#05 T-8: 14:34
Wir sitzen in unserem Auto ohne Eigenschaften und rollen schweigend durch die Nacht. Jeder ist damit beschäftigt, zu vergessen, was er gesehen hat. Inzwischen regnet es ein bisschen weniger, sodass Nick sich hinterm Steuer halbwegs entspannen kann. Er lenkt nur noch mit einer Hand. Wir gondeln über die gleichen Straßen, die wir schon zu Schulzeiten entlanggefahren sind - auf dem Weg zu Partys, bei denen Flaschendrehen gespielt wurde, Frauen mit Blue-Curacao-O-Saft abgefüllt wurden, und die damit endeten, dass man in den Vorgarten von irgendwelchen Eltern göbelte. Das Schlimmste daran war immer der soziale Schaden, der ließ sich nicht wegwischen. Mit der Göbelei versaute man sich nämlich die letzten Chancen bei dieser süßen Soundso, deren Vater, wie fast alle hier, beim Bund schaffte und der seine Familie gerade im Reihenhaus nebenan einquartiert hatte. Trotzdem 'ne entspannte Zeit. Wenn damals von »Zukunft« die Rede war, meinte man maximal den nächsten Freitag. Schön, mal wieder an all den bekannten Ecken vorbeizukommen: Da vorne, da kommt gleich der alte Bahndamm, oder, Alter? Da haben wir immer die Pfennige auf die Gleise gelegt, um sie vom nächsten Zug platt walzen zu lassen. Und in das Feld gleich dahinter hat Holger seinen Kadett gesetzt, weil er »einem Kaninchen ausweichen wollte«, wie er verkündete. Haha. Oberamtsstrack war er natürlich. Eigentlich könnte man sagen, dass die Gegend hier unsere Heimat ist, aber das wäre ein ziemlich großes Wort, und vor großen Worten haben wir, das letzte Aufgebot der Generation X, ziemlich viel Angst. Nick hat die Ecke deshalb mal »das alte Land« getauft. Damit meinte er natürlich nicht dieses echte alte Land - das ist ja oben in Hamburg oder so, sondern eben dieses kleine Stückchen alter BRD, auf dem wir groß geworden sind - in einer Zeit, als es so was wie die BRD noch gab. Das alte Land, das lag irgendwo zwischen einer kleinen Stadt in Deutschland und Adolfs Westwall und war damals weltpolitisch verdammt wichtiger Boden. Wie immer, wenn er sich selbst beruhigen will, fängt der Beifahrer an, aus dem nuklearen Nähkästchen zu plaudern.
»Wusstest du ... «
Nein, wusste ich nicht, ich wusste noch nie etwas, das nach diesen Worten kam.
» ... dass die Amis drüben auf dem Fliegerhorst noch startbereite Atomraketen lagern?«
»Echt?«
»Ja, zwanzig Stück, die liegen da seit den Achtzigern. Gespenstisch, oder?«
»Hm«, pflichte ich brav bei. Er hat mal wieder seine Lieblingsplatte rausgekramt - den Song vom Kalten Krieg, der eigentlich noch lauwarm vor sich hinköchelt. Und im Prinzip hat er ja recht: Wenn man genau hinsieht, gibt es überall noch diese kleinen Relikte aus der Zeit, als der Feind noch im Osten stand. Wer heute zum Beispiel ein GPS-Gerät verkaufen will, ist immer noch gezwungen, eine kleine technische Sperre einzubauen: Sobald sich das Gerät schneller als mit 1.900 Kilometern pro Stunde bewegt oder höher als 18.000 Meter fliegt, muss es sich abschalten. Warum? Damit keiner das Teil benutzen kann, um seine eigene ballistische Interkontinentalrakete zu basteln. Die Regel haben die Amis Anfang der Neunziger durchgedrückt - und sie gilt bis heute.
»Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gleich verteilt«, hat William Gibson mal gesagt. Genau das Gleiche gilt für die Gegenwart, sie ist auch noch nicht gleichmäßig verteilt. Da ihm keine Anschluss-Story zu der Atomraketensache einfällt, bindet Nick das »Gespräch« mit einem seiner Lieblingssätze ab.
