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Ich wusste es. Wir hätten uns auch so ein Tretboot mieten sollen. Wir hätten die Konferenz einfach Konferenz sein lassen und stattdessen schön in der Sonne brutzeln und Weizen trinken sollen. Genau so hätte das ablaufen müssen. War doch völlig klar, dass der erste schöne Tag auch gleich wieder der letzte sein würde. Deutschland halt. Schon als wir abends zur Bahn marschierten, hing so ein feuchter Schleier in der Luft; später, als wir dann am Gruppentisch im ICE vor uns hindösten, kullerten die ersten Tropfen das Fenster entlang. So richtig schön ist es seitdem nicht mehr geworden. Es blieb grau, und das viele Wochen lang, bis der meteorologische Sommer anfing, der gefühlt immer dann beginnt, wenn der echte Sommer schon fast vorbei ist.
»Ja, meine Herren, das ist ein Symbol für die Vanitas - eine Erinnerung an die Vergänglichkeit des Menschen. Könnense ruhig aufschreiben«, hätte unser Deutschlehrer wohl dazu gesagt. Und natürlich hinterher geschoben: »Ist alles klausurrelevant.«
Sowas bleibt im Gedächtnis, während der wirklich lebenswichtige Kram verschwindet. Warum rostet eigentlich Eisen - aber Stahl nicht? Schschscht. Das rechte Vorderrad ist in eine tiefe Spurrinne abgetaucht. Wasser prasselt gegen den Radkasten, als ob man einen Duschkopf gegen einen Karton hält. Der Wagen bricht aus und driftet auf die rechte Spur. Auf einmal kommt der Lkw rechts so nah ran, dass das Prüfsiegel auf dem Feuerlöscher hinter der Kabine zu erkennen ist. Schnell das Lenkrad rumreißen, noch ein bisschen, noch ein bisschen. Gut. Uiiiep-uiiiep, das Geräusch der Reifen, die eine Spurmarkierung überfahren, klingt wie eine gescratchte Kinderchor-Platte. Das war knapp. Mensch, wach bleiben. Endlich kommt die Ausfahrt. Zum ersten Mal seit Stunden kann der Motor auf entspannte 2500 Touren runtergehen. Früher, als Kind, war das genau der Moment, in dem man wach geworden ist - auf der Rückfahrt von Korsika. Dann hat Vater die Tür aufgemacht, und das letzte bisschen französischer Autoroute-Wärme löste sich in kalter deutscher Nachtluft auf. Nach Hause kommen, das war trotz allem immer schön. Wird es echt schon dunkel? Oder regnet es nur mehr? Wieder einer dieser Tage, an denen es nicht richtig hell wird, an denen 256 Graustufen nicht ausreichen würden, um Deutschland zu malen. Die Autobahn endet, und als ob jemand einen Schalter umgelegt hat, verschwinden mit ihr die hektischen Spurwechsler und ausgelaugten Außendienstler, die nur noch nach Hause wollen. Was bleibt, ist eine leere Landstraße, die sich durch grüne Felder schlängelt und hinten im Nieselregen verschwindet. Freie Fahrt, keine Spur von Feierabend-Verkehr mehr. Wo diese Straße hinführt, da ist ohnehin immer Feierabend. Willkommen im Land der Münzspieler, willkommen im Merkur-Sektor. Aus dem Nieselregen taucht das erste Dort auf. Alles ist so menschenleer, als ob in zwei Minuten ein Atomtest stattfindet, wie in diesen Dummydörfern in Nevada. Nur ein Junge rennt mit Reklamezetteln unterm Arm den Bürgersteig entlang, vorbei an Häusern, die nach dem Krieg hektisch hochgezogen und von außen gefliest wurden. Und wahrscheinlich auch von innen, inklusive dem Schändungs-Stübchen im Keller. Ich muss an der Fußgängerampel anhalten, um den Zettelverteiler rüberzulassen. Auf der Ecke, beim Gasthof Zur Linde, sind alle Rollläden runtergekurbelt, genau wie bei fast allen Geschäften an der Kreuzung.
