#49 T-1: 19:58

Auf einmal geht alles schnell. John zieht den Van hektisch auf die Abbiegespur rüber. MILITARY AREA steht auf dem Schild vor der Ausfahrt, wo normalerweise FOOD, LODGING oder der Name des nächsten Orts vermerkt ist. Wir donnern mit über 50 Sachen die Rampe runter, viel zu schnell, Mann! Der Wagen fängt an zu schlingern, Nick kippt zur Seite und kann in letzter Sekunde den Haltegriff schnappen; die Ausdrucke flattern in den Fußraum. Endlich, John tritt auf die Bremse. Scharfe Rechtskurve, dann gibt er sofort wieder Vollgas. Was soll der Scheiß? Das ist genau die Art, auf die man sich einem militärischen Checkpoint nicht nähern sollte. Die Navy Seals ballern doch sofort los, wenn einer so angerast kommt. Und mit Sicherheit schieben da die Navy Seals Wache, allein schon deshalb, weil in unserer Vorstellung die amerikanische Armee ausschließlich aus knallharten Spezialeinheiten besteht. John umkrampft das Lenkrad. Seine Fingergelenke sind schon ganz weiß, weil er so fest zudrückt. Er dreht den Kopf halb zur Seite und schreit zu uns nach hinten.

»Sie bleiben im Wagen, egal, was passiert!«

Immerhin kramt er zur Feier des Tages wieder sein Deutsch raus; bei ihm ist das immer ein Zeichen dafür, dass er die Fassung zurückgewinnt. Der Asphalt sieht auf einmal neu und pechschwarz aus, als wäre er gestern erst ausgerollt worden. Dabei führt die Straße durch die totale Leere. Das riecht nach verbrannter Staatsknete, und zwar reichlich. In der Ferne ist die Bodenstation zu erkennen. Eine graue Baracke, umringt von vier Antennen, die gleichmäßig über die Talsohle verteilt wurden. Drei Antennen stecken in solchen weißen Kugelgehäusen, die aus Dreiecken bestehen, so im Buckminster-Fuller-Stil. Die vierte, eine Parabolantenne, ist so hoch wie vier Baracken übereinander und zeigt nach Nordwesten. Selbst auf die Entfernung sieht sie gigantisch aus, so groß wie das Radioteleskop, das wir mit der Schule mal besucht haben. Links und rechts schirmen baumlose Hügel die Installation gegen neugierige Blicke ab. Wie immer, wenn er sich etwas Militärischem nähert, geht Nick einer ab.

»Alter! Ist 'ne Echelon-Station, damit belauschen sie die Kommunikation über dem Pazifik. Wusste gar nicht, dass von da aus auch die Satelliten gesteuert werden.«

Er ist so aus dem Häuschen, dass er zusammen mit diesem Hinweis noch ein paar Tropfen Spucke in mein Ohr abfeuert. Wenn er Netz hätte, würde er diese Neuigkeiten sicher sofort den anderen Paranoikern mitteilen, selbst wenn es das Letzte ist, was er auf dieser Erde machen könnte. Aber vielleicht gibt's ja noch eine andere Erde, auf der dunklen Seite des Mondes oder so. Hatte er nicht mal so was erwähnt? Schon seltsam, unsere Begeisterung für den militärisch-industriellen Komplex - dabei haben wir ja nicht mal gedient! Aber vielleicht ist es gerade das: Wir müssen kompensieren, dass wir nicht selbst MG schießen durften. Beim Thema Militär sind wir wirklich schizophren: Uns ist völlig klar, dass das ganze Zeug massive Geldverschwendung ist, dass damit Kinder in die Luft gesprengt werden und im Prinzip nur Jocks Waffen gut finden. Theoretisch. Trotzdem kriegen wir in der Nähe von Sperrgebieten vor Aufregung feuchte Hände, vor allem, wenn da irgendwas passiert, in dem das Wort »stealth« vorkommt. Deshalb war ja auch die ganze Rambo-Sache so geil. Eine Hälfte des Hirns mahnte ständig »Das ist Müll«, aber die andere kreischte uns ins Ohr »Pfeile mit Explosivspitze! Kann Scheiße in die Luft sprengen!«.

