LEVEL 05

»Für die Jahreszeit zu kalt.«

Seit Tagen beendet der Wettermann im Radio seine Vorhersage mit diesem bescheuerten Satz. Ja, wir haben Juni, ja, es gießt wie aus Kannen und das Autothermometer zeigt 15 Grad an. Aber streng genommen ist es nicht kälter als immer um diese Jahreszeit im Rheinland; Mitte Juni wird das Wetter zwischen Düsseldorf und Koblenz fies, da kann man die Uhr nach stellen, diese zwei Wochen Dauerregen kommen so sicher wie der Karneval. Trotzdem tun die Wettertypen immer so, als wenn niemand damit hätte rechnen können. Wir sitzen im Wagen Richtung Flughafen, und der Scheibenwischer läuft auf Hochtouren. Da Nick das Wetter grundsätzlich ignoriert, starte ich ein Gespräch über die deutsche Autobahn an und für sich. Dass das überhaupt ein Thema sein kann, fällt einem erst im Ausland auf, denn die ganze Welt liebt ja die Autobahn. Wo immer man auch landet, es ist überall das gleiche Spiel: Sobald rauskommt. dass man Deutscher ist, biegt das Gespräch unweigerlich auf die German Autobahn ein. Wie super das sein muss, so schnell fahren zu können, wie man will, mit dem Porsche, Mercedes oder BMW, zwischen all den Burgen und Schlössern und so weiter. Um die Dinge so romantisch verklären zu können, muss man wohl mindestens 2000 Kilometer vom Frankfurter Westkreuz entfernt wohnen.

»Das einzige halbwegs Romantische an der Autobahn ist der Rasthof Fernthal an der A3, und auch nur wegen des Namens. Der klingt nach Ferne, zumindest, wenn man sich das >h< wegdenkt«, sagt Nick. Ansonsten sei die Autobahn ja wohl der Inbegriff von deutscher Enge. Die gesamte Spießigkeit des Landes auf vier Spuren Asphalt konzentriert, kontrolliert von den sagenumwobenen 924-Porsches der Autobahnpolizei. in Schuss gehalten von der Autobahnmeisterei - übrigens eines der cooleren deutschen Worte. Ein unvermeidbares Übel auf dem Weg von A nach B. Da hat er nicht ganz unrecht, und wenn es irgendwo übel ist, dann hier, auf der A4 Richtung Holland. Nick hatte die glorreiche Idee, von Amsterdam aus zu fliegen, damit das Flugticket in die USA günstiger wird - an sich ein grober Verstoß gegen unsere Kein-Gespare-Regel. Deshalb beginnt unsere Reise ziemlich unentspannt damit, dass wir mit Tempo 80 im Kielwasser holländischer Lastwagen mitten durch die Hölle schwimmen. Seit dem fünften Semester sind wir fast jedes Jahr in die Staaten geflogen, oft mit zwei, drei Zwischenstopps, aber so würdelos hat noch kein Trip angefangen. Der Niederrhein ist im Prinzip ein grauer Tunnel. Ein grauer, langer Tunnel aus Regen, Doppelhaushälften und Schallschutzwänden, den wir möglichst schnell hinter uns lassen wollen. Ich versuche, nicht zu Nick rüberzusehen, weil ich weiß, wie hypernervös er hinter dem Lenkrad kauert, und dass er noch hektischer wird, wenn ich ihn anspreche. Warum er immer darauf besteht zu fahren? Vor dem Fenster rauschen gesichtslose Lagerhallen vorbei, die aussehen wie gigantische, vom Himmel gefallene Bauklötze. Ich kann die Worte des lokalen Wirtschaftsförderers förmlich hören: »Mitten im Herzen von Europa!«

