#39 T-2: 06:39
Für einen ziemlich langen Moment wackelt die Dose auf dem Rand des Papierkorbs herum, so, als könnte sie sich nicht entscheiden, wohin ihre Reise gehen soll: Außenseite oder Innenseite? Dann kippt sie doch außen runter, wie ein Taucher, der sich rückwärts ins Wasser gleiten lässt, und schlägt mit einem dumpfen »Kloing« im braunen Flokati-Meer auf. Ein paar Tropfen Bier spritzen bis zur Wand und perlen von der Vertäfelung ab.
»So eine Scheiiiiiiiße«, schreit Nick und springt mit hochrotem Kopf auf seinem Bett rum. Tja, Regeln sind Regeln, Dude, jetzt musst du anrufen - wo auch immer. Ich greife in das kleine Fach unter dem Nachttisch und frickele eine neue Dose aus dem Sixpack, das oben von so einem Plastikband zusammengehalten wird; in den Dingern verfangen sich angeblich jedes Jahr zehn Trillionen Möwen und verrecken, weil irgendwelche Asis sie in die Landschaft geschmissen haben, also die Dosenbänder. Jetzt nur noch den Moment abpassen, in dem Nick zum Durchatmen eine kurze Hüpfpause einlegen muss, dann ein Auge zukneifen und den perfekten ballistischen Kurs für die Dose fixieren.
»Achtung!«, warne ich vor.
»Feuer!«, verlangt der Beifahrer, streckt die Arme aus und geht leicht in die Knie, wie ein Footballspieler, der einen Pass erwartet. Okay, Feuer. Ich schmeiße die Dose rüber. Mist, Error, falsche Flugbahn! Die Dose eiert durch den Raum und rast - statt auf Nick - auf den Zenith-Fernseher zu; es ist ein altes Modell, wo man das Programm vorne noch mit einem Drehknopf einstellt, wäre schade drum. Nick denkt das Gleiche. Anstatt die Dose einfach vorbeifliegen zu lassen, hechtet er mit einem lauten Kampfschrei hinterher, schnappt sie aus der Luft und schlägt mitsamt seiner Beute krachend hinterm Bett auf. Ich springe sofort hoch.
»Alles klar, Alter?«
Kurze Stille, dann wächst Nicks Hand mit der Bierdose hinter der Bettkante hoch. Er präsentiert sie stolz in die Luft gereckt, als ob es die Fackel der Freiheitsstatue wäre. Manchmal vergisst er echt, wie alt wir sind. Das sind so Aktionen, nach denen so mancher Kollege unseres Jahrgangs in der Notaufnahme landen würde. Aber um Retro-Tech zu retten, riskiert Nick eben alles.
»Vielen Dank, meine Damen und Herren«, verkündet Evel Knievel grinsend, nachdem er sich wieder aufgerappelt hat. Er klopft kurz auf die Dosenoberseite und reißt sie auf.
»Muss mir noch Mut antrinken.«
Welche mysteriöse Person wir anrufen müssten, um zu erfahren, was es mit der vermeintlichen Satelliten-Software auf sich hat, ließ er sich nicht aus der Nase ziehen, weder im Auto noch im Motel.
»Erst mal'n Bierchen«, lautete seine Ansage. Wir beschlossen, ein Spiel draus zu machen: Wer es als Erster nicht schafft, seine leere Dose vom Bett aus in den Papierkorb zu treffen, der neben dem Fernseher steht, muss anrufen. Es hat ein paar Runden gedauert, aber jetzt ist das Match entschieden: Auge-Hand-Koordination hat mal wieder gegen Hirn gewonnen. Kee wins, der Nickmeister muss an die Strippe. Gierig gurgelt er die Hälfte seiner neuen Dose in einem Zug runter. Theoretisch ist er schon viel zu hacke dazu, um irgendwo anders als bei einer Horoskop-Hotline anzurufen, aber ich vertraue auf seine geheime Übermenschen-Reserve. Im entscheidenden Moment wird er schon wieder nüchtern sein. Zeit für die Gretchen-Frage.
