#44 T-2: 04:26
Solange es irgendwie ging, haben wir den Rücklichtern der Wagenkolonne hinterher gestarrt. Doch irgendwann wurden sie vom Schwarz geschluckt, egal, wie sehr wir uns auch die Hälse verrenkten. Nick atmete aus, und zum ersten Mal, seit wir uns kennen, klang es, als sei auch das letzte bisschen Hoffnung aus seinem Körper entwichen. Die Rücklichter der Autos, das waren die Positionslichter eines Suchflugzeugs, das eine letzte Runde über unsere einsame Insel geflogen war, ohne unser Signalfeuer zu bemerken. Wir kauern in unserem aschgrauen rollenden Käfig und kippen im Rhythmus der Kurven von links nach rechts. John ist auf die Interstate nach Westen eingebogen. Das kann bedeuten, er will zur Pazifikküste, vielleicht nach Seattle. Wir sind die Strecke schon zigmal gefahren, es gibt keinen schnelleren Weg durch die Rocky Mountains, wenn man sich nicht über die Serpentinen der Pässe quälen will. Die Interstate hier oben ist eine dieser brachialen Schnellstraßen, die heutzutage keiner mehr wagen würde zu bauen: Ohne Rücksicht auf Dörfer oder Flüsse quetscht sich das Asphaltband auf Stelzen durch die früher einmal beschaulichen Täler. An manchen Stellen schrappt die Straße so dicht an den steilen Felswänden vorbei, dass immer wieder kleine Brocken auf die Standspur regnen. John ist kein Idiot. Er weiß, dass die Strecke das perfekte Revier für jeden jungen Highway-Bullen ist, der mal seine Radarpistole antesten will - kurvig, unübersichtlich und mit ständig wechselnden Tempolimits. Und wer erwartet schon um halb zwei nachts eine Kontrolle? Deshalb befolgt er penibel jedes Schild, bremst brav vor jeder Kurve runter, lässt jedes Auto, das auch nur halbwegs schneller ist, sofort vorbei. Nur nicht auffallen, so kurz vor dem Ziel. Ob wir wohl reden dürfen? Mal probieren. Ich stupse Nick an.
»Und?«
Kurz die Luft anhalten - nein, Johns Nacken zwei Reihen vor uns bewegt sich nicht; es scheint ihm egal zu sein, was wir machen, solange der Job erledigt wird. Seit wir eingestiegen sind, hat er kein Wort mehr verloren. Gespenstisch. Erstaunlich, wie konzentriert er fährt, und das ohne Schlaf. Wahrscheinlich hat er wirklich was eingeworfen, so wie die Typen in Gladbeck. Nick schüttelt gedankenverloren den Kopf, ohne seinen Blick von den Ausdrucken zu lösen. Von meinem Platz aus ist nur eine Wüste aus zweistelligen Hexadezimal-Zahlen zu erkennen, völlig unverständlicher Salat. FB 12 BB FB 34 AB OB DO CD 7B 3B 76 30 00 oder so.
»Alter, wo soll ich anfangen?«, murmelt Nick resigniert. „Ich hab doch keine Ahnung, was für ein Prozessor in einem Spionagesatelliten aus den Achtzigern steckt! Oder was so ein Fluglageprogramm macht.«
Okay, dann sollte ich ihn besser nicht weiter stören. Wie schön wäre es, in diesem Moment etwas beitragen zu können, einen »sachdienlichen Hinweis« geben können, wie es bei Ede Zimmermann immer hieß? Doch mir bleibt nichts zu tun, als aus dem Rückfenster zu schauen, auf das erste Grau des Morgens am Horizont zu warten - und darauf, dass Nick eine zündende Idee hat. Ich bin nur noch der Beifahrer des Beifahrers, absolut nutzlos. Im Prinzip war mir schon immer klar, warum sich Nick mit mir abgibt: weil er durch und durch Nostalgiker ist. Für ihn kann das einzig Wahre nur in der Vergangenheit liegen. Er will die alten Rechner, die alten Charthits, die alte Flamme -und den alten Freund. Ich gehöre zum Betriebssystem seiner Jugend und bin deshalb unersetzlich. Was John wohl bei der Sache verdient? In meinem Kopf ist der Deal ganz simpel, wie eine Story aus einem alten Jerry-Cotton-Heftchen - eigentlich die einzige Prosa, der ich mit meinem Vorabendserien-Gucker-Hirn immer problemlos folgen konnte. Also, John sagt: »Liebes NRO, klar besorgen wir euch die prähistorische Software, die euer Satellit braucht. Und sicher, wir entfernen auch die Fehler. Allerdings nur, wenn vorher eine Summe X auf meinem Konto bei der Great Caiman Bank eingeht.«
Dann bringt er die Idioten aus Germany dazu, das Tape auszulesen und das Debugging zu übernehmen. Und damit die auch bis zum Schluss mitspielen, nimmt man die Familie des Superhirns ins Visier, als Druckmittel für Notfälle. Elegant, das passt wieder. Schließlich würde sich ein weißer angelsächsischer Protestant wie Major Tom niemals dazu herablassen, so etwas Unkultiviertes zu tun wie uns eine Waffe an den Kopf zu halten, um zu kriegen, was er will. So was tun nur Proleten aus Gladbeck. Natürlich gäbe es einen ganz einfachen Weg, diese Sache hier zu beenden, doch das würde selbst Nick mir niemals verzeihen. Auf einmal wird der Beifahrer unruhig. Er sortiert hektisch die zweite Seite nach oben, dann die dritte, dann holt er wieder die erste nach vorne, so, als vergleiche er die Zahlenkolonnen miteinander. Je mehr er raschelt, desto schneller wippt sein Knie auf-und ab. Klare Sache, er wittert was. So aufgekratzt war er das letzte Mal, als die ersten Szenen aus »Episode 1« im Netz auftauchten und auf dem Cover von Wired stand: »Believe the Hype!«
Hoffentlich wird die Enttäuschung diesmal nicht so schlimm. Er zögert nochmal kurz, dann schiebt er die erste Seite der Ausdrucke rüber.
