$0015

Er hat ihn bezwungen. Der Grid hat das geschafft, was keine Maschine vorher geschafft hat - sie hat Nick in die Knie gezwungen. Mit dem Kopf auf den Händen abgestützt kauert er vor dem Schreibtisch und nuschelt vor sich hin. Seinen Gegner, den schwarzen Laptop, hat er so weit ans Ende der Holzplatte geschoben, dass er fast runterfällt.

»Sechzehn K, lächerliche sechzehn Kilobyte, und ich kriege sie einfach nicht rausl«

Kein Wort mehr über unser Problem. Darauf ist Verlass: Selbst den schlimmsten Krach vergisst Nick in Sekunden, wenn er sich mit etwas Elektronischem beschäftigen darf. Ich mache die Tür zu.

»Was für sechzehn Kilobyte?«

»Wenn man das Betriebssystem und die Programme abzieht, bleiben noch sechzehn Kilobyte Daten im Speicher übrig, die der Besitzer hinterlassen hat. Texte, Termine, was weiß ich. Vermutlich verschlüsselt. Wenn John wissen will, was für Daten das sind, müssen wir sie entschlüsseln - und dafür müssten wir sie erstmal aus der Kiste raus bekommen und auf ein schnelleres System überspielen. Aber genau das klappt nicht. Ich kriege die sechzehn K einfach nicht raus, lächerlich - dabei könnte man die paar Byte fast mit der Hand abtippen, so wenig, wie das ist; in Buchstaben umgerechnet vielleicht drei oder vier Kapitel in einem Buch.«

Für einen IT-Gott wie Nick ist es natürlich eine unerträgliche Vorstellung, das berüchtigte Drehstuhl-Interface benutzen zu müssen - links auf dem Grid ein paar Zahlen ablesen, drehen, dann rechts in seinen Dienstrechner eingeben. Eine zutiefst analoge Lösung für ein digitales Problem. Fast so schlimm wie diese Programmlisten abzutippen, die früher in der 64er abgedruckt waren. DATA, DATA, DATA. Fest steht, dass ich diese Niederlage mit allen Mitteln verhindern muss, sonst droht wochenlanges Gezicke. Vielleicht kann er ja so ein Kästchen benutzen wie ich immer bei meinen Tandys?

»Hast du mal versucht, die Daten über die serielle Schnittstelle rauszuspielen?«

Nick schüttelt den Kopf.

»Die funzt nicht; oder ich hab was falsch gemacht.«

Er und was falsch gemacht - undenkbar. Eher ist das Interface kaputt. Ich setze mich hinter ihm aufs Bett und starre solidarisch und mit viel Ekel auf das widerspenstige Stück Magnesium. Es ist bedrückend still im Zimmer, als ob jemand gerade eine furchtbare Nachricht erhalten hat. Quälend langsam vergehen die Sekunden. Komm schon, sag was. Nein? Also ich. Aber was? Ein Held aus den Achtzigern kann nur mit den Waffen der Achtziger geschlagen werden ... Ich schieße ins Blaue: »Schon mal an Videodat gedacht?«

»An was?«

Freude! Eine leere Stelle in seinem Lexikon.

»Videodat. Erinnerst du dich nicht an den Computerclub?«

Nick grinst.

»Klar, mit den zwei Wolfgangs.«

»Genau. Die haben doch während der Sendung immer Daten übertragen, indem sie links oben im Fernsehbild kleine weiße Balken einblendeten. Ein weißer Balken stand für die 1, ein schwarzer für die 0, acht davon übereinander ergaben ein Byte, und das wechselte mit jedem neuen Fernsehbild. Ein ziemliches Geflimmer ...«

»... das 50 Byte pro Sekunde ergab«, steigt der Beifahrer ein, »die konnten die Zuschauer mit einem passenden Gerät dann auf ihren Rechner übertragen. Eine Art von urzeitlichem Download.«

Nicks Augen glänzen. Er hat meinen Gedanken längst zu Ende gedacht.