»Tja, irgendwo ist immer noch 1989 ... «
Wobei das ja nicht unbedingt was Schlechtes ist. Wir verdienen schließlich unser Geld damit, dass es diese kleinen Vergangenheitsinseln gibt. Legacy Systems Support ist der offizielle Name für das, was die Datacorp tut. Die Company kümmert sich um all die antiken Rechner, die still und heimlich die Welt am Laufen halten. Und von denen gibt es verdammt viele: In New York zum Beispiel erledigen noch immer IBM-Rechner aus den Sechzigern die Lohnbuchhaltung im Rathaus. Oder dieses Radioteleskop da oben in England - das wird von BBC Micros aus den frühen Achtzigern gesteuert. So richtig angestaubt ist der ganze Scada-Kram, die Computer in Kläranlagen, Umspannwerken und Plutoniumfabriken. Die haben oft schon Jahrzehnte auf dem Buckel, und wenn man diese Oldies nicht ab und zu mal beatmet, rauchen sie ab, was nicht weniger als TEOTWAWKI bedeuten würde. Eine von Nicks Lieblingsabkürzungen: The End Of The World As We Know It - das Ende der Welt, so, wie wir sie kennen. Hat er wahrscheinlich in den Verschwörungsforen aufgegabelt, in denen er immer rumhängt. Oder von R.E.M. geklaut. Kritische Altsysteme warten - das ist unser Job, und er klingt erst mal ziemlich staatstragend. Doch in Wirklichkeit ist der Job bei der Datacorp eine nicht enden wollende Abfolge von Kleinscheiß - zumindest die Aufträge, die bei mir landen. Es läuft immer auf das Gleiche hinaus: Der Paketbote knallt irgendeinen Dinosaurier in Blasenfolie vor meine Tür. Ich soll die Daten rausholen und dem Besitzer in einem zeitgenössischen Format rüberschieben. Data Retrieval steht dann in Johns Auftrag an mich - falls er sich überhaupt die Mühe macht, für die Sache selbst eine Tastatur zu berühren. Letzte Woche zum Beispiel kam ein alter Mac rein, von irgendeiner Bude aus dem Mittelwesten, eine Metallschleiferei oder so. Die schoben Panik, weil auf einer ihrer Festplatten total wichtige Konstruktionspläne waren, aber keiner sie da runterkriegte. Kein Wunder, auf der Kiste lief OS 5! Das kam in dem Monat raus, als Sabrina mit »Boys, boys, boys« die deutschen Charts stürmte - ein Stück, an das wir uns wohl noch auf dem Totenbett erinnern werden, genauer gesagt: an dessen Video wir uns noch auf dem Totenbett erinnern werden, genauer gesagt: an die Szene, in der Sabrina im Pool auf und ab hüpfte. Eine prägende Erfahrung für alle Jugendlichen mit Masturbationshintergrund. Den völlig irrelevanten Teil, also die Mucke, gab's auf dem Cevi damals sogar digitalisiert. Okay, der Mac-Job jedenfalls war ziemlich banal: einen alten Apple Cube aus unserem kleinen Rechnerarchiv holen und die Festplatte von den Amis anschließen, über SCSI natürlich. Dann die Daten auslesen, zwischendurch noch das passende alte MiniCAD-Programm besorgen, zack, und schon waren die Konstruktionspläne als Grafik exportiert. Fertig. Nick hat es besser. Er darf ab und zu das große Rad drehen. Den haben sie zum Legacy Systems Consultant befördert, und das bedeutet, er darf bei den wichtigen Government Contracts mitmischen. Das sind die fetten Regierungsaufträge, bei denen es immer gleich um Milliarden geht. Die Kohle kommt vermutlich aus den schwarzen Budgets, mit denen die U.S.-Regierung ihre Geheimprojekte finanziert. Genauer weiß ich's nicht, denn seit wir bei der Datacorp arbeiten, darf mir mein Kumpel so gut wie nichts mehr erzählen. Doch ich spüre, dass er bei diesem Auftrag mit dem Tape sein Schweigen brechen muss. Auf seine typische Nick-Art schneidet er ohne Vorwarnung ein völlig neues Thema an.
»Warum ruft John gerade uns an?«, murmelt er vor sich hin. Sehr nett, Alter, aber zu viel der Bescheidenheit.
»Du meinst: Warum hat er gerade dich angerufen?«
Er wischt meinen Einwand mit der Hand weg.
»Ist doch egal. Der Punkt ist: Die Firma hat in Europa locker fünfzig Leute, die Legacy Systems Support machen. Warum gibt John gerade uns den Job?«
»Weiß nicht. Weil er uns vertrauen kann? Weil wir nicht so tief drinstecken in der Organisation?«
Nick reibt sich nachdenklich sein glatt rasiertes Kinn, genau an der Stelle, wo er in den Neunzigern dieses lächerliche Ziegenbart-Experiment am Laufen hatte.
»Vielleicht.«
Wieder eine halbe Minute Pause, dann schließlich stellt er die Frage, die schon seit zwanzig Kilometern in der Luft liegt: »Meinst du, John hat's geschafft?«
In diesem Moment klingelt sein Telefon.