#09 T-8: 02:24

Fuck - wer ruft denn mitten in der Nacht an? Und dann auch noch auf dem Festnetz. Das kann nur Mutter sein, kein anderer benutzt die Nummer noch. Wahrscheinlich steht am Sonntag wieder ein furchtbar harmonisches Kuchenessen mit BigSis, meiner Schwester, sowie ihren lieben kleinen Monstern an, Itchy und Scratchy. Dieses Gebrüte nimmt langsam echt überhand, alle Leuten denken, die Welt mit ihren Genen beglücken zu müssen. Naja, wenn die Kinder dabei sind, muss ich wenigstens nicht reden. Fuck - komme ja schon. Ich krame das Handset unter einem Stapel von Pizzakartons raus und schaue zwischen den Jalousien durch. Okay, es ist vielleicht nicht mehr ganz Nacht, eher so Mittag. Abheben.

»Hmja?«

»Morgen, Kee.«

Es ist Sabina. Seit fünf Jahren redet sie mich nur noch mit meinem Login-Namen an, wahrscheinlich, weil sie denkt, dass wir auf diese Weise auch total gute Kumpel werden. Dabei verstehen Frauen das Kumpelding grundsätzlich nicht, es ist ihnen sogar suspekt, weil sie nicht begreifen, dass zwei Menschen von der Wiege bis zur Bahre zusammen rumhängen können und in dieser Zeit nur so viel sprechen wie zwei Freundinnen an einem Nachmittag. Sabina klingt gut, wie immer. Ich merke, wie mir das Blut unter anderem in die Wangen schießt. Was natürlich eine total unprofessionelle und unangemessene Reaktion ist, schließlich a) ist sie die Frau meines besten und einzigen Freundes und b) liebe ich sie nicht auf sexuelle Weise, sondern eher so melodramatisch Jack-und-Rose-mäßig. Echt seltsam: Da hat man jahrzehntelange im Netz so ziemlich alles gesehen, was es Menschliches zu sehen gibt, von dem » 2 girls 1 cup«-Zeugs bis zu irgendwelchen kranken japanischen Tentakel-Penetrationen samt anatomischen Risszeichnungen. Eigentlich sollte ich abgehärtet sein. Aber nein. Es reicht immer noch, wenn irgendeine Dorfbratze kommt, mit der man vor fünfundzwanzig Jahren mal auf der Kirmes geknutscht hat, und schon ist man so hot wie ein Zwölfjähriger, der in Papas Bücherschrank »The Joy of Sex« von Alex Comfort entdeckt und kaum noch schlafen kann, weil er sich fragt: Warum haben nur Neandertaler Geschlechtsverkehr? So sahen die Hippies in den Illustrationen nämlich aus. Ich versuche einen professionellen Einstieg. „Hi Sabina, was kann ich für dich tun?«

Super, Herr Callcenter-Agent. Ach ja, und das Gespräch werde ich aus Gründen der Qualitätssicherung mitschneiden. So werden wir niemals Kumpel. Stille. Wahrscheinlich checkt sie gerade im Display, ob sie auch die richtige Nummer gewählt hat.

»Ja, äh, ich wollte fragen, ob du weißt, wo Nick steckt.«

Jetzt bloß schön objektiv klingen!

»Klar, im Büro«, verkünde ich. Ach ja, und er lässt fragen, ob es dir recht ist, wenn er die nächsten siebzehneinhalb Jahre in seiner Geek-Grotte von Quaxi-Fröschlis lebt und vor sich hinlötet, bevor er das nächste Mal wieder nach Hause kommt.