»Zu vermieten« steht auf dem Schild im Fenster der Lottoannahmestelle. Dahinter gähnt der ausgeräumte Verkaufsraum wie eine Höhle. Das einzige Licht brennt an der Zockhalle Las Vegas, Merkur-Sektor halt. Blaue und gelbe Neonröhren schlängeln sich über die Backsteinfassade. die Fugen sind schwarz vom ständigen Rußregen. Grün. Die Geisterbahn fährt weiter. Das nächste Dorf, noch mehr geflieste Fassaden, noch weniger Leben. Auch hier ist alles verrammelt. Geschlossen: die Grillstube Mykonos, das Ital. Eis Café Adria. Bizarr, die Namen der Läden klingen wie aus einem Lied von Udo Jürgens. Vor dem letzten offenen Kiosk steht eine junge Frau mitten im Regen. Sie trägt geringelte Leggings und Adiletten, nein, es sind nicht mal echte Adiletten, dafür sind zu viele Streifen drauf. Es sind Fälschungen. Ihre linke Hand umkrampft eine Aldi-Tüte, während sie mit der anderen ein Minifläschchen Mariacron ansetzt. Ganz langsam und zittrig. Auf der Litfasssäule neben ihr steht in neongelben Buchstaben Erotik-Messe. Schnell weiterfahren. Seit der Sache mit Irving vor zwei Wochen haben Nick und ich nicht mehr miteinander geredet. Vielleicht, weil wir uns einfach nicht an dieses Bild erinnern wollen, an Irvings blasse Wade auf der Bühne. Schwachsinn. Das stimmt nicht, oder höchstens zum Teil. Wir haben auch sonst kaum noch was miteinander zu tun. Klar werden wir immer Freunde bleiben, irgendwie. Nach mehr als zwanzig Jahren kann man ja nicht so mir-nichts-dir-nichts einfach alle Brücken abbrechen. Aber das Kumpel-Ding funktioniert einfach nicht mehr, seit wir einen richtigen Job haben. Seit uns eine gewisse Datacorp Ltd. jeden Monat unser Beratungshonorar überweist - so steht es als Verwendungszweck auf dem Kontoauszug -, ist Nick einfach nicht mehr derselbe. Er nimmt alles viel zu ernst, rafft nicht, wie banal das ganze Business im Grunde genommen abläuft. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat sein ganzes Leben nur darauf gewartet, Angestellter werden zu können, endlich deutscher Mitläufer zu sein, Teil von etwas Großem. Dabei war er bis vor zwei Jahren noch der Prototyp des Selbstdenkers, jemand, der nach den Regeln des Tech Model Railroad Club lebte: Informationen müssen frei sein; was zählt, ist nicht, wer du bist, sondern wie cool dein Hack ist; stelle jede Autorität infrage. Mittlerweile kann man dabei zugucken, wie dieses Credo langsam zerbröselt, mit jedem Monat, in dem das Gehalt auf seinem Konto eingeht. Schade. Er hat die Freiheit wohl doch nicht so sehr geliebt.