»So, und wen rufen wir jetzt an? Gesine Obermann?«
Nick schüttelt den Kopf, ohne die Dose abzusetzen. Gesine war bei uns damals in der Stufe das Alphaweibchen, von dem alle träumten. Die hatte schon richtig was Frauliches, trug immer Schuhe mit leichten Absätzen, in denen ihre Fesseln zum Niederknien aussahen. Leider kickte sie nicht nur in einer anderen Liga, sondern in einem anderen, von uns sehr weit entfernten Universum. Bei ihr hatten nur Studenten mit GolfKlasse oder drüber Chancen. Vermutlich bekämen wir selbst heute noch vor lauter Ehrfurcht keinen Ton raus, wenn sie vor uns stünde. Nick kippt den Rest der Dose auf ex runter. In den letzten zwanzig Jahren hat er nicht mehr mit so einer Entschlossenheit aufgetankt - ist es Zeit, sich Sorgen zu machen? Der Anruf scheint ihn ja echt Überwindung zu kosten. Nachdem er leise in seine Gedärme hinein aufgestoßen hat, stellt er die Dose beiseite und fängt an, das Codefeld auf der Telefonkarte freizurubbeln, die ich vorhin noch vorsorglich an Moms Tanke gezogen habe.
»Nein, wir rufen jetzt beim NRO an«, erklärt er mit dem üblichen Ton von Selbstverständlichkeit. Erstaunlich, dass er nach all den Jahren noch eine Drei-Buchstaben-Abkürzung aus dem Hut zaubern kann, mit der er mich noch nicht drangsaliert hat.
»Beim National Reconnaissance Office. So heißt die Behörde, die hier für die Spionagesatelliten zuständig ist. Wurde in den Sechzigern gegründet und versorgt die CIA und NSA mit Fotos von oben.«
Ah, wunderbar, er nüchtert sich selbst mit einem kleinen Vortrag aus.
»Krass, wusstest du eigentlich, dass die Satelliten bis in die Siebziger hinein noch mit Film geknipst haben?«
Nö. Nick stößt nochmal auf.
»War aber so. Der volle Film wurde mit 'ner Kapsel abgeworfen, und die kam dann irgendwo in der Nähe von Hawaii an 'nem Fallschirm runter. Die Schwierigkeit bestand darin, die Kapsel aus der Luft zu schnappen, bevor sie ins Meer stürzte. Dafür gab's so Spezialflugzeuge, die ein riesiges Seil hinter sich herzogen. War am Anfang wohl ein ziemliches Glücksspiel. Ende der Siebziger hat das NRO dann die ersten Sats mit Videochip in Dienst gestellt, die erst mal gigantische 800 mal 800 Pixel Auflösung lieferten! Das musste dir mal vorstellen: Die schießen so ein Teil hoch - das ist so groß wie 'n Schulbus und wiegt vollgetankt zehn Tonnen - nur um Fotos mit 'nem guten halben Megapixel zu machen.«
Er schiebt das wissende Lachen eines Insiders hinterher. Erst jetzt fällt ihm auf, dass ich seit ungefähr einer halben Minute meinen extradoofen »Hä?«-Blick aufgesetzt habe.
»Okay, okay«, lenkt er ein. Na endlich, jetzt kommt die MutterVersion.
»Also, du musst dir so einen Satelliten vorstellen wie ein Hubble-Teleskop - bloß in die andere Richtung gedreht.«
Er macht mit der Hand eine Bewegung, als wollte er den Satelliten höchstpersönlich wenden.
»Es ist ein gigantisches, von außen mit Teflon verkleidetes Fernrohr, das durch die Dunkelheit reist.«
Kurze dramatische Pause mit dem obligatorischen Blick in die Ferne, dann rappelt er sich auf und kehrt in das Hier und Jetzt zurück.
