#18 T-5: 19:11
18:45 Uhr, also genau Viertel vor neun in Kalifornien. Genau jetzt müsste Andie ins Ambrosia reinkommen, um ihren Caffe Latte einzusammeln. Wie alle anderen in ihrer Abteilung fängt sie nämlich Punkt neun an und lässt Punkt fünf den Griffel fallen. Die Amis tun zwar immer so schrecklich fleißig, aber im Grunde genommen schieben sie so gemächlich Dienst nach Vorschrift wie wir hier in Deutschland. Klar, drüben betont jeder, sein Job habe nichts mit einem Nine-to-five-Job zu tun, aber das ist reine Show - genau wie jeder behauptet, seine Uni oder sein Studienfach sei das härteste gewesen. Wenn drüben überhaupt jemand länger als neun Stunden ackert, dann sind es höchstens die Häuptlinge. Und die schieben auch nur deshalb Überstunden, um sich ein neues Kostensenkungsprogramm auszudenken, das aus fünf Großbuchstaben besteht - B.O.O.S.T. oder S.T.A.R.T. bieten sich an - und das die Slacker dazu bringen soll, mehr zu schuften.
»Ambrosia, this is Juan«, krächzt es aus der Leitung. Ah, der freundliche alte Mexikaner arbeitet immer noch da. Ich frage ihn, ob Andie wohl zu sprechen ist. Sein »wait a sec... « klingt ziemlich verwundert. Das Tellerklappern im Hintergrund wird plötzlich dumpfer und man hört ein leicht verstörtes »Andie, it's for you«.
Ha! Jetzt wird sie mit ihrem perfekt manikürten Zeigefingernagel auf sich selbst zeigen, überrascht gucken und mit dem Mund lautlos die Worte »For me?« formen. Das Klackern von Absätzen kommt näher, ah, sie hat draußen auf der Terrasse gewartet. Jetzt läuft sie an der Wand vorbei, die mit Wischtechnik so auf alte Hacienda getrimmt ist, klack, klack, sie steigt die zwei Stufen zur Bestelltheke hoch.
»Hello.«
Sie klingt verunsichert.
»Haha, äh, it's me again.«
Ich haspele wie immer schrecklich rum, mit dieser typisch deutschen Mischung aus gestelztem Schulenglisch und schlecht nachgemachtem amerikanischen »r«, mit dem sich alle Deutschen einen einheimischen Anstrich geben wollen, die schon einmal den Boden der Vereinigten Staaten betreten haben. Womit soll ich nur einsteigen, vielleicht etwas Süßholzraspeln? Wie wäre es damit, dass ich nur anrufe, um mal wieder ihre Stimme zu hören?
»Oh, that's so sweet«, quietscht Andie zurück. Es klingt nach einer Melange aus Mitleid und diesem »süüüüüüß«, das kleine Mädchen absondern, wenn sich ein Hund auf den Rücken dreht, um gekrault zu werden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Nick sich Zeige-und Mittelfinger in den Mund steckt und so tut, als müsse er sich übergeben. Hättest ja auch rausgehen können, Alter! Aber nein, der Herr muss sich natürlich noch mit in dieses Mini-Rigips-Kabuff reinzwängen. Jetzt konzentrieren: Du musst ihr die Sache so unverdächtig wie möglich unterjubeln, nur nicht aus dem Plauderton rausfallen.
»Could you do us a little favour? «
»Sure«, quittiert sie, freundlich wie immer. Also frage ich, ob sie uns zwei Flüge buchen kann. Ja, wohin eigentlich? Ich drehe mich zum Beifahrer um und zucke mit den Schultern. Er flüstert »Denver« rüber, und ich wiederhole brav »Denver« in den Hörer. Ach ja, Andie, und könntest du es vielleicht so anstellen, dass die Buchung nicht über die Firma läuft? Es dauert wieder eine Sekunde, dann flötet sie ein »sure« und fügt nach einer kurzen Denkpause hinzu: »I can charge it to my private account.«
Das ist dreifach erstaunlich. Erstens: Sie klingt so, als würde sie es kein bisschen wundern, dass ihre Kollegen an ihrem Arbeitgeber vorbei eine kleine Lustreise klarmachen wollen. Zweitens: Sie fragt nicht einmal, wer ihr die Kohle für die Aktion gibt und wann, dabei bezahlt sie die Tickets ja erst mal aus ihrer eigenen Tasche. Aber das ist wieder typisch für die Company. Bei der Datacorp fragt nämlich nie jemand nach Geld, in dem Punkt verhalten sich die Jungs gar nicht amerikanisch, sondern eher wie eine Bande britischer Aristokraten: Über Geld spricht man nicht, das ist einfach vorhanden. Selbst Andie hat nie ein Wort darüber verloren, was sie verdient und wie sie sich ihren »Beamer«, ihr bajuwarisches Cabriolet neuester Baureihe, leisten kann, oder ihre französischen Schuhe - die rote Sohle erkennt man ja selbst als Nerd. Drittens: Ohne dass ich davon rede, bietet sie an, während ihrer Mittagspause nochmal im Ambrosia reinzuschneien. Dann könnte ich ja nochmal anrufen und sie würde uns dann die FlugCodes durchgeben, schlägt sie vor. Als ob es das Normalste der Welt ist, nur noch von einem Cafe aus zu telefonieren, weil einen der eigene Arbeitgeber abhört. Vor lauter Begeisterung darüber, dass unser Plan funktioniert, verlerne ich das »th« und radebreche zum Abschied ein »Sätz gräit«.
Ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass Nick jetzt Hilfe suchend zur Decke schaut. Hey: Nicht jeder darf am laufenden Band bei irgendwelchen Topsecret-Missionen dabei sein und so ständig sein Englisch aufpolieren! Andie trällert noch ein »Bye« in den Hörer und reicht ihn an Juan weiter, der nach einem knappen »Good-bye« auflegt.
»Großartig«, leiert Nick und schiebt mich vom Telefon weg, »kann ich jetzt auch mal.«
Ich reiche ihm den Hörer rüber, mache aber keine Anstalten, zur Seite zu geben.
»Allein!«, zischt er genervt hinterher. Na toll: Du darfst meinem Lübke-Flirt beiwohnen, aber ich darf nicht dabei sein, wenn du mit Sabina plauschst. Extra langsam räume ich meinen Platz auf den Klappstuhl vorm Telefon und quetsche mich aus der Kabine raus. Draußen, in dem Schlauch, der den indischen Callshop mit dem norddeutschen Nieselwetter verbindet, riecht es nach Curry und Zigarettenrauch, der bis vor wenigen Jahren noch in die Gipswände einziehen durfte.