph nicht lange anhalten wird. Tief in seinem analytischen Spock-Hirn erstellt Nick nämlich in diesem Moment schon eine sauber strukturierte Karte mit allen Angriffs-und Abwehr-Moves. So dauert es meist nicht lange, bis er ein Mittel gegen meine brutalen Tritte gefunden hat. Nach ungefähr zwanzig Runden herrscht schließlich Waffengleichheit, und das Spiel wird unendlich langweilig: Da jeder weiß, dass der Gegner auf alle Attacken eine Antwort parat hat, machen wir nur noch Saltos über den anderen hinweg, lauern in unserer Ecke und warten darauf, dass der andere sich bewegt. Bloß nicht rühren, sonst könnte eine Lücke in der Deckung aufreißen. Genau diesen Mikado-Status haben wir jetzt erreicht: bloß nicht bewegen. Ohne weiter darüber zu sprechen, haben wir auf Autopilot geschaltet und spulen unsere L.A.-Routinen ab. Neues auszuprobieren hieße, Entscheidungen zu treffen, was wiederum bedeuten würde, miteinander zu reden, und darauf haben wir beide keine Lust. Also fahren wir lieber in den Spurrinnen der ausgefahrenen Straßen und beschränken die Lenkbewegungen auf ein Minimum. Erste Station: Frühstück beim verlässlich seelenlosen Denny's, einer der wenigen Läden, die um diese Zeit schon zahlende - und auch viele nicht zahlende - Gäste bedienen; an der Hecke gegenüber vom Eingang parken schon die Einkaufswagen der Obdachlosen, die in den Waschräumen des Restaurants ihre Morgentoilette erledigen. Um das angenehme Nebeneinander-sitzen-und-nachvorne- Starren aus dem Auto nicht unterbrechen zu müssen, schwingen wir uns auf zwei Hocker an der Theke, die nicht drehbar sind. Neben uns hat ein Rentner Platz genommen, auf dessen T-Shirt »Dad knows a lot - but grandpa knows everything« steht.

»One biscuit, that's all«, ruft er zur Bedienung rüber. Ab einem gewissen Alter braucht man wohl nur noch Kekse. Nick dippt seinen French Toast mit reichlich Puderzucker in ein Bad aus Ahornsirup, ich würge meine Haferflocken runter, die landestypisch in Wasser aufgeweicht sind und mehr denn je wie Bauschaum schmecken. Mit knappen Worten beschließen wir, zur Feier des Tages nicht den direkten Weg zur Zockhalle am Strand zu nehmen, sondern über den Sunset Boulevard zu fahren. Anders als die meisten großen Straßen in L.A. verläuft der nicht schnurgerade, sondern schlängelt sich in fast europäischer Manier durch ordentlich begrünte Stadtviertel bis runter zum Pazifik. Da man so eine gute Stunde für die Strecke braucht, nehmen wir an einem Coffeeshop um die Ecke noch zwei Ananas Smoothies an Bord - bloß keine Unterzuckerung riskieren - und zuckeln los, während der GPS-Tracker unter unserer Haube weiter alle paar Sekunden Meldung an die Datacorp macht. Gesprochen haben wir über unseren blinden Passagier natürlich nicht mehr. Auf dem Hiphop-Sender »The Beat« ist heute Old-School-Tag, was nichts anderes bedeutet, als dass wir uns nach jedem Lied angucken und sagen: »Was ist dann bitte Old School?«

Biz Markie, A Tribe Called Quest, De La Soul - unfassbar, dass die Hits von denen schon weit über zehn Jahre alt sind. Wir machen also alle Pflichtwitze über das Älterwerden, würdigen uns, so gut es geht, herab und singen bei Biz Markie sogar den Teil mit »Oh baabyyy you, got what I nee-eed«.

Trotzdem kommt keine wirkliche Ausgelassenheit auf. Zum ersten Mal seit Jahren fällt mir wieder auf, wie lang die Pausen in unseren Gesprächen manchmal sind. Irgendwann wird die Stille im Cockpit so unangenehm, dass ich aus lauter Verzweiflung sogar ein Geplauder über die neu aufgestellten Radarfallen in Bel Air starte. Peinlich. Kein Zweifel: Diese zwei Spieler sitzen zwar noch zusammen in einem Auto, haben aber eigentlich schon auf den One-Player-Modus geschaltet. Und so gehen wir uns weiter aus dem Weg. Nachdem wir in der Playland Arcade auf dem Pier angekommen sind, zieht sich jeder wortlos in seine Retro-Ecke zurück, um ja nicht interagieren zu müssen. Ich zocke lustlos ein paar Runden Centipede, Nick schmeißt seine letzten Fünfundzwanziger sogar in Whack-a-Mole, dieses schwachsinnige mechanische Spiel, bei dem man mit einem Hammer auf Plastikmaulwürfe hauen muss, die aus dem Boden kommen. Hausfrauenpsychologisch deute ich das mal als ultimative Rebellion nach einer Reise, die von elektronischen Lebensaspekten beherrscht war. So tänzeln wir also in Zeitlupe hin und her - er in seinem roten Karate-Overall, ich im weißen - und tun so gut wie alles, um nicht die alles entscheidende Frage beantworten zu müssen: In welches Flugzeug werden wir heute Abend steigen? Meine Entscheidung steht ja schon fest, aber was ist mit Nick? Obwohl ich mir striktes Denkverbot verordnet habe, spielt mein Hirn fast minütlich alle Möglichkeiten durch. Kann Nick überhaupt noch den Flug wechseln, und wie viel Geld geht dafür drauf? Womöglich hat er hinter meinem Rücken längst umgebucht, um mich dann zu überraschen? Er brauchte vorhin im Sands ja ziemlich lange, um seinen Kram zusammenzuräumen, während ich schon im Wagen auf dem Parkplatz gewartet habe ... Wahrscheinlich hat er da die Sache klargemacht, der Scherzkeks. Oder er fliegt erst nach Frankfurt, um mich dann in Kopenhagen noch einzuholen. Theoretisch könnte das klappen, wenn sein Anschlussflug ohne Verzögerung geht. Und so kreisen die Gedanken weiter, während wir die letzten Rituale durchexerzieren: Eine Limonade in der kleinen Strandbude neben dem Pier kaufen, Nick holt sich den finalen Sonnenbrand ab, dann reihen wir uns auf dem 408er-Freeway Richtung Flughafen in den Feierabendstau ein, geben den Mietwagen zurück - und nein, Sir, es gab keine Probleme mit dem Wagen. Immer kürzer werden die Dialoge, immer länger die Pausen. Als wir schließlich im Pendelbus zum Abflugterminal sitzen, haben wir seit Stunden nichts mehr geredet, was nicht zur organisatorischen Abwicklung unserer Reise unbedingt notwendig wäre. Unruhig suchen unsere Blicke nach Dingen, die weit genug weg sind, um keinen Augenkontakt zu riskieren - Fluchtpunkte, wie das Schild auf der Rückseite des Fahrersitzes, mit dem sich der Mann, der unser fahrendes Kühlhaus lenkt, als »Marcus« vorstellt. Oder die Werbung an der Decke: »Have you triedour Total Rewards-Program?«

Durch die getönten Scheiben des Busses flackert uns ein letztes Mal die kalifornische Sonne ins Gesicht, bevor sie hinter den endlosen Parkplätzen der Autovermietkonzerne am Howard Hughes Parkway verschwindet. Endstation.

Extraleben - Trilogie
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