BONUSLEVEL
Jemand muss gestorben sein. Oder es brennt. Oder Nick kommt zurück. Steht mein Wagen im Halteverbot? Habe ich eine Frau so mies behandelt, dass sie um drei Uhr nachts mit ihrem neuen Freund und einem Baseballschläger vor der Tür steht? Vielleicht habe ich das Klingeln nur geträumt. DING-DANG-DONG. Okay, es war kein Traum, es hat wirklich geklingelt. Der elektronische Dreiklanggong plärrt noch einmal durch die Wohnung; dieser Chip sollte wirklich langsam verboten werden. Ich lasse mich vom Futon rollen und torkele den Flur herunter. Im Mund breitet sich dieser säuerliche Geschmack aus, den man immer nur dann schmeckt, wenn einen jemand brutal aus dem Schlaf gerissen hat. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes. Warum klingeln die überhaupt bei mir oben und nicht erst unten an der Haustür? Vielleicht wurde irgendwo eingebrochen, und jetzt wollen sie mich fragen, ob ich was gehört habe. Ich habe nichts gehört, denn ich habe geschlafen, und zwar ziemlich gut, weil mein Spaziergang nach all dem Weltumarmungs-Überschwang natürlich doch im Biergarten endete. Ich habe unter einer bunten Glühbirnenkette gesessen, vier Weizen getrunken und bin danach noch durch die schwüle Nacht zum Bahnhof geschlendert, um eine Scheibe Pizza zu essen. Es war schön. Richtig. Die Haustür unten stand ja offen, deshalb klingeln die direkt hier oben. Ich wanke weiter durch die Dunkelheit, traue mich nicht, das Licht anzumachen, aus Angst davor, dass man von außen durch den Spion etwas erkennen kann. Natürlich ist das Schwachsinn. Schließlich ertaste ich die Tür und stütze mich so sanft wie möglich mit den Fingerspitzen ab, um einen vorsichtigen Blick durch die Linse zu werfen. Im Gang steht ein Mann Anfang zwanzig, der krampfhaft versucht, seriös auszusehen, was in diesem Alter bedeutet: Er beißt die Zähne zusammen, damit die Kieferknochen an der Seite heraustreten und sein Gesicht markanter aussieht. Auch er hatte anscheinend nicht viel Zeit zum Anziehen, denn die Ärmel seines weißen Hemdes sind unordentlich hochgekrempelt und eine Hälfte hängt vorne sogar aus der Jeans raus. Er trägt weiße Nike Air mit blauem Swoosh, wahrscheinlich die Neuauflage aus den Nullern, und sieht insgesamt wie ein ziemlicher Klarmacher aus. Die Linse des Spions verzerrt sein Gesicht zu einem Pfannkuchen; einem Pfannkuchen, der sich nervös von links nach rechts dreht. Schließlich zieht der Blonde ein Blatt Papier hinter dem Rücken hervor und hält es direkt vor den Türspion. DATACORP Man kann die krakeligen Edding-Buchstaben gerade so erkennen. Sofort rast der Puls, und meine Hände fangen an zu zittern. Ich fummele die Sicherheitskette zur Seite und schließe auf. Das Licht im Flur brennt in mein Gesicht, und ich muss mich zusammenreißen, nicht wie ein Suffkopp. den man aus dem Koma geholt hat, die Hand vor die Augen zu halten. Ohne zu warten, bis ich mich gesammelt habe, oder mich überhaupt anzusehen, spult der Junge im Flüsterton seinen Text ab.
»Good morning, you have an appointment at the airport in ...«.
er blickt auf seine Taucheruhr, »fifteen minutes. The car is waiting outside. Anything you might need will be provided by our travel service. You have one minute to get ready«.
Damit hatte ich am wenigsten gerechnet. Dass es so schnell losgehen würde. Verdammt, hätte ich mir das Zeug auf dem Chip doch genauer durchgelesen, hätte ich es mir überhaupt durchgelesen! Warum kann ich nichts ernst nehmen? In genau fünfzehn Minuten bin ich geliefert, das wird die Blamage des Jahrhunderts, wenn die rausfinden, dass ich mich eben nicht mit allem »familiarized« habe. Wertvolle Sekunden vergehen. Der jugendliche Bote macht keine Anstalten, reinzukommen, sondern schaut nur nervös auf die Uhr. Er wirkt ein wenig überheblich, wahrscheinlich, eben weil er wie ein Klarmacher aussieht; oder es kommt mir nur so vor, was auch gut möglich ist, denn in letzter Zeit fühle ich mich in der Gegenwart junger Leute immer eine Spur minderwertig.