»Mensch, das ist die R-i-e-s-e-n-c-h-a-n-c-e!«, hatte er mir ins Gesicht gebrüllt, als wir uns letztens mal wieder darüber gestritten haben, wer der größere Spießer ist (er natürlich). Und wie immer hat er mich mit seiner messerscharfen Spock-Logik in Grund und Boden gestampft: »Wie viele abgebrochene Informatiker (da meinte er sich) oder Volkswirte (da meinte er mich) bekommen schon die Chance, mit Mitte Dreißig noch bei einem internationalen Konzern anzufangen? «
Okay, stimmt, aber man muss es doch nicht gleich übertreiben und seine eigenen Gedanken an der Garderobe abgeben. Doch Nick ist Nick, und Nick ist Nerd, und Nerds wollen das Spiel besser spielen als alle anderen - selbst als die Leute, die es programmiert haben. Und meistens gelingt ihnen das sogar, eben weil sie keine Zeit damit verschwenden, im Straßencafé Frauen anzugaffen. Deshalb ist es nur logisch, dass Nick, nachdem er jahrelang der perfekte Retrogamer war, nun den perfekten Angestellten gibt. Das alte Ziel war, Operation Thunder mit einer Mark durchzuspielen; das neue Ziel lautet, Angestellter des Monats zu werden - und zwar jeden Monat. Was ein guter Angestellter wissen muss, hat er sich natürlich schon draufgeschafft. Stundenlang doziert er über den geldwerten Vorteil eines Dienstwagens, weiß, in welcher Steuerklasse er ist - bis vor zwei Jahren kein Thema für uns, weil wir keine zahlten -, oder er schwadroniert bis zum Erbrechen über seine Reisekostenabrechnung. Wobei er selbst hier den Musterschüler mimt und - anders als der Rest der Menschheit - seinen Arbeitgeber nicht bescheißt. Was ja nicht schlecht ist. Nein, nein, seine Ehrlichkeit ist toll. Und das wäre ja auch alles noch zu ertragen, wenn er seit Neuestern nicht so schlimm reden würde. Wie nach einer Gehirnwäsche.
»Da ist echt der Tipping Point erreicht.«
Nur so als Beispiel. Oder dies und jenes sei nicht unsere »Kernkompetenz«, in diesem Punkt sei die Datacorp anders »aufgestellt«.
Grauenhaft, totales Business-Gekasper. Die Zeiten, in denen ich noch sein »Alter« war, sind natürlich auch vorbei. Wenn er mich überhaupt mit Namen anspricht, dann mit Kee, meinem bescheuerten Bildschirm-Pseudonym aus Commodore-Zeiten. Am krassesten zieht er sein Business-Theater durch, sobald Kollegen aus der Firma in der Nähe sind. Dann spricht er original so wie damals in der Schule, wenn der Klassenlehrer danebenstand. Statt »Haste da Bock drauf« heißt es plötzlich »Könntest du dir vorstellen, das zu übernehmen«.
Völlig lächerlich, zumal in der Firma außer John ohnehin niemand Deutsch spricht. Er könnte auch sagen »Bück dich, du Stück!«, ohne dass sich auch nur jemand umdrehen würde. Im Gegenteil, die Amis würden sich höchstens darüber amüsieren, dass wir mit den vielen scharfen »k« wie Nazis in einem Hollywood-Film klingen. Seine absolute Lieblingsfloskel ist »am Ende des Tages«.
Die benutzt er zu jeder Gelegenheit. Bei ihm kommt das erste »Ende des Tages« oft schon am Anfang des Tages, so gegen 9:01 Uhr, wenn er sein »Home Office« betritt, das man gut und gerne auch als Kellerkabuff bezeichnen könnte. Es lässt sich nicht beschönigen: Nick spricht wie einer dieser armen Menschen, die in einem dunklen Konferenzraum in der Nähe eines Flughafens sitzen. Immerhin rückt das Ende dieses Tages näher. Meine Augen brennen von der heißen Luft, die seit fünf Stunden gegen die Windschutzscheibe föhnt - und von der Hässlichkeit dahinter. Hochhausblocks, Ampeln, Regen. Für einen kurzen Moment blitzt das 21. Jahrhundert auf - ein Internet - Call-Shop, daneben ein Ladenfenster, auf dem mit Vinylbuchstaben PCDoktor steht. Zip, schon vorbei, das nächste Haus ist sogar schwarz gefliest. Am Horizont türmen sich Fabrikschlote auf, die schon vor einem halben Jahrhundert aufgehört haben zu rauchen.