»Naja, die Satelliten kreisen ständig um die Erde, machen Fotos und funken sie runter zu einer Bodenstation. Exemplare der Keyhole-Serie sind mittlerweile übrigens echte Klassiker. In den Nullern wollte das NRO die Oldies durch eine kleine und billigere Version ersetzen, doch der Prototyp kam vom Kurs ab und musste eliminiert werden. Seitdem werden wieder die guten alten Teile im Schulbus-Format hochgeschossen. Ich sag's ja: Wenn du willst, dass der Job erledigt wird, musst du auf altes Material setzen.«
Klingt ja hochinteressant. Aber ist es ein guter Plan, mitten in der Nacht bei irgendeiner Geheimbehörde anzuklingeln?
»Und da willst du jetzt anrufen, also bei den Jungs, die die Satelliten steuern?«
»Jau.«
»Und du weißt die Nummer auswendig?«
»Jau.«
»Ist das nicht ein bisschen so, als würde man beim BND anrufen und sagen . Hi Leute, ihr macht doch so 'n Geheimzeugs. Wir haben da was ganz Tolles gefunden?«
Nick lacht.
»So ungefähr ist das «,gibt er zu.
»Das heißt, die Chancen stehen ungefähr eins zu tausend, dass sie uns nicht sofort aus der Leitung schmeißen«, erkundige ich mich. Er lässt seine roten Augen extraböse unter den Augenbrauen durchblitzen.
»Sag mir niemals, wie meine Chancen stehen. «
Er nimmt das Telefon vom Nachttisch und stellt es vor sich auf das Bettlaken. Der Hörer sieht aus, als könnte ihn Karl Malden in den »Straßen von San Francisco« wütend auf die Gabel knallen so ein hautfarbiges Modell mit einer kleinen roten Glühbirne dran, die blinkt, wenn jemand anruft. Das Hörerkabel ringelt sich wie ein Schweineschwanz einmal um den Kasten. Hoch konzentriert nimmt Nick ab und fängt an zu tippen, während er die Nummer vor sich hinmurmelt.
»Acht -null-acht ...«
Unserem Abstieg in die Liga der völlig durchgeknallten Gentlemen steht also nichts mehr im Weg. Wir sind dabei, die Aufsicht über die amerikanischen Spionagesatelliten anzurufen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie über uns echt eine Akte als Feinde des Homeland anlegen. Was für ein Schwachsinn.
» ... eins -eins -neun ... «
Ach, was soll's, die Herren kriegen wahrscheinlich jede Nacht solche Anrufe von zugedröhnten Verschwörungsfreaks. Sie werden auflegen, bevor Nick auch nur einen einzigen Fetzen von seinen Hirngespinsten absondern kann.
»... und die Acht.«
Nicks Grinsen hat sich aufgelöst. Mit schweren Zügen saugt er die Luft ein, während er den Hörer ans Ohr presst. Seine Stirn glänzt doppelt - von der Aufregung jetzt und vom Hüpfen vorhin. Komisch, er legt nicht sofort wieder auf. Es scheint tatsächlich zu klingeln. Plötzlich geht ein Zucken durch seinen Körper. Nick setzt sich kerzengerade hin wie ein Schüler, der ermahnt worden ist, und fängt mit kühlem Ton an zu reden.
»Yes,we have information concerning Keyhole 11/9. Could we speak to someone in charge?«
»Warteschleife«, flüstert er und hält die Hand vor den Hörer. Wie kann er diese Aktion so verdammt ernst nehmen? Hallo: Wir sind zwei Besoffskis aus Deutschland, die im Hauptquartier einer Organisation anrufen, die bis vor wenigen Jahren so geheim war, dass nicht einmal die amerikanischen Politiker von ihr wussten. Und wir faseln etwas von Satelliten-Software aus einem abgestürzten Flugzeug. Der Aberwitz der Situation muss ihm doch auch klar sein.
»Was läuft'n? >Eye in the Sky< von Alan Parsons Project?«, flüstere ich rüber. Angeekelt wie die Krissi im Flugzeug dreht sich der Beifahrer zur Seite. Also ein neuer Angriff, diesmal mit Musik.