An der Pforte zum Betriebsgelände steht sicher ein Mittfünfziger mit einem Schnäuzer, der einen dieser blauen Pullover mit aufgesetzten Schulterklappen trägt. Ein guter Deutscher eben. Zipp, aus braungrau wird hellgrau, eine Schallschutzwand rast vorbei, dann eine mit kleinen Buchen bestandene Böschung, die aussieht, als könne hier am helllichten Tag Schlimmes geschehen. Wir halten zum Tanken kurz an der Raste. Auf der Toilette steht ein Automat mit Kondomen der Marke Ramses Feuchtfilm . Unfassbar, dass es die noch gibt. Wenn ich mal Fernfahrer werde und meine nächste Tour über die Europastraße 55 nach Prag führt, würde ich mich genau hier eindecken. Ramses, das ist die Marke des modernen Gentleman. Wir biegen wieder auf die Autobahn ein, und Nick hibbelt weiter vor sich hin. Gut sechs Monate sind vergangen, seit wir in Raid over Moscow die geheime Botschaft entdeckt haben, ein weiteres halbes Jahr des perfekten Stillstands. Nachdem wir alles über Walter Day recherchiert hatten, ließen wir die Sache auf sich beruhen; das Thema war durch. Bis letzte Woche. Da hat sich Nick als Vorbereitung auf unseren neuesten Kreuzzug noch mal die mysteriöse Nachricht angeschaut und gecheckt, ob wir die Adresse auch richtig dechiffriert haben. Seitdem ist er wieder total high von der Aussicht darauf, eine große Verschwörung aufdecken zu können; er redet seit Tagen von nichts anderem mehr.

»Dass dieser Walter Day nichts mehr zu tun hat, ist kein Wunder. Schließlich bedeutet ein Highscore heutzutage einen Scheiß. Ich meine: In welchem Spielgenre oder welcher Szene geht es noch um Punktestände?«, sagt er, während er den Wagen aufgeregt von der linken auf die rechte Spur zieht. Ich starte einen aussichtslosen Versuch, die sicher anrollende Früher-war-alles-besser-Tirade noch aufzuhalten: »Was ist mit Rollenspielen? Da genießen die Spieler doch ein gewisses Ansehen, wenn sie Level-89-Zauberer sind, oder?«

Mit diesem schwachen Einwand hält sich ein echter Yesterday-Man natürlich nicht auf: »Sowas beweist nur, dass du a) dringend ein Privatleben brauchst oder b) einen armen Teenager im Perl-Flussdelta dafür bezahlt hast, dass er sich in deinem Namen das Zaubertralala zusammenklickt. Nee, nee, das Prinzip rage against themachine ist tot. Heute spielst du im Netz gegen irgendwelche anderen Menschen, oder schlimmer noch: mit ihnen.«

Na und? In meinen Augen ist Nicks Argument techno-autistischer Quatsch.

»Aber ist das nicht gut so? Streng genommen hat es doch keinen Spaß gemacht, sich diesen unendlichen Alienhorden in Galaxian entgegenzuwerfen. Kaum war eine Formation niedergemäht, kam die nächste noch schneller nach. Das war doch Frust auf Raten.«

Jetzt kommt Nick richtig in Schwung: »Darin liegt ja die wahre Größe! Man wusste von vornherein, dass es keinen Sieg gab, sondern nur die sichere Niederlage. Und trotzdem hat man gekämpft. Insofern war der Highscore der ultimative Triumph gegen die Aussichtslosigkeit. Dieses ganze fantasievolle Rollengespiele, all dieses Strategiegedöns und - Schauder - Teamwork beweist doch nur, dass den Leuten der Mumm fehlt, in den Abgrund zu schauen!«

Ich versuche, die Wogen ein wenig zu glätten: »Zumindest passte das Konzept Highscore in den Zeitgeist der Achtziger: die Überwindung der Maschine als Vorbereitung auf den Kampf gegen Skynet.«

Meine popkulturelle Einlassung verhallt ungehört.

»Kennst du >Butch Cassidy and the Sundance Kid<?«

Nick wartet vor Aufregung nicht einmal ab, bis ich zustimmen kann.

»An diesen Film könnte sich niemand erinnern, würden Redford und Newman am Schluss nicht mit feuernden Colts aus der Hütte rausrennen, obwohl draußen eine ganze Armee wartet! Aussichtslosigkeit macht Helden, und nichts ist aussichtsloser als ein so brutal überlegener Gegner wie eine Maschine. Außerdem sind Highscores was für die Ewigkeit; niemand kann Billy Mitchell mit seinem Pac-Man -Rekord jemals den Platz im Videospiel-Olymp streitig machen.«

In der Tat. Nick hat es wirklich geschafft, mit seinem diffusen Gerede unserer Reise etwas Sinn einzuhauchen. Ich lächele in mich hinein und drehe die an der Raste gekaufte Cola light auf. Kurz vor Aachen hört es auf zu regnen, und als unser Flieger in Amsterdam startet, kommt sogar für ein paar Minuten die Sonne raus.

Extraleben - Trilogie
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