»Ach so, habe ich mir schon gedacht«, murmelt sie. Hast du nicht. Du hast dir Sorgen gemacht, wie eine gute Ehefrau das halt tut. Im Hintergrund fängt das Kind an zu schreien, so richtig abstechmäßig. Aus meiner Sicht ein hochwillkommener Anlass, das Gespräch abzukürzen: Ich quäle mir ein Grinsen ab, weil man das ja angeblich am anderen Ende der Leitung hört, und gebe mir richtig Mühe, wie ein guter Freund des Hauses zu klingen. So nennt man jemanden, der sich nicht mehr dabei erwischen lassen darf, wie er der Ehefrau des Hauses auf den Hintern stiert. Also: Mundwinkel hoch, Freund des Hauses!

»Ha ha, ich hör schon, da ruft jemand Kleines«, jubiliere ich. Puh, knapp vorbei geschlittert am Wort »Erdenbürger«, das wäre vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragen gewesen.

»Ja, stimmt«, sagt Sabina verlegen. Komm schon: Es ist noch nicht zu spät, den Sunnyboy raus zuholen. Gib dir einen Ruck, Kee, sei nicht so ein Idiot.

»Pass auf: Ich schau mal, ob ich ihn im Büro erreichen kann, und sag ihm Bescheid, dass er sich bei euch melden soll, okay?«

Na, geht doch.

»Das wäre nett«, sagt Sabina erleichtert, »okay, bis dann«.

»Ja, bis dann.«

Ich lege den Hörer auf die Basisstation und schaue raus. Der Ausblick ist derselbe wie seit fast zwanzig Jahren. Fuck, warum sind alle Jahresangaben mittlerweile zweistellig? Unter dem Balkon geht die verkehrsberuhigte Straße vorbei, auf der anderen Seite steht die Weide, noch weiter dahinter brutzelt die Sonne auf die Balkone des Seniorenstifts. Draußen gesessen hat da noch nie jemand, die Oldies mögen es ja nicht so warm. Sabina hat schon recht: Dass er sich gar nicht meldet, ist komisch.

»Die Brötchen mit auf die Tankrechnung?«, krächzt die nette MILF vom Tanken-Bistro. Ihre Stimme klingt so, als hätte sie früher die Durchsagen beim Autoscooter gemacht. Ein goldener Anhänger mit irgendeinem Sternzeichen baumelt über dem faltigen sonnenbankgebräunten Brustbein. Ich traue mich nicht, hochzugucken, weil ich dann wieder denke, dass sie aussieht wie Rod Stewart. Tja, Brötchen mit auf die Rechnung oder nicht? Das hat bestimmt eine fatale Wirkung auf meine persönliche Steuerbelastung, wenn ich jetzt das Falsche sage. Nick, wo bist du, wenn man dich braucht? Seit wir so richtige Angestellte sind, kennt er sich mit dem Steuerkram super aus. All die Jahre, in denen wir nur rumgehangen haben, hat er sich wohl nichts sehnlicher gewünscht als ein festes Anstellungsverhältnis. Damals waren wir ja überall nur Aushilfen, an der Uni, bei der Zeitung. Ich fand immer, dass es besser klang, wenn wir »Projektarbeiter« dazu sagten, aber Nick meinte, dass klänge zu sehr nach Scheitern.

»Die Steigerung von Losertum ist doch: Projekt - persönliches Projekt - obdachlos«, meinte er. Nein, er wollte es deutsch, solide und unbefristet. Nie wieder Aushilfe, Projektarbeit oder was auch immer. Und eine ganze Weile lang schien sein Traum zum Greifen nah.

»Moinsen!«, dröhnt es vom Eingang rüber. Vier Handwerker stapfen lachend auf den Bistroschalter zu. Alle tragen schwarze Overalls mit neonroten Warnwesten. Ihre fleischigen Unterarme sind tiefbraun gebrannt, aber nur genau bis zum Rand ihrer schwarzen TShirts, drüber sind sie kalkweiß, kann ich erkennen, als sich der Wortführer lässig an den Tresen lehnt.