»Yeah,okay«, stammele ich und renne in die Wohnung. Neben dem Bett liegen noch zusammengeknüllt die alten Chinas, aus denen ich mich vor nicht mal zwei Stunden geschält habe. Ich steige also wieder in die Hose rein und versuche gleichzeitig, in die Chucks zu schlüpfen, die noch in den Hosenbeinen festhängen. Es klappt nicht. Die rechte Gummisohle verkeilt sich im Stoff, ich stecke fest, hüpfe auf einem Bein und kippe zurück aufs Bett. Verdammt. Nach endlosem Gefummel rutscht der Schuh endlich raus. Na endlich. Jetzt noch ein neues T-Shirt und die Jeansjacke aus dem Schrank, dann zurück in den Flur.
»Ready!«, verkünde ich stolz und ziehe die Tür hinter mir zu. Der Teppich dämpft das Knallen zu einem dumpfen Wupp ab. Keine Zeit zum Abschließen. lch fühle mich extrem schlecht angezogen.
»Ready«, quittiert der junge Mann mit einem leichten Wurde-auch- Zeit-Unterton. Wir rennen los, durch die immer noch offene Haustür raus auf die Straße und zum Wagen. Was für eine Enttäuschung: Ich hatte zumindest mit einem großen Benz gerechnet, einem Jaguar oder DeLorean. Aber was sich im Licht der Straßenlaterne da abzeichnet, sieht eher aus wie ein alter VW Passat, gekreuzt mit einem großen Alfa: eine Limousine im Design der späten Neunziger, eckig, unauffällig, langweilig. Seltsam, obwohl ich mich im heterosexuellen Mindestmaß für den Automarkt interessiere, könnte ich überhaupt nicht sagen, was das für eine Kiste ist, zumal Firmenembleme und Typenbezeichnungen abmontiert wurden. Nur das belgische Nummernschild am Heck des dunkelblauen Wagens funzelt durch das Zwielicht: AA - 23 Mein Chauffeur schwingt sich lässig hinters Steuerrad und hält mir die Beifahrertür auf. Ich steige ein. Okay, wahrscheinlich doch kein Passat, dazu fühlt sich das Leder des Sitzes zu weich an, so ein Alcantara gibt es in Wolfsburg nicht. Am Schloss des Handschuhfachs glitzert ein silberner Dreizack. Der junge Mann setzt so gewissenhaft wie bei der Fahrprüfung den Blinker, dreht sich kurz um und gibt Gas. Aus dem Motorraum grummelt es, dann macht der schwere Wagen einen Riesensatz nach vorne, und ein paar Sekunden später stehen wir auch schon an der Kreuzung zur Ausfallstraße. Definitiv kein Passat. Die Ampel springt auf Grün und wieder - zack - dieses Gefühl, als ob dich jemand auf dem Schulhof von hinten anschubst, nur eben sekundenlang. Ich muss grinsen. Mein junger Fahrer bleibt dagegen völlig unbeeindruckt: Zügig, aber ohne das Tempolimit um mehr als ein paar Stundenkilometer zu überschreiten, steuert er die Limousine durch den Speckgürtel der Stadt. Der McD-Drive-in, der BMW-Händler, drei Matratzenoutlets. Worauf haben die Leute in den Neunzigern nur geschlafen? Er scheint sich gut auf die Tour vorbereitet zu haben; ich bilde mir sogar ein, dass er die Ampelschaltungen kennt. Genau! Hier musst du Vollgas geben, sonst kommst du bei der nächsten Ampel nicht mehr bei Gelb rüber! Als ob er meine Gedanken hören könnte, gibt der Chauffeur Vollgas. Trotzdem quietschen die Reifen kein einziges Mal. Keine Frage, seine hochgegelten Haare müssen mal unter einem Integralhelm gesteckt haben.
»What kind of car is this?“, erkundige ich mich.