»Alter, das isses!«, platzt er heraus. Irgendwas scheint ihn so aufzuwühlen, dass er sogar vergisst, weiter in Beichtstuhl-Lautstärke zu reden. Johns nass geschwitzte Nackenfalte zuckt beim überraschend lauten »Alter« kurz, doch er dreht sich nicht um.
»Was ist was?«, flüstere ich rüber.
»Der Code! Ich weiß, für welchen Prozessor der ist. Das gibt's ja nicht ...«
»Spuck's aus.«
»Erinnerst du dich noch an die RCA Studio II?«
»Diese Schimmel-Konsole, auf der ich im Büro zocken musste?«
»Diese klassische Konsole, auf der du zocken durftest.«
Er scheißt wieder klug, das macht Mut.
»Und was ist mit der?«
Er fährt sich mit der Hand durch die fettigen Haare und stammelt los.
»Also, die funzte ja nicht richtig, und deshalb habe ich mir mal den Code angeschaut ... und äh ... jedenfalls steckte in der Konsole ein RCA-1802-Prozessor, und die Op-Codes in dem Spiel, die sahen genau aus wie das hier.«
Sein Zeigefinger trommelt auf eine der Zahlenreihen. Halt, halt, halt -Bullshit-Alarm.
»Alter, du willst sagen, dass ein Multimillionen-Dollar-Satellit, der so groß ist wie ein bekackter Bus, von einem 8-Bit-Chip aus einer Billig-Spielkonsole gesteuert wird?«
»Exakt!«
Der Beifahrer verschränkt die Arme trotzig vor der Brust, als wäre er ein Rapper aus den Neunzigern. Er gibt die Trotzpose aber sofort wieder auf, weil er weiter aufgeregt auf das Papier klopfen muss.
»Sooo unwahrscheinlich ist das nicht: Die Nasa hat in ihre Galileo-Sonde auch 1802-Prozessoren eingebaut - kein Scheiß! Die verbrauchen halt superwenig Strom und außerdem sitzen die Transistoren so weit auseinander, dass ihnen die kosmische Strahlung nichts anhaben kann. Und diese Silizium-Dinosaurier haben wun-der-bar ihren Job gemacht, bis die Sonde 2003 kontrolliert in den Jupiter gecrasht wurde. Ach ja, und die Flugsteuerungssoftware hat die Nasa auf einem IBM programmiert, das passt also auch.«
Gehen ihm jemals mal die Totschlagargumente aus? Es muss doch irgendwas geben, das gegen diese total hanebüchene Theorie spricht?
»Aber reichen die paar Byte aus, um so einen Koloss zu steuern?«, gebe ich mal wieder zu denken, »Sind dafür nicht total komplizierte Triangulationen oder was weiß ich nötig?«
»Ja klar.«
Nick legt den Kopf schief, als ob er den Gedanken einmal durchs Hirn sickern lassen will.
»So 'n Satellit ist mit Sensoren vollgestopft. Einer checkt die Position der Sonne, ein Sextant überwacht die Stellung der Sterne, dann gibt's noch einen Radar-Höhenmesser, und sobald die Systeme merken, dass der Satellit von seinem Orbit abweicht, springen kurz die Steuerdüsen an. Werden mit Hydrazin befeuert, ziemlich giftiges Zeug.«
Leichtes Kopfschütteln.
»Ja, ja, klar ist das alles kompliziert, aber wir haben ja hier auch nur ein kleines Bröckchen Software, die irgendein Subsystem steuert, das ...«
Oh Gott, wenn ich nicht dazwischen gehe, labert er weiter bis Seattle.
»Machs kurz: Kannst du das Programm entziffern und den Fehler rausmachen?«
Nick wirft die Stirn in Falten und blättert nochmal alle Seiten durch.
»Hm, denke schon. Ich habe damals im Büro natürlich nicht alle Prozessor-Op-Codes nachgeschlagen, vor allem, weil ein gewisser Herr meinte, dass das ja total überflüssiges Wissen sei und ich das nieeeeee wieder im Leben bräuchte ...«
Ich könnte kotzen, er könnte kotzen, alles ist wieder im Lot.
»Ja, blabla, dann fang mal an«, bügele ich ihn ab. Manchmal braucht er einfach eine ordentliche Tasse Shut-the-fuck-up. Vermutlich denkt er über mich in diesem Moment genau dasselbe, jedenfalls biegt sich sein Mundwinkel ein bisschen hoch, als er einen Kuli aus seiner Hosentasche fischt. Dann fängt er an, auf der Rückseite der Ausdrucke wild rumzukrakeln. Soll er mal machen. Ich spüre das eckige Gehäuse meines Telefons in der Hosentasche. Wenn er bis zum Sonnenaufgang den Bug nicht gefunden hat, ist es Zeit, den Joker zu ziehen. Sorry, Sabina.