»Also zweimal mit Schinken ...«, verkündet er fröhlich und etwas zu laut. Das sind so richtig gute Leute, kommen bestimmt gerade von irgendeiner »Montage«, they've got to install microwave ovens, oder so. Die Brötchen sind sicher schon ihr Mittagessen. Die haben zuhause bestimmt einen richtigen Esstisch und schaufeln sich nicht seit zwanzig Jahren ihren Fraß vor dem Fernseher runter. Ist aber nur eine Vermutung, denn so richtig normale Leute kennen wir ja nur aus der Ferne. Am Anfang sah es noch danach aus, als könnten wir auch bald dazugehören, zu den Werktätigen. Die Wendung war geradezu genial: Zwei abgebrochene Studis, die seit 1995 alle Updates verweigert haben, werden von der Datacorp engagiert, einem Megakonzern, der IT-Pflegefälle betreut. Ein großartiges, wenn auch leicht unverdientes Happy End, das unsere Helden für eine Mark da serviert bekommen haben. Beratervertrag, Obermittelklasse-Auto vom Fuhrpark-Service, Dienstrechner, alles von null auf hundert. Gestern noch abgehalfterte Computerkids, heute schon International Men of Mystery. Nick jubilierte. Er konnte es gar nicht abwarten, bis er sein erstes hellblaues Hemd - ohne Krawatte! - in die erste graue Flanellhose stecken konnte, um dann endlich so wie alle Kollegen bei der Datacorp auszusehen. Nicht, dass das irgendwo in unserem Vertrag gestanden hätte. Aber es gibt ja in jeder Firma diesen unausgesprochenen Dresscode, an den sich alle halten. Und geborene Mitläufer wie der Beifahrer können es natürlich überhaupt nicht abwarten, den Borg in die Arme zu fallen und sich assimilieren zu lassen. Bis vor ein paar Monaten der Scheiß anfing. Die Company, wie Nick sie immer nennt, veranstaltete auf einmal seltsame Sachen. Unsere Buden wurden verwanzt, unsere Rechner angezapft, am Schluss hielt uns irgendein Freak aus der Firma sogar seine Pistole an den Kopf. Major Tom hat die Sache später runtergespielt, so von wegen da sei wohl die »interne Konkurrenz« ein wenig aus dem Ruder gelaufen, und man habe sich längst von den »Troublemakern« getrennt. Doch eigentlich war spätestens da klar, dass der ganze Verein nicht koscher ist - John mal ausgenommen. Aber was sollten wir tun - den Betriebsrat anrufen? Ein völlig lächerlicher Gedanke, denn die Datacorp Ltd., die uns jeden Monat immer so brav unser Beraterhonorar überweist, ist völlig unfassbar. Außer Major Tom und zwei, drei subalternen Clowns wie Shaun kennen wir drinnen niemanden. Es gibt keine Telefonnummern, die man anrufen könnte, kein Verzeichnis der Niederlassungen, keinen Dienstweg. Okay, die Kohle kommt aus England, Andie von der Reiseabteilung arbeitet bei Jeppesen in Kalifornien, doch wo die Datacorp eigentlich sitzt, haben wir immer noch nicht raus gekriegt. Alles ist so hyperglobalisiert, so abgehoben, dass man das Gefühl hat, die Firma steht über allem. Auch über dem Gesetz. Selbst Nick musste irgendwann zugeben, dass mit seinem ach so tollen Brötchengeber was nicht stimmt. Seitdem brütet er ständig vor sich hin. Seine neueste Verschwörungstheorie ist, dass die Datacorp für die US-Regierung »dreckige Jobs« erledigt. Der diskrete Dienstleister für EDV-Notfälle, von denen die Öffentlichkeit besser nichts erfährt. Das klang ausnahmsweise mal plausibel. Andererseits kam diese Theorie von einem Mann, der denkt, dass in Roswell 1947 wirklich ein UFO abgestürzt ist - und zwar ein russisches, das von Kindern gesteuert wurde, die Adolf Mengele so umoperiert hat, dass sie wie Aliens aussahen. Zumindest war das sein Wissensstand letzte Woche.

Extraleben - Trilogie
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