»Ninetynine ...«.
sagt der Junge, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, und nuschelt etwas hinterher, das klingt, als ob ein Angelino seinen geliebten Parmigiano Reggiano bestellt. Der Versuchung, mir die sicher beeindruckende PS-Zahl des Wagens unter die Nase zu reiben, widersteht er - anders als wahrscheinlich die meisten seiner Altersgenossen in dieser Lage. An der letzten Ampel vor dem Verteilerkreisel greift er nach hinten auf die Rückbank und reicht mir wortlos einen Minirechner rüber. Wie bei allem, was von der Datacorp kommt, wurden auch hier sämtliche Eigenschaften gründlich entfernt: Kein Logo auf dem taschenbuchgroßen Gerät verrät den Hersteller, kein Startscreen das Betriebssystem eines bekannten Konzerns. Nachdem ich den Bildschirm berührt habe, startet sofort eine Art Nachrichtenprogramm, das ebenfalls keiner kommerziellen Software ähnelt. Mit den grünen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund sieht es eher aus wie ein altes Terminalprogramm. Die strenge Optik kommt ohne knuddelige Icons, 3D-Effekte oder Buttons aus; das Ding könnte genauso gut die Steuerung für eine Cruise Missile sein. Die Nachricht beginnt mit einer Zeile, in der alles großgeschrieben ist: PROJECT: PIPE DREAM - MISSION BRIEF Gerade als ich sie antippen will, erreichen wir die Passage auf der Flughafenautobahn, wo das Tempolimit aufgehoben ist. Mit unbewegter Mine tritt mein Chauffeur das Gaspedal voll durch, und obwohl wir schon 120 fahren, fühlt es sich an, als würde der Wagen noch mal aus dem Stand starten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die orange glimmende Tachonadel die 240er -Marke passiert. Mit 210 gibt sich der hier nicht zufrieden, haha. Bevor ich mit der nächsten Pflichtlektüre beginne, fahre ich das Beifahrerfenster ein Stück runter und lasse mir noch mal kurz die laue Nachtluft um die Nase wehen. Es riecht nach Grillkohle, Becks und Benzin - nach einem dieser Abende, an denen selbst Nick und ich unsere Geekgrotten verlassen und uns darüber freuen, im T-Shirt auf dem Balkon sitzen zu können. Wir würden darüber reden, welche Filme wir schauen, wenn das Wetter wieder schlecht genug ist, um mit gutem Gewissen drinnen zu bleiben. Nick würde mit einer Info zur neuesten Tralala-Demo und dem soundso Emu aufwarten oder darüber philosophieren, mit welchem selbst gelöteten Kabel er seine 1541-Floppy an die allerneueste Rechnergeneration ranstöpseln kann; eine Wiederholung der Rods from God -Geschichte wäre natürlich auch möglich. Mir fiele mit Mühe und Not noch eine alte Arcade-Legende ein, zum Beispiel die von dem geheimen Schloss in Battlezone . Also: Wenn du mit deinem Panzer einfach immer weiterfährst, erreichst du irgendwann den großen Vulkan, den alle Welt eigentlich nur für eine Hintergrund-Deko hält. Und weißt da was: In dem Krater drin gibt es eine Burg, in der man wiederum herumkutschieren kann! Stimmt natürlich alles nicht, genauso wenig wie die Rads from God , aber spielt das im Ernst eine Rolle? Am Ende säßen wir einfach so da und würden auf den ersten Herbstwind warten. Es wäre ein verdammt schöner Abend. Vielleicht stimmt es, dass wir all die Jahre nur ununterbrochen auf die ganz große Escape-Taste gedrückt haben, aber keiner von uns würde jemals behaupten, dass es keine schöne Zeit war. Zum ersten Mal seit Grönland kommt mir der Gedanke, dass dieses Leben jetzt tatsächlich vorbei sein könnte. Habe ich die Tür zum Dorint vielleicht das letzte Mal zugezogen? Ist das der neue Alltag - in unauffälligen Limousinen durch die Nacht rasen, diskrete Memos überfliegen, altersdemente Rechner am Ende der Welt fixen? Die Dinge haben schon begonnen, sich zu verändern; am Schluss muss der Geschirrspüler eben doch auf den Schrott. Nur diesmal konnte ich vorher keinen Knopf abschrauben. Verdammt - wir sind in knapp zehn Minuten am Flughafen, dann wird das Chaos ausbrechen. Also zurück zum schwarzen Tablett und familiarizen, und zwar mit Vollgas. Schnell, schnell, die grünen Textblöcke nach den Schlüsselinfos scannen - oberflächlich Infos verdauen, endlich mal eine meiner Stärken. Operatives (UK/EU): undisclosed Add'tl O.: German Consultants, N.N. Weitere grüne Flächen rauschen vorbei, jede Zeile mit 40 Zeichen, genau wie beim Commodore PET. Target System:Robotron EC2640 Alles klar, keine Panik, ich bin ein Stückchen vom Haken. Der Robotron ist nichts anderes als der Nachbau eines IBM-Rechners aus der berühmten Bindestrichserie. wahrscheinlich eines /360, von denen habe ich zumindest schon was gehört. In den Sechzigern und Siebzigern konnte der Ostblock wegen irgendwelcher Embargos keine Computerausrüstung im Westen kaufen, und die DDR baute deshalb das damalige Spitzenmodell des kapitalistischen Erzfeindes einfach nach. Die Dokumente zum /360 habe ich mir kurz nach der Rückkehr aus Grönland durchgelesen - als ich noch wissbegierig war und jede Sekunde damit rechnete, in den Einsatz zu müssen. Da dürfte es keine Probleme geben mit dem Nachbau von drüben; zumal ich wahrscheinlich nur dabei bin, um ein paar deutsche Worte aus der Bedienungsanleitung zu übersetzen. Ich lehne mich zurück und scanne den Rest des Dossiers. Location: undisclosed, Airport: Bykovo (BKA) Klingt russisch. In den folgenden Textblöcken steht irgendwas davon, dass der Auftraggeber ein staatlicher Gasriese ist, der Probleme mit seinem Legacy-System vom kleinen sozialistischen Bruder hat. Was für Zicken der Mainframe genau macht, erklären sie nicht, überhaupt wimmelt das Dossier nur so vor vagen Angaben und Geheimhaltungsformeln wie »data suppressed due to confidentiality«.
