#26 T-3: 18:45
»Detroit produziert auch nur noch Schrott!“ Fluchend drischt Nick auf die Knöpfe der Klimaanlage ein.
»Das kann doch nicht ...“ Fump - seine Faust landet auf dem Temperaturregler. Ich spare mir das »Siehste«, weil ich weiß, dass ihn mein Schweigen viel mehr aufregt. Stattdessen fixiere ich, ganz der professionelle Fahrer, den Mittelstreifen des Highways. So, mein Freund, jetzt steht es eins zu eins im Idiotenduell. Warum musste er sich als Gadget-Methadon ausgerechnet die Klimaanlage aussuchen? Bestimmt zehn Minuten hat er dran rumgefrickelt: Automatik an, Automatik aus, Lüftung hoch und wieder runter. Plötzlich ist das Teil mit einem leisen Zischen unter der Folter zusammengebrochen. Ende, aus. Seitdem kriecht die Hitze gnadenlos von draußen rein. Bravo, Alter, in zwanzig Jahren auf dem Highway haben wir noch nie eine Klimaanlage zerstört. Ganz toll. Fump! Nicks Faust donnert wieder auf die Knöpfe.
»Scheiße!«
Er schüttelt sich die Hand. Oh Mann, der Herr hat es tatsächlich geschafft, sich bei seinem letzten Handkantenschlag gegen die Lüftungsdüsen die Haut aufzuratschen. Während er in voller Tetanus-Panik seine rechte Hand ablutscht, fingert er mit der linken das Tape aus dem Handschuhfach und schiebt es vorsichtig unter den Sitz. Ab sofort der kühlste Platz. Schweigend lasse ich alle Fenster runter. Das wird dem Mann, der nichts mehr fürchtet, als Zug zu bekommen, schwer zusetzen. Doch er hält die Klappe, weil er weiß, dass es keine Alternativen gibt. Wenn das Band keinen Schaden nehmen soll, darf es nicht warm werden, sonst gibt's nachher Datenfehler. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie doch tatsächlich ein kleines rotes Rinnsal seinen Arm runterkullert.
»Alles okay, Alter?«
»Alles okay«, grummelt Nick. Klar, warum er so leicht auszuckt. Und er weiß, dass ich es weiß. Denn es gibt diese eine Sache, die schon seit unserem Abflug aus Deutschland im Raum steht. Es ist im Prinzip eine ganz einfache Frage: Hat es ausgereicht, Sabina mit dem Kind zu ihrer Mutter zu schicken? Oder hat die Datacorp sie auch ins Visier genommen? Eine Organisation, die Mitarbeiter einfach mal so wegsperrt - die hat doch wahrscheinlich auch keine Probleme damit, Sabina zu entführen, um so von uns das Tape zu kriegen. Oh Gott, Entführung - allein das Wort! Lass alles nur eine von Nicks Wahnvorstellungen sein. Er muss echt durch die Hölle gehen. Als Vater sieht man die Dinge ja angeblich nicht mehr so locker, den ganzen menschlichen Kram, Gewalt, Krieg und so. Nicht mehr so wie mit dreizehn, als man jeden Bösen, den Arnie bei »Phantomkommando« wegputzte, bejubelt hat wie einen neuen Highscore bei Beach Head. Früher, da konnte es uns ja gar nicht grausam genug sein. Da hätten wir uns am liebsten schon zum Frühstück »Hellraiser« reingezogen - am besten die Szene, wo der Typ mit Angelhaken zerrissen wird. Diese unbeschwerte Freude an der Gewalt ist uns in den letzten Jahren ein bisschen abhanden gekommen. Mittlerweile zocken wir keine Games mehr, bei denen man Zombies, die am Boden liegen, noch das Hirn rauspusten muss.
»Fehlt einfach der Wohlfühl-Faktor«, meinte Nick letztens, als wir mal wieder so ein Game angezockt haben. Und irgendwie stimmte es. Schrecklich, dass jeder im Alter zum Sozialkundelehrer wird. Ich schaue zu ihm rüber.