»Das ist Orbit, natürlich ohne Zucker, ja, der schmeckt so lang, so lang ...«
Wortlos fährt Nick sein Bein aus und zimmert mir die Spitze seines Scheiß-Lederschuhs direkt gegens Schienbein. Alter, was soll ...
»Yes, good evening, Sir«, er reckt sich noch gerader hoch, als hätte ihm jemand einen Stock in den Rachen gerammt.
»Yes, we do have some information concerning Keyhole 11/9. The information was ...«
Der Typ am anderen Ende scheint nicht viel Geduld zu haben. Geschieht ihm recht, dem Sput-Nick, dass ihm so ein Militär-Heini mal einen zünftigen Einlauf verpasst. Spionagesatelliten? Das ist das Zeug, aus dem die Hintergrundstorys von schlechten Shootern gemacht sind, das ist Futter für die Zwischenszenen, die jeder sofort wegdrückt. In echt gibt's so was nicht, Alter!
»Yes«, stammelt Nick, diesmal noch devoter. Sein Gesprächspartner scheint mit ihm ordentlich Schlitten zu fahren.
»Yes, Sir, a copy of the original ACS code.«
Was? Die reden schon über Details? Die reden überhaupt miteinander? Hätte das NRO nicht längst auflegen oder die Fangschaltung aktivieren müssen? Überhaupt Fangschaltung: Vielleicht wäre es besser, wenn Nick langsam mal auflegt, bevor sie uns endgültig auf die Most-wanted-Liste setzen. Ich zupfe ihm am Ärmel, doch er schubst mich weg, als wäre ich ein lästiges Insekt.
»No, Sir, no conditions whatsoever.«
Seine Stirn türmt sich zu einem glänzenden Faltengebirge auf.
»Yes, Sir, no problem, we could be in Chantilly in ...«
Er wirft einen besorgten Blick auf seine Datalink.
»Our address?«
Nein, Alter, mach das nicht - sag ihnen nicht, wo wir sind! Zu spät.
»Yes, it's called the Alpine Chalet Motel ...«
Mit streberhafter Präzision gibt Nick unsere Adresse und Zimmernummer zu Protokoll. Vielen Dank auch. Das musste ja kommen: Früher oder später würde uns Nicks verdammte Obrigkeitshörigkeit in Schwierigkeiten bringen. Jetzt ist es so weit. Er hat uns tatsächlich beim NRO verpetzt. Handel mit vertraulichen Informationen, Verschwörung, und obendrauf Behinderung der Strafverfolgungsbehörden, weil wir an der Polizeikontrolle weitergefahren sind. Die Tagesschau-Meldung über uns ist geritzt.
»Auslieferungsantrag für deutsche Touristen in den USA abgelehnt.«
Dazu ein paar lauwarme Worte des Bedauerns vom Außenminister. Tja, Pech gehabt, Jungs, oder wie der Ami sagt: Don't do the crime if you can't do the time. In »Family Business« mit Sean Connery und Matthew Broderick haben sie das ja ganz gut übersetzt: Kannst du den Knast nicht überstehen, darfst du keine Dinger drehen. Dass er unsere Knastkarriere besiegelt, scheint Nick kein bisschen zu stören. Lustvoll reitet er uns mit weiteren »Yes, Sir« und »Sure, Sir« immer tiefer in die Scheiße. Bist du endlich fertig? Er ist.
»Yes, good night«, sagt er freundlich, so, als würde er den Mann in der Leitung gleich bitten, noch schöne Grüße an die Gattin auszurichten. Klick, er drückt seinen Finger auf die durchsichtigen Plastiknippel, auf denen normalerweise der Hörer ruht. Und? Wie üblich nach Entscheidungen, die unser Schicksal bis in alle Ewigkeiten besiegeln, hält es der Beifahrer nicht für nötig, mich mit mehr als einem Minimum an Informationen zu versorgen. Knapp verkündet Mr. Spock das, was die einzig logische Konsequenz aus all den Dingen ist, die wir die letzten Tage getan haben: »Sie kommen uns abholen.«