#27 T-3: 16:29
Sandwich Artist. Die Buchstaben aus weißem Garn leuchten auf dem dunkelgrünen Polohemd. Eigentlich müsste der Bursche Größe S tragen, doch die Firma hatte wohl nur noch XL da, deshalb schlackert der Stoff um den klapperigen Teenagerkörper wie eine Fahne im Wind. Sandwich Artist. Oha, hier haben wir es also nicht nur mit einer Aushilfe zu tun, die für einen Mindestlohn Stullen schmiert, sondern mit einem wahren Künstler.
»Footlong or six inch?«, leiert der Imbiss-Kunstschaffende wie eine Sprachbox runter. Die schwarzen Spitzen an seinen naturroten Haaren zeugen von einem fehlgeschlagenen Färbe-Experiment. Er ist höchstens siebzehn und steckt in dieser Phase, in der man sich vor der Welt und seiner eigenen Existenz besonders doll ekelt - was verständlich ist, wenn man sich die Aknekrater auf seinen bleichen Wangen anschaut. Früher hätten wir ihn bestimmt in die Schublade »Goth« gepackt, die bei unseren Eltern immer »Grufti« hieß. Aber solche Jugendkulturen gibt's ja angeblich nicht mehr, bis auf »Emo« oder so. Bei uns damals auf dem Schulhof, da war die Sache noch kompliziert: Da gab's zum Beispiel die Mods mit ihren Parkas, ein paar versprengte Punks und die Skins -natürlich keine dumpfen Faschos, sondern die echten Skins nach britischem Vorbild. Mit der Gruppe stylemäßig verwandt waren die Ska-Fans in ihren karierten Jacken, die auf der Schuldisco zu Madness immer so lustig getanzt haben. Am Retro-Ende standen die Psychobillys und Rockabillys. Die machten auf Fünfziger, mit hoch aufgetürmter Haartolle und amerikanischer Collegejacke. Von denen meinte Nicks Dad, sie sähen aus wie diese »Proleten in seiner Jugend«, die Peter Kraus gehört hatten. Jede Gruppe igelte sich mit ihren Klamotten und ihrer Musik ein, und wer sich nicht akribisch an den Codex hielt, wurde als »Pseudo« beschimpft und weggebissen. Da reichte es schon, gelbe statt weiße Schnürsenkel zu haben, und schon gab's was auf die Fresse. Diese - an sich ziemlich alberne -Schulhof-Kastenbildung wurde immer granularer und endete mit den »HeimatWavern«, die zu ihren Doc Martens bayerische Jankerl aus der CDU-Kleiderstube trugen - und trotzdem die Smiths hörten.
»Footlong - wheat!«, antworte ich dem kleinen Grufti und erspare ihm so direkt die nächste Frage, die er an dieser Stelle des Kundengesprächs stellen muss. Ein 30-Zentimeter-Sandwich, Weizenbrot, bitte. Der Künstler zwängt seine Spinnenfinger widerwillig in ein paar Einmal-Handschuhe und schneidet das Brot längs und quer durch. Dann schubst er es einen halben Meter weiter zur Belagtheke, klatscht zwei Stapel Truthahn-Aufschnitt ins Pappbrötchen und schaut mich erwartungsvoll an.
»Cheese?«
»No cheese, no mayo«, instruiere ich ihn, so, wie das jeder Mensch tut, der a) über 30 ist und b) keinen amerikanischen Pass hat. Wer als Landesfremder an diesem Punkt nämlich nicht aufpasst, ist bald so fett wie die Gäste in Talkshows, die um die Mittagszeit ausgestrahlt werden. Pling-plang-plong. Der elektronische Dreiklanggong an der Ladentür wimmert los, verendet aber schon nach dem zweiten Ton jämmerlich. Ah, der gute alte SAB600 IC. Gibt es einen Winkel der Welt, wo der keine Hörnerven malträtiert? Nick steckt sein glühendes Gesicht durch die Tür, dabei spreizt er stolz den Daumen zum »Alles OK«-Zeichen in die Luft. Na also, alles wieder gut, Alter. Japsend stolpert er an den gelben Plastikbänken im Essbereich vorbei und baut sich neben mir vor der Theke auf. Obwohl es kurz nach zwölf ist, sind wir die einzigen Kunden. Gierig saugt der Beifahrer einen Zug eiskalte klimatisierte Luft ein und pustet sie wieder raus. Seit Kurzem ein echter Luxus.