Vielleicht haben sie mir wie üblich auch nur die Damenkarte gegeben, damit ich keinen Unsinn mit den Infos anstellen kann. Aus der Dunkelheit taucht die letzte Raststätte vor dem Flughafen auf, und mein Chauffeur steigt so heftig in die Eisen, als ob er weiß, dass da sonst immer der Radarwagen steht. Respekt, er hat sich gut vorbereitet. Um die Uhrzeit ist natürlich keine Kontrolle, und sobald das Tempolimit aufgehoben ist, geht es mit 280 Sachen weiter. Die paar anderen Autos auf der rechten Spur wirken bei dem Tempo, als hätten sie da geparkt. Sachen, was für ein herrliches Wort. Auf dem Schulhof hätten wir selbstverständlich »Stukis« gesagt, für »Stundenkilometer«.
Mit einem normalen Taxi sind es ab hier noch zehn Minuten, aber bei dem Tempo brauchen wir wahrscheinlich nur halb so lange. Ich bilde mir ein, schon den Kerosinduft in der Luft riechen zu können. Dürfen um diese Zeit überhaupt Maschinen starten? Nervös trommele ich auf dem grünen Pfeil rum, der den Text runterscrollt, schließlich muss ich wenigstens so tun, als ob ich ihn bis zu Ende gelesen habe. Irgendwann rasen die Zeilen so schnell vorbei, dass sich kaum noch ein Wort entziffern lässt. Die grünen Buchstabenkolonnen wollen kein Ende nehmen, und ich beschließe aufzugeben. Gerade als ich den Rechner in die Tasche stecken will, fällt mein Blick auf die letzte Zeile: Caution: Project may involve software obtained by Line Xpersonell.Shit, deshalb also die Eile. Von wegen EDV-Lustreise mit Retroflair. Line X, das heißt, der ganze Kram kann uns jede Sekunde um die Ohren fliegen. Nick hatte mir die Story schon ein paar Mal erzählt, aber weil das Ganze nach seinem üblichen Geheimgemunkel klang, hatte ich nicht genau hingehört. Hätte ich wohl besser, denn ausnahmsweise scheint an dieser urbanen Legende wohl was dran zu sein. Wie ging die noch mal? Also, der Kalte Krieg tobt, und die Russen merken, dass der Feind in Sachen EDV an ihnen vorbeizieht. Deshalb gibt der Kreml die Weisung aus, einfach Know-how beim Klassenfeind zu stehlen. Zunächst nimmt der Westen die Sache nicht ernst, obwohl er die Russen manchmal sogar beim Klauen erwischt: Einmal zum Beispiel fliegt ein Ost-Agent auf, weil er sich vor einer Führung durch die Boeing-Werke seine Schuhsohle mit Kleber einschmiert, um so Metallproben aufzusammeln. Anfang der Achtzigerjahre wird die Lage dann ernst: Ein russischer Überläufer spielt dem amerikanischen Geheimdienst Dokumente zu, die beweisen, dass diese Raubzüge im großen Stil ablaufen und systematisch organisiert werden - von einer Spezialsektion des KGB, die den Codenamen Line X erhält. Als Präsident Reagan davon hört, ist er außer sich vor Wut und beschließt, mit einem kühnen Plan zurückzuschlagen: Er weist die CIA an, ab sofort die Kolonnen der Line X beim Shopping gezielt zu unterstützen, und zwar mit sabotierten Produkten. Damit die Russen den Braten nicht riechen, lässt man zunächst die Technologie nur tröpfchenweise raus, später werden die Köder fetter. Erfreut greifen die Russen zu - und holen sich Tod und Verderben ins Haus. In einem besonders spektakulären Fall kauft die Line X Software ein, um damit Erdgasanlagen in der russischen Heimat zu steuern. Was die Kommunisten nicht ahnen, ist, dass die Amerikaner auch hier ein Gratis-Feature eingebaut haben - Bugs. Das Programm ist mit Fehlern gespickt, die Ventile und Rohrleitungen der Anlagen mit einem Druck belasten, dem sie nicht standhalten können. Im Sommer 1982 schlägt der Bug zu: Von der frisierten Software überlastet, explodiert eine Erdgasleitung in Sibirien und reißt einen Krater mit mehreren hundert Metern Durchmesser in die Tundra. Die Detonation ist so heftig, dass amerikanische Horchposten rund um die Welt sogar