»Willste nicht mal bei Sabina anrufen?«
Seine Mundwinkel zucken kurz nach oben, dann kämpft er sich die Kontrolle zurück und drückt ein beiläufiges „Okay« raus. Könnte allerdings schwierig werden, das mit dem Telefonieren, schließlich sind wir gerade erst an einem blauen Warnschild vorbeigedonnert, auf dem NO SERVICES FOR 60 MILES stand eine Stunde lang keine Tanke. Also rutschen wir simultan in unseren Sitzen ein Stück nach unten und verfallen in die alte, auf Tausenden von Meilen perfektionierte Duldungsstarre. Doch sie fühlt sich anders an als früher, wie fast alles auf dieser Dienstreise. Vielleicht sind es die offenen Fenster. Bisher glitten wir immer in unserem klimatisierten Kokon durchs Land, abgeschottet von der Natur und allem, was auch nur entfernt einheimisch erschien. Jetzt dagegen garen wir wie zwei Böse in einem Robert-Rodriquez-Streifen vor uns hin, während der brennende Asphaltwind von draußen unsere Haare zerzaust und die Haut auf der Stirn zwingt, eine Schicht glänzendes Fett anzusetzen. Auf einmal müssen wir spüren, wie dick und heiß die Luft in einer Talsohle steht und wie frisch sie über eine Hügelkuppe bläst. Wir müssen die Rußfahnen der Trucks beim Überholen inhalieren, das Donnergrollen der Diesel ertragen. Zum ersten Mal scheinen wir richtig zu reisen, nicht nur zu beamen. Nick fängt an, das Münzgeld aus seiner Hosentasche rauszupopeln. Ganz ruhig, Alter, im nächsten Dorf gibt's bestimmt 'ne Tanke, die haben oft ein Telefon. Komisch, dass er bereit ist, die Funkstille zu brechen. Andererseits: Es ist ja nur ein Anruf, Nick muss sich halt kurzfassen, falls sie eine Fangschaltung gelegt haben. Halt: Das ist Fernsehwissen aus der Analogzeit, vielleicht gilt das gar nicht mehr und die Datacorp kann schon ab Sekunde eins des Telefonats rausfinden, wo wir sind? Na, es wird schon gutgehen. Bis zum Jahr 2000 stand die einsamste Telefonzelle mitten in der Mojave-Wüste in Kalifornien, zwölf Kilometer vom nächsten Kaff entfernt. Dann beschloss irgendein Freak, da jeden Tag anzurufen, um zu sehen, ob jemand rangeht. Und tatsächlich nahm mal eine Frau ab! Innerhalb weniger Monate verliebte sich das junge Netz in die Story, Nerds pilgerten zur Zelle und plötzlich war sie gar nicht mehr so einsam. Irgendwann wurde die Sache der Telefongesellschaft zu doof und sie baute das Häuschen in einer Nacht-und Nebelaktion einfach ab. Wie jeder gute Held ist auch die Telefonzelle erst durch diesen frühen Tod richtig legendär geworden. Jede Wette, dass Nick die Nummer noch im Kopf hat. Egal. Jedenfalls könnte die Zelle, vor der wir gerade stehen, locker das Erbe der Mojave Phone Booth antreten. Einsam genug liegt sie zumindest. Das glänzende Häuschen steht mutterseelenallein auf einem kleinen Schotterplatz, den irgendjemand neben dem Highway aufgeschüttet hat. Bloß, warum? In alle Himmelsrichtungen gibt es nur abgemähte, beigebraune Felder. Keine Farm weit und breit in Sicht, keine Tanke, nicht mal Kühe oder so. Nichts. Nur der Glaskasten und der Wind, der leise um seine Kanten zischelt. Sie ist natürlich leer - wie die gefühlten fünfundsiebzig Zellen, die wir vorher abchecken mussten. Ausgeweidet, kein Anschluss mehr unter dieser Nummer. Aus der Rückwand ragt nur noch ein einziges schwarzes Kabel raus, das jemand am Ende notdürftig mit Isolierband zugeklebt hat. Darunter hängt das Stahlblech, von dem einmal Telefonbücher runterbaumelten. Leere Telefonzellen - ein weiteres Zeichen der Zeit. Sign o' the Times. Großartiges Video von Prince übrigens, alles in der Schriftart Times gesetzt, natürlich. Einer von den Clips, die Lichtjahre besser waren als der Song selbst, so wie »Stay The Night« von Chicago, da, wo Cetera die ganzen Stunts macht. Die Anmoderation von Stefanie Tücking bei »Formel Eins« habe ich heute noch im Ohr. Wie Kamele, die sich um ein Wasserloch zusammenrotten, quetschen wir uns in den Minischatten, den die Telefonzelle wirft, und versuchen, nachzudenken. Sollen wir weitersuchen, oder gibt Nick endlich seine Fernsprechpläne auf? Das Sonnenlicht brennt seitlich durch die Fenster der Zelle und bricht sich in den Blasen, die die Leute mit ihren Kippen ins Plexiglas gebrannt haben. Nick kickt unmotiviert ein paar Schottersteinchen weg, natürlich ganz vorsichtig, damit seine guten Lederschuhe nicht kaputtgehen. Er rechnet wohl damit, bald wieder zu einem Bewerbungsgespräch antreten zu müssen.
»Ist das nicht schlimm?«, nuschelt er. Stop -Jammer-Time! In meinem Kopf dudelt unweigerlich der Loop von »Hammertime« los. Kein Zweifel, der Beifahrer legt gleich eine seiner gefürchteten Minuten-Depressionen ein.