»Alles klar. Keine Unregelmäßigkeiten.«
Er grinst von einem Ohr zum anderen.
»Sabina sagt, dass sich die Kleine schon an allen Sachen hochzieht. Noch 'n paar Tage und sie läuft!«
Was ist los, E.T.? Wenn du früher nach Hause telefoniert hast, wurden mir die Einzelheiten dezent erspart.
»Na, ist doch toll«, lüge ich mit gespielter Begeisterung.
»Sir?«, quakt der Rotschopf dazwischen. Stimmt, der ist ja auch noch da. Ich muss ihm wieder was zu tun geben.
»Bell peppers, lettuce, jalapenos and some mustard. Take out.«
Natürlich zum Mitnehmen.
»Wir müssen unbedingt in Bewegung bleiben - wie die Haie«, hatte mir der Beifahrer schließlich heute Morgen eingeschärft. Seine Erklärung klang einleuchtend: Wenn wir irgendwo lange parken, steigt die Chance, dass ein Bulle vorbeikommt und unseren Wagen bemerkt. Und weil die Datacorp sicher dafür gesorgt hat, dass er zur Fahndung ausgeschrieben ist, wäre unsere kleine Dienstreise an dieser Stelle vorbei. Deshalb haben wir beschlossen, wenn es geht, nur noch im Auto zu essen, was in diesem Nest bedeutet, beim Team von der U-Bahn einzukehren.
»Some chips?«, erkundigt sich der Sandwich-Künstler. Ich lehne ab.
»The same for me«, ruft Nick von der Seite rüber, während er einen kleinen Berg Vierteldollarmünzen durchzählt, den er sich zum Telefonieren zusammengerafft hatte. Der Rotschopf guckt kurz verwirrt, setzt sich dann aber langsam Richtung Brotregal in Bewegung, um Material für sein nächstes Oeuvre zu holen. Was haben wir denn da? Nachdem das Polohemd-Zelt zur Seite geweht ist, starrt uns eine Linse an. An der Wand hinter der Kasse klebt eine Kamera an der Wand, Modell Webcam aus den Neunzigern - eine Kugel aus silbernem Plastik. Dabei hatten wir uns doch extra eine Filiale ausgesucht, die nicht in einer der großen, mit Kameras gepflasterten Tanken untergebracht ist, sondern die alleine steht, auf einem Grundstück am Highway, schön mit Rasen drum herum. Ich stoße Nick in die Rippen.
»Cam!«
Er schaut kurz hoch und mustert die Kamera.
»Keine Panik: Closed circuit, die hängt nicht am Netz.«
Dann wendet er sich wieder seinen Münzen zu. Dingding-ding. Das amerikanischste aller Geräusche plärrt aus dem Fußraum: dieser Nervgong, mit dem der unmündige Fahrer in der Neuen Welt vor so ziemlich allem gewarnt wird - vom platten Reifen bis zum nicht angelegten Gurt. Da scheinen sich die Herren in Detroit echt abgesprochen zu haben, der klingt bei allen Herstellern gleich. Dingding-ding. Seit Jahren nehmen wir uns vor, mal den NF-Verstärker anzuzapfen und den Sound aufzunehmen, wofür auch immer. Im Zweifel um zu zeigen, dass es geht.
»Floor it«, befiehlt Nick, nachdem er die Autotür zugepfeffert hat. Analyse: Zitat aus »Speed« mit Bullock, ich soll das Gaspedal bis zum Boden durchdrücken.