kurzzeitig glauben, die Russen hätten eine neue Atombombe getestet. Und zu so einer Anlage fliegen wir jetzt, oder zumindest schließt die Datacorp nicht aus, dass Teile der Anlage von den nichts ahnenden Agenten der Line X eingekauft wurden. Wir tappen in eine Falle, die die CIA vor einem Vierteljahrhundert gestellt hat. Wunderbar. Eigentlich könnte der Kollege am Steuer doch etwas langsamer fahren. Aber zum Umkehren ist es längst zu spät, wir sind schon von der Autobahn runter, und in der Ferne tauchen die Werbewände der ehemaligen Telefongiganten auf. Nach der kleinen Überraschung habe ich mir überlegt, noch ein paar Zeilen des Briefings zu inhalieren, aber der Text scheint einfach kein Ende zu nehmen. Bringt doch alles nichts; mein eingebildetes Improvisationstalent wird es schon richten. Ich zwänge das Handheld in die Brusttasche meiner Jeansjacke. jetzt ist es ohnehin zu spät. Die Touristenparkplätze verschwinden gerade in meinem Seitenspiegel. Anstatt den üblichen Weg zur Taxivorfahrt zu nehmen, biegt der Chauffeur scharf Richtung General Aviation ab - einen Abzweig, den ich nur vom Hörensagen kenne. Die Datacorp hat also eine Privatmaschine gechartert; der Auftrag scheint wirklich dringend zu sein. Noch zwei scharfe Kurven, dann nagelt der Fahrer den Wagen mit einer Vollbremsung direkt vor einen Schlagbaum; nur Zentimeter liegen zwischen Holz und Stoßstange. Lange Sekunden verstreichen, bis der Wachmann aus seinem Häuschen zu uns rüberschlurft und mit einer Taschenlampe ein Stück Papier anleuchtet, das hinter unserer Windschutzscheibe liegt. Er nickt kurz, kriecht zurück und lässt die Schranke hoch. Noch bevor der Schlagbaum richtig oben ist, gibt der Junge schon wieder Gas - langsam hat er es wohl wirklich eilig. Unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein, weil die Holzlatte so knapp über unser Dach zischt. Die souveräne Fassade meines Fahrers bröckelt: Er hat angefangen, seinen Kaugummi nervös durchzumahlen, während er den Wagen mit quietschenden Reifen um die Kurven prügelt. Krack, das linke Hinterrad streift einen Bordstein. Im Tiefflug geht es vorbei an den Sortierzentren der Expressdienste, den Hangars, den Parkpositionen der Billigflieger. Ich schaue mich noch einmal um und sehe auf dem Vorfeld eine alte Ju stehen, mit der am Wochenende Rundflüge über das Rheintal veranstaltet werden. Wollte ich immer mal mitmachen. Mit jedem Meter, den wir uns von den schützenden Terminals entfernen, wird der Bodennebel dichter. An der feuchten Luft merkt man, dass der Airport mitten in einem Moor liegt, auf künstlich entwässertem Boden. Schließlich sind nur noch die Piper und Cessnas der Sportflieger zu erkennen, die direkt unter den grellen Flutlichtscheinwerfern parken; alles andere verschwindet hinter einem schwarzen Vorhang. Dann haben wir unser Ziel erreicht: Auf der letzten Parkposition vor dem Stacheldrahtzaun, der den Flughafen von einem Feldweg trennt, steht unsere Maschine bereit - ein riesiger Privatjet, fast genauso groß wie Boeings der Lufthansa am Terminal C. Da der Pilot schon die Landescheinwerfer eingeschaltet hat, sind nur die Umrisse des Flugzeugs zu erkennen: eine schwarze, glänzende Röhre, die ihr Kinn arrogant aus der Nacht herausstreckt. Die Flügel recken sich weit nach hinten, wie bei einem Überschall-Kampfjet, der zum Angriff ansetzt. Als wir auf 20 Meter ran sind, geht der Blonde vom Gas - so, als ob er nicht will, dass ihn sein Chef beim Rasen erwischt. Wir scheinen erwartet zu werden: Im gleißenden Gegenlicht tanzen einige schwarze Flecken unruhig vor der Eingangstreppe hin und her. Da! Einer der Schatten hat unsere Ankunft bemerkt und rennt zu den anderen rüber. Sofort hetzt das ganze Grüppchen auf uns zu.