»Was ist schlimm?«, erkundige ich mich. Nick zuckt mit den Schultern.
»Na, dass alle Sachen, mit denen wir groß geworden sind, langsam verschwinden: Telefonzellen, Straßenkarten, Fotoalben, Kassetten ... «
»... Neonschilder, Blitzwürfel, Testbilder, Lexika«, ergänze ich. Vielleicht geht sein Nostalgieanfall ja schneller vorbei, wenn ich ihm helfe, die Liste zu komplettieren?
»Genau.«
Der Beifahrer lässt seinen Kopf noch weiter nach unten sacken, reißt ihn dann aber plötzlich hoch, wie immer, wenn ihm was eingefallen ist.
»Weißt du, was das Aller-aller-aller-Albernste ist?«
Er zielt mit dem Zeigefinger pistolenmäßig auf mich.
»Nö.«
»Wenn die Kids heutzutage im Konzert bei einer Ballade ihre Telefone hochhalten anstatt eines Feuerzeugs. Das finde ich maximal albern. Das sind so die Momente, in denen ich das Gefühl habe, auf einem fremden Planeten zu leben.«
Tiefer Seufzer, sein Kopf fällt wieder auf die Brust zurück.
»Ständig muss man dabei zugucken, wie Sachen, ohne die man früher nicht leben konnte, einfach so verschwinden, abgebaut werden.«
Oha, jetzt kommt der Herr mal wieder richtig in Schwung. Stolz, als wollte er Modell für eine Marmorbüste stehen, reckt Nick das Kinn Richtung Highway, blickt versonnen in die Ferne und bindet sein Retro-Klagelied mit maximalem Pathos ab: »Wir sind die erste Generation, die ihre eigene Archäologie erlebt.«
Genug. Weißte was, Alter? Ich hab die Schnauze voll von dem Gesülze. Es ist bekackt heiß, mein Kopf brummt, weil wir kaum noch pennen. Meine Augen brennen, weil ich den Straßenrand nach Kameras und Cops oder Wem-auch-immer abscannen muss und du nudelst hier das ewig gleiche Früher-war-alles-besserBand ab. Irgendwann reicht es.
»Mal im Ernst, Alter«, gifte ich rüber, »wie oft hast du wirklich in einer Telefonzelle telefoniert?«
Erschrocken zuckt der Beifahrer zusammen.
»Weiß nich. Zwei-oder dreimal?«, tastet er sich vor.
»Genau! Weil entweder keine in der Nähe war, wenn man sie brauchte, oder weils da drin derart nach Pisse gestunken hat, dass man direkt wieder rückwärts rausgekippt ist. Niemand, ich wiederhole, niemand vermisst eine Telefonzelle wirklich. Genauso wenig wie jemand heute noch ein Testbild sehen will, das war doch nichts als faschistoide Unterhaltungsverhinderung. Außerdem habe ich auch keinen Bock mehr, eine halbe Ewigkeit im Brockhaus zu blättern, weil mir nie einfällt, ob >P< vor oder nach >S< kommt. Und erst diese verfickten Falk-Pläne, die man zwar immer auseinander-, aber nie wieder zusammengefaltet bekam - hör doch auf! Dem ganzen Scheiß weint doch niemand wirklich eine Träne nach. Es ist doch so, Alter: In Wirklichkeit war doch früher kaum was besser - außer uns selbst vielleicht!«
Nick stolpert nach hinten, sodass er zur Hälfte in der von ihm so gehassten Sonne steht. Dabei schaut er bedröppelt wie ein Hund, der gerade von seinem Herrchen auf dem Schotterplatz neben der Straße ausgesetzt wurde. Okay, war vielleicht 'n bisschen dick aufgetragen, aber es musste mal raus. Bewegungslos starrt mich Nick an. Angeblich reicht es ja aus, einem anderen Menschen drei Sekunden lang in die Augen zu sehen, um seine Seele zu erreichen. Diese Sekunden können verdammt lang sein, wenn es dein bester Kumpel ist. Durch seine Pupillen rasen die Daten zu mir rüber: Wie konntest du nur die Sache verraten? Was fällt dir ein, alles infrage zu stellen, was uns seit einem Vierteljahrhundert verbindet? War es nicht immer schön, das ganze Retro-Geschraube? War es nicht zutiefst erfüllend, das Schrift-ROM vom Cevi zu sockeln, damit alles in altdeutscher Schrift erscheint? Seine Augenlider flackern. Keine Frage, gleich wird er zum thermonuklearen Gegenschlag ausholen. Drei, zwei, eins ... Was ist das? Anstatt aus allen Rohren zurückzufeuern, wendet er sich ab und schlorrt zurück zum Wagen.
»Lass mal weitersuchen«, murmelt er, ohne sich umzudrehen. Vielleicht ist es wirklich zu heiß.