»Das isses! Wir bringen den Grid dazu, die beschissenen sechzehn Kilobyte als Grafik auf dem Bildschirm darzustellen und filmen das Ganze dann mit meinem Rechner ab.«

Ich schlage ein: »Machen Sie es so!«

In den folgenden dreißig Minuten explodieren wir in einem unglaublichen Nerdgasmus. Nick baut seinen Dienstrechner so auf, dass die eingebaute Chat-Kamera genau auf das Display des Grid zielt. Wie immer, wenn es um Technik geht, die man anfassen kann, produziert er, der Software-Guru, eine ziemliche Mikado-Konstruktion: Sein Rechner balanciert auf zwei Zahnputzbechern und wird nur von der Minibar-Karte und dem Pay-TV-Werbeaufsteller am Umkippen gehindert. Während seiner Bastelei habe ich auf dem Grid ein Programm geschrieben, das die Zahlen im Speicher ausliest und als kleine Klötzchen auf dem Monitor darstellt - in Basie, weil ich sonst nichts richtig kann und Tempo keine Rolle spielt. Schon nach ein paar Tests läuft das Programm einwandfrei, und auf dem Bildschirm des Grid erscheinen die ersten bernsteinfarbigen Quadrate. Das Muster sieht aus, als ob man sich den Schnee im Fernsehen mit der Nase an die Mattscheibe gepresst anschaut. Damit Nicks Kamera auch alles schön mitkriegt, mache ich jedes Bit auf dem Bildschirm so groß wie ein Leerzeichen. Das heißt, eine »0« ist ein schwarzes Leerzeichen, und eine »I« sieht aus wie ein Cursor. 240 Byte passen so auf den Minibildschirm. Um die nächsten 240 aus dem Blasenspeicher zu saugen und aufs Display zu bringen, braucht der Oldie ungefähr eine halbe Minute. Dass heißt, um alle privaten Daten des Besitzers abzufilmen, müsste eine gute halbe Stunde reichen. Überschaubar. Nach einigen Testläufe ist das Gehäuse des Grid so heiß, dass man es nicht mehr anfassen kann. Ich knipse die Zimmerbeleuchtung aus und schaue zum Beifahrer rüber.

»Bereit?«

»Bereit, wenn Sie es sind.«

Den kann ich ausnahmsweise zurückspielen ... Ich drücke auf Return.

»Dann lassen Sie mal den Rock runter, Agent Starling!«

Nick streichelt die Space-Taste des Dienstrechners ganz sachte, um seinen Mikado-Turm ja nicht zu erschüttern. Die Kamera läuft. Eine Sekunde später fängt der Grid an, still vor sich hin zu flackern. Obwohl Nicks Dienstrechner keinen Ton aufnimmt, schleichen wir extra vorsichtig zurück zu den Betten und lassen uns in Zeitlupe auf die Matratzen sinken. Bloß keine Erschütterungen! Und da sitzen wir dann, eine gute halbe Stunde, und genießen schweigend das Mäusekino. Wir schauen zu, wie ein Oldie aus dem Silicon Valley einem Baby, das vor drei Wochen im Perlflussdelta geboren wurde, eine Gutenachtgeschichte vorliest. Retro-Zen.

$0016

Etwas ist anders als gestern Abend. Nur was? Durch das offene Fenster ziehen heiße Schwaden rein, die zwölf Stunden lang Asphalt, Bratwurst und Autopolitur aufgesaugt haben. Alle Flutlichter, die gerade eben noch die leeren Parkplatzreihen ausgeleuchtet haben, sind ausgegangen; jetzt strahlt nur noch das Logo des Baumarkts in die Nacht hinaus. Aber es ist niemand mehr da, um die Markenbotschaft zu empfangen. Über das menschenleere Gelände hat sich Dunkelheit gelegt, so schwarz und undurchdringlich wie zu der Zeit, als hier noch Zuckerrüben wuchsen. Nicht mal zwei Jahre ist das her. Was ist anders? Hinten über der Stadt glühen die Wolken. Es sind die Reflexionen der Straßenlaternen, der Scheinwerferbatterien vor den Großraumdissen und des Flutlichts, unter dem die Cops an der Einfallstraße die Wagen der Dorfdeppen kontrollieren. Dröhnt das Autobahnkreuz lauter als sonst? Nick hockt auf dem Bett und klickert auf der Tastatur seines Dienstrechners rum, um die Daten aus dem Grid zu entschlüsseln. Wie immer, wenn er sich konzentrieren muss, hat er alle Lichter im Zimmer ausgedreht.

»Jetzt nur noch entschlüsseln«, war seine letzte Ansage vor zehn Minuten. Wie genau er das macht, versucht er mir schon lange nicht mehr zu erklären. Zu aussichtslos. Bei manchen Themen geht selbst ihm irgendwann der missionarische Eifer aus. Still und effizient löst er das letzte Rätsel des Grid selbst - oder das erste. Abwarten. Unsere Überspielorgie hat jedenfalls funktioniert: Der Dienstrechner hat die Klötzchen auf dem Bildschirm des Grid tadellos abgefilmt, aus dem Clip die Daten zu extrahieren war für einen Videoprofi wie Nick eine Kleinigkeit.