»Okay, that's it«, erklärt der Junge am Steuer, etwas überflüssig.
»Yeah«, sage ich wie immer und lächele noch mal kurz zu ihm rüber. Der Klarmacher nickt kurz; scheinbar ist er froh, den Termin doch noch geschafft zu haben. Durchatmen. Ich ziehe am Türgriff und trete in die feuchte Kälte hinaus. Plötzlich rast alles. Die drei Schatten stürzen auf den Wagen zu und umzingeln mich, eine Frau und zwei Männer. Der größere von ihnen, ein Mann Anfang sechzig mit einer Gleitsichtbrille, stellt sich vor, allerdings verstehe ich außer »Datacorp« nichts; sein Name geht im Dröhnen der Turbinen unter. Brav schüttele ich seine Hand, sage »nice to meet you«, obwohl auch er wahrscheinlich kein Wort versteht. Der zweite Mann ist ungefähr so alt wie ich und macht erst gar keinen Versuch, gegen den Lärm anzubrüllen, sondern lässt es mit einem stahlharten Handschlag bewenden. Schließlich die Frau: Anders als ihre Begleiter beugt sie sich leicht nach vorne, um sich vorzustellen, sodass ich zumindest ein paar Wortfetzen von ihrer Begrüßung verstehe.
»Jeppesen International Trip Planning. Just let me know if you need anything.«
Sie beugt sich zurück und fädelt eine Strähne ihrer dunklen Locken verlegen hinters Ohr, dann schaut sie die anderen Männer mit diesem Können-wir?-Blick an. Ich bilde mir ein, dass sie aussieht wie Andie MacDowell zu Zeiten von »Sex, Lies&Videotape«.
Umwerfend, vielleicht blendet auch nur das Gegenlicht. Ihr Boss nickt kurz und eilt auf das weiße Dreieck zu, das der Scheinwerfer am Bugfahrwerk auf den Asphalt zeichnet; wir marschieren hinterher. Jetzt fällt Licht in die Gesichter des Empfangskomitees. Beide Männer tragen einen dunkelgrauen Anzug, ohne Krawatte - das scheint bei der Datacorp die Kleiderordnung zu sein -, darüber einen beigen Staubmantel. Die Frau hat einen braunen Hosenanzug an und trägt unter dem rechten Arm eine kleine Aktentasche. Ich fühle mich mit meinem Marty-McFly-Look wie ein Student, der nur kurz zum Rasenmähen vorbeigekommen ist. Ob in ihrer Tasche eine Zahnbürste für mich drin ist? Andie schaut sich kurz um, als ob sie sicher gehen will, dass ich mich noch nicht abgeseilt habe, und lächelt. Okay, nicht ganz Andie MacDowell, aber trotzdem nett. Auf einmal bekommt der Einsatz einen völlig neuen Aspekt. Oder vielleicht auch nicht, denn das würde bedeuten, drei Stunden auf Englisch Konversation zu machen, da kann ich nur verlieren. Als wir an der Bugtür angekommen sind, hasten alle drei schnurstracks die Treppe rauf; sehr gut, sie denken, dass ich schon mal mit so einem Ding geflogen bin. Ich versuche, sie nicht zu enttäuschen, indem ich zügig das kleine Einstiegstreppchen erklimme, auf dem ein paar Tautropfen glänzen. Jetzt bloß nicht ausrutschen oder den Kopf stoßen! In der Kabine herrscht Hektik. Zwischen schummrigen Leselampen werden Mäntel herumgewedelt, Koffer unter den Sitz geschoben, Rechner hochgefahren. Ist doch etwas enger als in einer normalen Linienmaschine. In jeder Reihe steht links und rechts jeweils nur ein großer Ledersitz, dazwischen verläuft ein Gang, durch den man nur passt, wenn man sich ein bisschen zur Seite dreht. Niemand scheint es für nötig zu halten, mir, dem Außenseiter irgendwas zu erklären oder mich überhaupt zu beachten. Im Grunde genommen schmeichelt es mir, wie ein normales Mitglied des Teams behandelt zu werden; andererseits bedeutet das Befehlsvakuum. dass ich immer noch wie ein nicht abgeholtes Paket an der Tür stehe und wahrscheinlich ziemlich hilflos aussehe.