»Wohin?«
»Zurück auf den Highway. Nach Norden, Schätzchen.«
Er ist immer noch total high von seinem Telefonat. Unseren kleinen Bruderzwist eben an der Telefonzelle hat er in seinem Kopf längst mit neuen Daten überschrieben. Darauf kann man sich verlassen: Nicks maximale Einschnappzeit liegt unter zehn Minuten, egal, wie heftig wir uns gestritten haben. Wann wird er endlich verraten, welchen Bunker oder welchen Kumpel wir da oben ansteuern? Behäbig schaukelt unser Boot über den Bordstein des Parkplatzes und rollt zurück auf den leeren Highway. Jetzt vorsichtig auf 25 Meilen pro Stunde vortasten und immer schön sachte an den Schulbushaltestellen vorbeikriechen - da verstecken sich die Cops mit ihren Radarpistolen besonders gern. Die Häuser auf der Hauptstraße haben was von Westernstadt im Freizeitpark: Von vorne sehen sie voll protzig aus, mit Erkern, Vorsprüngen und Schnörkeln, doch wenn man vorbeigefahren ist und seitlich draufguckt, merkt man, dass der hintere Teil des Hauses nur aus einem fensterlosen, einstöckigen Kasten besteht. Wie bei allen Nestern in der Gegend sind auch hier schon die besten Tage vorbei. An den meisten Häusern hat die Sonne die weiße Farbe abgeschält, sodass die dunkelroten Backsteine rausgucken. In der »J.F.K. Bar« an der Ecke wird nur noch ein »Zu vermieten«-Schild serviert, genau wie im alten J. C. Penney daneben. Gierig reißt Nick das Papier von seinem Sandwich ab und beißt ihm den Kopf ab.
»Kennst du eigentlich John Titor?«
»Nie gehört.«
Sollte das der Typ sein, zu dem wir fahren?
»Krasse Geschichte.«
Schmatzend schiebt er sich den nächsten Inch Weizenpappe rein.
»Also: Um die Jahrtausendwende ist im Netz ein Typ aufgetaucht, der sich John Titor nannte und erklärte, ein Zeitreisender aus dem Jahr 2036 sein zu.«
Oh Mann, voller Bullshit voraus!
»Ne, is klar«, feixe ich. Wie üblich tut der Beifahrer so, als wäre ich Luft.
»Jedenfalls behauptete Titor, rückwärts in der Zeit gereist zu sein, um einen bestimmten Computer zu beschaffen. Einen und jetzt kommt's ... «
Vor lauter Vorfreude fluppt ihm ein senfverschmierter Jalapeno aus dem Mund und kullert in seinen Schritt.
»... einen IBM aus der Einundfünfziger-Serie!«
Genauso ein seltener Rechner wie der, hinter dem wir her sind, um damit unser Tape auszulesen? Okay, das ist ein erstaunlicher Zufall. Damit hast du dir eine zweite Chance verdient, Alter.
»Warum gerade den?«, erkundige ich mich. Nick versucht, mit einer Serviette das grüngelbe Scheibchen zu schnappen, bevor es noch weiter unter seinen Hintern rutschen kann.»Äh, ja, Titor sagte, er brauche ihn, um in der Zukunft damit irgendeinen Legacy Code auszulesen. Also im Prinzip war er auf der gleichen Mission wie wir.«
»Und? Hat er einen gefunden?«
Schnapp! Er fängt die Chilischeibe ein - und stopft sie doch tatsächlich in das Sandwich zurück! An solchen Details merkt man, dass er ziemlich lange allein gelebt hat.
»Keine Ahnung. Titor verschwand wieder in der Versenkung - allerdings nicht, ohne ein paar düstere Prognosen abzusondern. Er orakelte, dass 2004 ein Bürgerkrieg in den USA ausbricht und die Russen 2015 alles nuken und so weiter.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass da irgendwas dran ist, oder?«
Nick nimmt das Sandwich aus dem Mund, um wenigstens einen Funken Seriosität zu versprühen.
»Okay: Etwas nachdenklich bin ich geworden, als Titor behauptete, seine Zeitmaschine sei in einer Corvette von 1967 untergebracht ...«
Er muss so heftig lachen, dass ein Krümelregen aus seinem Mund auf das Handschuhfach niederprasselt. Die letzten weiß getünchten Holzhäuschen huschen vorbei und das 55-Meilen-Temposchild erklärt die Ortschaft für beendet. Der Zuckerschock vom Sandwich kickt jetzt richtig rein und wir lachen, bis uns die Tränen in den Augen stehen. Japsend legt Nick nach: „Wusstest du eigentlich, dass die Russen im Zweiten Weltkrieg Supersoldaten eingesetzt haben: Die bekamen ein Hirnimplantat aus Gold verpasst, das ihr Schmerzzentrum ausschaltete -und kugelsichere Titanknochen. 1994 haben sie in Vitebsk auf einem alten Friedhof die Leiche eines Mannes gefunden, dessen Knochen aus Stahl bestanden - kein Scheiß!«
Wir biegen uns vor Lachen und vergessen für ein paar Minuten sogar, die Seitenspiegel im Blick zu behalten.