Militärkram findet sich natürlich leicht geil, wenn der engste Kontakt, den man jemals zum Krieg hatte, eine Runde River Raid auf dem Commodore 64 war. Das Ende der Straße kommt näher. Ein Zaun, ein kleines Wachhäuschen, ein Wald aus grellroten Warnschildern. USE OF DEADLY FORCE AUTHORIZED. An dieser Stelle würden wir normalerweise umdrehen und den Höhepunkt eines weiteren Zaun-Abenteuers zelebrieren: Teleobjektiv raus, Foto von Zaun und Warnschild schießen, mit etwas Mut würde Nick sogar den Typen in seiner Tarnkombi knipsen, der gerade aus dem Wachhäuschen kommt! Nicht gut, nicht gut, er hat seine Maschinenpistole schon im Anschlag. Hat John ihn auch gesehen? Ja, er hält an.

»Die Printouts bitte«, sagt er, den Arm nach hinten ausgestreckt. Seit seinem Ausraster gestern Abend ist sein Ton Minute für Minute höflicher geworden, er zwängt sich wieder in seine alte Gentleman-Haut zurück. Nick rafft die Ausdrucke hektisch zusammen und setzt aus den Tiefen des Fußraum zu einer längeren Erklärung an.

»Äh, yes, I added some comments on how to ... «

»I'm sure they will appreciate it«, beruhigt ihn John mit leicht gelangweiltem Unterton. Er rafft die Papiere aus Nicks Hand und steigt aus. Einfach so, ohne den Wagen auszumachen oder seinen Mitarbeitern des Monats mitzuteilen, was sie jetzt tun sollen. Und am Handschuhfach war er auch nicht mehr. Es ist Punkt zehn. Wir sitzen da und lauschen dem Motor. Okay, jetzt oder nie. Also die Optionen durchspielen. Möglichkeit eins: Wir steigen aus, holen uns vorne aus dem Handschuhfach Johns Waffe und laufen so schnell weg, wie es geht. Mit seinem Gehumpel holt er uns niemals ein. Dagegen spricht: Falls er wirklich in Deutschland einen Agenten auf Sabina angesetzt hat, braucht er nur sein Telefon rauszuholen und ihm das »Go« zu geben. Nicks Leben wäre zerstört. Bleibt nur Möglichkeit zwei: Ich schalte das Telefon ein, die guten Jungs von der Firma - falls es die noch gibt - orten uns und rufen die Bullen. Und die Cops greifen so schnell zu, dass John keine Zeit mehr bleibt, zu telefonieren. Klare Entscheidung, Option zwei: Wenn wir ein Notsignal absetzen wollen, dann ist der Moment gekommen; John braucht mindestens eine Minute bis zum Schlagbaum, für den Rückweg nochmal so lange. Ich ziehe mein Telefon halb aus der Tasche, sodass der Beifahrer es gerade sehen kann.

»Alter?«

Nicks Pupillen gleiten kurz drüber, er scheint überhaupt nicht überrascht zu sein. Klar, Mister Spock hat nicht nur auf die Papiere gestarrt, sondern wie immer im Interrupt alle Fluchtmöglichkeiten durchgespielt.

»Okay.«

Seine Stimme klingt weder resigniert noch euphorisch. Das »Okay« scheint für ihn eher eine Feststellung zu sein, eine logische Schlussfolgerung. Ich drücke auf den Power-Knopf, PIN rein, Eingabe. Noch ein paar Sekunden, und die Datacorp weiß wieder, wo wir sind. Höchste Zeit, den Beifahrer aufzuklären.

»Ach ja, John hat vorne eine Glock im Handschuhfach; habe ich gesehen.«

Nick sieht kein bisschen überrascht aus.

»War doch klar.«

Er schaut auf mein Telefon.

»Isses an?«

Ich nicke. Er lehnt sich zurück.

Extraleben - Trilogie
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