»Excuse me.«
Ein rothaariger Typ mit einem kurzärmeligen weißen Hemd quetscht sich wenige Zentimeter vor mir vorbei.
»Saunders, Royal Air Force, retired. You better buckle up, Sir. They've only got 2200 meters of tarmac in Bykovo«, sagt er und fügt lachend hinzu, »If it gets any shorter we'd have to take the Harrier«, Zack, und schon ist er hinter der Cockpit-Tür verschwunden. Nach einer langen Minute schließlich haben sich alle installiert - bis auf mich. Ich parke mit eingezogenem Kopf immer noch am Eingang, was langsam peinlich wird, da sich Andie mittlerweile direkt auf den Platz vor meinen Füßen gesetzt hat und die Spitzen ihrer schwarzen Ballerinas fast an meine Chucks stoßen. Ihr Gesichtsausdruck erinnert mich an den Blick meiner Schwester, wenn sie mir zu Weihnachten etwas ganz Tolles besorgt hat und ich gerade die letzte Schicht Geschenkpapier abpelle. Ob es ihm, dem Komplizierten, gefällt? lch lächele zurück und schaue mich in der Maschine um. Auf einmal wird klar, warum Andie mich so angesehen hat. Da sitzt er also, in seinem Sessel ganz am Ende der dröhnenden Röhre, die Beine lässig übereinandergeschlagen. als ob er nur gerade kurz zum Bezahlen in der Tankstelle war und darauf wartet' dass ich den Zündschlüssel rumdrehe und die Fahrt weitergeht. Geradeaus, immer weiter auf dem dunklen Highway. Nick, der Arsch. Sie haben ihn also auch einkassiert. Oder wusste er vielleicht schon früher Bescheid, und er hat die ganze Fahrt über nur gespielt? Nein, das könnte er niemals, dafür ist er ein viel zu schlechter Schauspieler. Sie müssen ihn in L.A. erwischt haben, oder vielleicht bei der Landung in Frankfurt? Ganz ruhig, Alter, kein Grund, uncool zu werden. Betont lässig zwänge ich mich von Reihe zu Reihe zu ihm durch. Er grinst wie ein Zehnjähriger, der seinen Vater dazu bekommen hat, ihm zu Silvester eine eigene Packung Knallfrösche zu kaufen. Mit jedem Zentimeter fällt es auch mir schwerer, mein Grinsen unter Kontrolle zu halten. Nick dagegen versucht gar nicht erst, lässig zu sein, sondern ruft schon über zwei Sitzreihen hinweg: »Station Commander. You will lead your commandos on a virtual suicide mission.«
Raid over Moscow , der Vorspann, er hat sich den Text gemerkt. Den ganzen natürlich. Ich zwänge mich durch die letzte Reihe.
»Good luck on your mission, Commander«, ergänze ich und halte ihm die Hand hin. Er steht auf und schlägt ein, mit dem Daumen nach oben. Geek-Wiedervereinigung.
»Schön, dass du dabei bist«, sagt er, und ich weiß, dass er es ernst meint.
»Dito«, antworte ich. Genug cool gewesen. Wir hauen uns gegenseitig auf den Rücken, und ich lasse mich in den Sitz neben ihm fallen, der so bequem ist wie einer dieser amerikanischen Fernsehsessel. Ich schaue rüber. Nick hat die Datacorp anscheinend mehr Zeit zum Anziehen gegeben: Mit dem leicht geöffneten schwarzen Hemd und der Nadelstreifenhose sieht er aus, als würde er bei einer Werbeagentur arbeiten oder irgendwo im Marketing. Genauer gesagt habe ich ihn in den letzten zehn Jahren nicht so gut angezogen gesehen. Auch mit seinen Haaren hat er irgendwas gemacht, sie wirken kürzer und ich habe den Verdacht, er hat sogar irgendein Styling-Produkt außer einem Kamm benutzt; man könnte jetzt sogar von einer richtigen Frisur sprechen. Von seiner Praktikanten-Aura ist nichts mehr übrig. Ob das Sabinas Werk war? Nein, dann sähe er verkleidet aus. Nick wirkt, als habe er zu keiner Zeit etwas anderes getragen. Ich hätte niemals gedacht, das einmal sagen zu können: Aber wie er da in diesem hellbraunen Ledersessel des Privatjets lümmelt, neben ihm die Armlehnen aus Wurzelholz, könnte man ihn glatt für einen Executive halten, für jemanden, der etwas bewegt. Fehlt nur ein wenig Grau in den Haaren.