»50, so«, flüstert er vor sich hin. In seiner Stimme liegt dieser Ton, den er für wirklich Wichtiges reserviert hat. Und dann beginnt das ewig gleiche Ritual: Langsam, Zentimeter für Zentimeter, dreht er seinen Rechner zu mir rum, genau so, wie er es schon seit zwanzig Jahren macht, wenn er etwas Tolles in seinem Computer entdeckt zu haben glaubt. Vom Fenster aus ist nur Rauschen zu erkennen. Ich taste mich zum Bett vor. Dschungel lichtet sich, Buchstaben, Zahlen und invertierte Herzen treten hervor. Nicks Zeigefinger wandert auf eine Zeile im oberen Drittel des Bildschirms. Erst als er sicher ist, dass meine Augen gefolgt sind, nimmt er ihn wieder weg. Der Blick auf die Zeile ist frei: IRVING, CHARLES_DR , 4004111571

Extraleben - Trilogie
titlepage.xhtml
1Extraleben01.xhtml
1Extraleben02.html
1Extraleben03.html
1Extraleben04.html
1Extraleben05.html
1Extraleben06.html
1Extraleben07.html
1Extraleben08.html
1Extraleben09.html
1Extraleben10.html
1Extraleben11.html
1Extraleben12.html
1Extraleben13.html
1Extraleben14.html
1Extraleben15.html
1Extraleben16.html
1Extraleben17.html
1Extraleben18.html
1Extraleben19.html
1Extraleben20.html
1Extraleben21.html
1Extraleben22.html
1Extraleben23.html
1Extraleben24.html
1Extraleben25.html
1Extraleben26.html
1Extraleben27.html
1Extraleben28.html
1Extraleben29.html
1Extraleben30.html
1Extraleben31.html
1Extraleben32.html
1Extraleben33.html
1Extraleben34.html
1Extraleben35.html
1Extraleben36.html
1Extraleben37.html
1Extraleben38.html
1Extraleben39.html
1Extraleben40.html
2DerBug01.xhtml
2DerBug02.html
2DerBug03.html
2DerBug04.html
2DerBug05.html
2DerBug06.html
2DerBug07.html
2DerBug08.html
2DerBug09.html
2DerBug10.html
2DerBug11.html
2DerBug12.html
2DerBug13.html
2DerBug14.html
2DerBug15.html
2DerBug16.html
2DerBug17.html
2DerBug18.html
2DerBug19.html
2DerBug20.html
2DerBug21.html
2DerBug22.html
2DerBug23.html
2DerBug24.html
2DerBug25.html
2DerBug26.html
2DerBug27.html
2DerBug28.html
2DerBug29.html
2DerBug30.html
2DerBug31.html
2DerBug32.html
2DerBug33.html
2DerBug34.html
2DerBug35.html
2DerBug36.html
2DerBug37.html
2DerBug38.html
2DerBug39.html
2DerBug40.html
2DerBug41.html
2DerBug42.html
2DerBug43.html
2DerBug44.html
2DerBug45.html
2DerBug46.html
2DerBug47.html
2DerBug48.html
2DerBug49.html
2DerBug50.html
2DerBug51.html
2DerBug52.html
3Endboss01.xhtml
3Endboss02.html
3Endboss03.html
3Endboss04.html
3Endboss05.html
3Endboss06.html
3Endboss07.html
3Endboss08.html
3Endboss09.html
3Endboss10.html
3Endboss11.html
3Endboss12.html
3Endboss13.html
3Endboss14.html
3Endboss15.html
3Endboss16.html
3Endboss17.html
3Endboss18.html
3Endboss19.html
3Endboss20.html
3Endboss21.html
3Endboss22.html
3Endboss23.html
3Endboss24.html
3Endboss25.html
3Endboss26.html
3Endboss27.html
3Endboss28.html
3Endboss29.html
3Endboss30.html
3Endboss31.html
3Endboss32.html
3Endboss33.html
3Endboss34.html
3Endboss35.html
3Endboss36.html
3Endboss37.html
3Endboss38.html
3Endboss39.html
3Endboss40.html
3Endboss41.html
3Endboss42.html
3Endboss43.html
3Endboss44.html
3Endboss45.html
3Endboss46.html
3Endboss47.html
3Endboss48.html
3Endboss49.html
3Endboss50.html
3Endboss51.html
3Endboss52.html
3Endboss53.html
3Endboss54.html
Gillies.html