»Dann lass mal hören«, mehr kriege ich nicht raus.
»Sagen wir mal so: Ich bin in L.A. nicht mal bis ans Gate gekommen. Auf dem Weg haben mich zwei nette Herren abgefangen und zu einer kleinen Reise in den Südwesten eingeladen. Mit der Janet Air ging es dann ins Traumland.«
»Was?«
Meint er womöglich ... Nick kommt meinen Gedanken zuvor.
»Lass es mich so sagen: Wir lagen all die Jahre ziemlich falsch, was S4 angeht. Alles halb so spektakulär«, sagt er und zwinkert mit einem Auge. Ich habe keine Ahnung, worauf er anspielt, bin mir aber sicher, dass alles mindestens doppelt so spektakulär ist, nur hat er jetzt keine Zeit, darüber zu reden. Noch nicht.
»Und Sabina?«, frage ich. Sofort legt er seine Stirn in Falten.
»Wir sind wieder zusammen. «
Dann merkt er, dass das im Grund genommen jetzt gar keine Rolle mehr spielt, und knipst sofort wieder sein Jungslächeln an.
»Aber sie muss sich wohl dran gewöhnen, dass ich öfter unterwegs bin.«
»Ja, sieht so aus, Alter«, sage ich, und wir beide lachen etwas verlegen. Dann stellt sich das übliche Schweigen ein, doch jetzt ist es wieder von der angenehmen Sorte. Es gäbe noch so viel zu sagen, doch nicht jetzt. Timing, die wahre Grundlage jeder Freundschaft. Mit einem leichten Ruck setzt sich die Maschine in Gang; durch das Fenster sind die Lichter der Startbahn in der Nacht zu erkennen, aufgereiht wie an einer Kette. Ich streiche mit dem Finger über das glänzende Furnier entlang der Armlehne; in der Mitte ist ein goldenes X eingelassen. Was da draußen wohl auf uns wartet, hinter dem Ende der Runway? Eine letzte Kurve, dann bremst der Pilot noch einmal bis zum Stehen ab; die Kabinenbeleuchtung geht aus. Und dann sagt Nick es, einfach so, als ob nichts dabei wäre.
»Guten Flug!« - ganz ohne »Alter«.
Ich drehe mich zur Seite und mustere ihn, so lange wie schon seit Jahren nicht mehr. Im Glühen der Notbeleuchtung funkeln seine Augenwinkel, und für eine Sekunde streift mich sein Blick. Es ist der Blick eines Menschen, der ehrlich versucht, alles richtig zu machen - etwas, das ich nie schaffen werde. Doch seltsamerweise war ihm das immer egal.
»Guten Flug, Nick«, sage ich. Voller Schub. Die Triebwerke wenige Zentimeter hinter unseren Köpfen fauchen auf. Erst langsam, dann immer schneller rasen die Runway-Lichter vorbei. Der letzte Hangar huscht vorbei, das rot-weiße Türmchen mit dem Funkfeuer, der Waldweg. Auf einmal verstummt das Rumpeln der Räder, und wir schweben. Guten Flug, Nick, guten Flug. Der Pilot drückt die Maschine in eine steile Linkskurve, und für eine Sekunde ist am Horizont im Osten ein hellgrauer Streifen zu sehen. Das erste Licht des neuen Tages. Niemals hätte ich gewagt, das so zu sagen, aber die Dinge sind gut. Wir sitzen im schnellsten Jet, den man ohne eigene Armee kaufen kann, Richtung Morgen. Auf dem Weg in eine Zukunft, die zum ersten Mal nicht in der Vergangenheit liegt und deren Helden nicht still und leise schon vor Jahren gegangen sind. Und zugleich ist alles so vertraut wie all die Jahre zuvor: Wir, nebeneinander an den Joysticks, bevor das Spiel wieder beginnt. Ein letztes Grinsen zum Nebenmann, ein letzter Witz. You have gained an extra life.
Ready, Player One?
Ready, Player Two?
Start.