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Fünfundachtzig muss das gewesen sein. Unter den Geeks in der Schule ging damals das Gerücht rum, man könne den Commodore 64 durch ein einfaches Poke-Kommando zerstören, und zwar endgültig. War natürlich völliger Schwachsinn, schließlich schreibt der Befehl Poke nur eine Zahl in den Speicher. Eine reine Software-Operation, als ob man bei einem Digitalwecker die Alarmzeit eingibt. Dabei kann nichts ernsthaft kaputtgehen. Die Legende hielt sich trotzdem hartnäckig. Ganz sicher, die geheimnisvolle Zahlenkombination sollte den Brotkasten nicht nur zum Absturz bringen, sondern den Rechner richtiggehend zerstören. Irgendein Chip würde dann durchbrutzeln, munkelte man in der Geek-Ecke des Pausenhofs, die direkt neben dem gefürchteten Eingang zum Büro des Direx lag. Gefürchtet war er natürlich nur von den anderen Schülern, denn wir, die Harmlosen, wurden noch nie wegen einer eingeschlagenen Scheibe oder Nase dort hinzitiert. Dafür waren wir viel zu sehr mit Theorien beschäftigt, wie der vom Todes-Poke. Eine sehr gewagte Theorie, selbst für Dreizehnjährige. Klar, dass man sie trotzdem testen musste. Klar auch, dass dafür der eigene Rechner, ein Hightech-Produkt im Wert von immerhin 500 Mark, nicht infrage kam. Also war mal wieder ein Besuch bei Herrn Betz fällig. Herr Betz war Verkäufer bei Hertie, ein leicht untersetzter Mann mit schütterem Haar in den Dreißigern. Er hatte sowohl meinen als auch Nicks Eltern den C64 aufgeschwatzt, und er war es auch, der uns mit dem passenden Einsteigersortiment an Spielen versorgt hatte. Alles Raubkopien natürlich. Heute unvorstellbar: Jedem Kunden, der ein Gerät samt Datasette kaufte, legte er einen Stapel selbst aufgenommener Agfa-Kassetten mit schwarz kopierter Software bei.

»Immer erst die chier mit Turbo-Tape laden. Dann statt LOAD nur <-L eingähben. Geht schneller.«

So unschuldig erklärte er den Eltern, wie man das Urheberrecht bricht. In seinem breiten Akzent klangt jedes »h« wie das »ch« in »Rachen«, und genau da kam der Sound auch her. Herr Betz sei wohl »von drüben«, vermutete mein Vater, wobei mir nicht ganz klar war, was er mit »drüben« eigentlich meinte. Irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang halt. Jedenfalls hatte Betz im Westen schnell gelernt, was Kapitalismus bedeutet und wie man Käufer dazu bringt, wiederzukommen. Er wusste: Seine kleinen Kunden, die er mit Beachhead, Blue Max und Boulder Dash angefixt hatte, würden ihm lange die Treue halten. Und seine Rechnung ging auf. Fast zwei Jahre lang kamen wir immer wieder in Betz' Reich zurück, eine kleine, nach Teenieschweiß miefende Ecke in der dritten Etage der Hertie-Filiale am Markt. Schräg links hinter den Stereoanlagen lag das Paradies. Da schauten wir dann vorbei, um den anderen Geeks beim Zocken zuzuschauen - schweigend natürlich, denn für uns Dorfdeppen war es undenkbar, mit den Jungs aus der Stadt einfach so zu reden. Wir mochten Betz. Und deshalb fühlten wir uns besonders mies, als wir an diesem Nachmittag die Rolltreppe in den dritten Stock nahmen - schließlich wollten wir ja einen seiner geliebten Rechner kaputt machen. Einfach so. Beißt man in die Hand, die einen füttert? Doch der Aufriss, um in die Stadt zu kommen, war zu groß gewesen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Eine Dreiviertelstunde im heißen Bus von unserer Trabantenhölle in die City zuckeln, zwei Mark fürs Ticket zahlen - die Schülerkarte galt so weit weg von zuhause nicht mehr. Die Pomadewolke des Fahrers mit Porschebrille ertragen - und sein »Flippers«-Tape. Außerdem den anderen Jungs absagen, die an diesem Nachmittag versuchen wollten, in »Rambo II« reinzukommen. Für solche Zerstreuungen hatten wir keine Zeit. Wir waren schließlich Wissenschaftler - Wissenschaftler mit einer Mission, die ein wichtiges Experiment durchführen mussten. Wissenschaftler, die ohnehin niemals ins Kino reingelassen worden wären, da der Film ab achtzehn war. So langsam wie möglich, ohne dass man vor dem anderen als Feigling dasteht, pirschten wir uns also an die Computer-Ecke ran.

»Challo Jungs!«, begrüßte uns Betz, der gottseidank gerade damit beschäftigt war, einer aus unserer damaligen Sicht steinalten Mutter - wahrscheinlich war sie jünger als wir heute - den Brotkasten schmackhaft zu machen.

»Ja, hallo«, hauchten wir im Chor. Nachdem sich Betz umgedreht hatte, schlichen wir zum erstbesten C64. Nick schaltete die Kiste an, wartete, bis das hellblaue READY erschien - und legte los. Blitzschnell hackte er den Befehl rein. POKE 59458,62 - am Speicherplatz 59458 den Wert 62 hinterlegen. Oder so ähnlich. Wie die Zahlenfolge genau ging, könnte Nick noch heute mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, aber ihn jetzt zu fragen wäre ein Zeichen der Schwäche - und außerdem der Beginn einer halbstündigen Belehrung aus seinem unerschöpflichen Wissensreservoir. Mit einem lauten Klack drückte Nick die RETURN-Taste runter. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Hatten wir die Kiste echt gekillt? Zumindest gelähmt: Der Cursor fror sofort ein, keine weitere Eingabe war möglich, egal, auf welche Taste wir hämmerten. Abgestürzt war der Rechner also auf jeden Fall. Jetzt ging es um die Wurst: Hatte der Befehl tatsächlich die Hardware zerstört? Dann hätte der Rechner auch nach einem Reset nicht mehr funktionieren dürfen, also wenn man ihn einmal aus-und wieder angeschaltet hat. Ein schneller Blick nach hinten, ein schneller Blick zur Seite. Betz stand immer noch mit dem Rücken zu uns; hinten auf seinem Hawaiihemd schien das 3K-Logo durch, Edith Kumar, ihre Shirts musste man damals einfach haben. Nick drückte den Netzschalter einmal kurz runter und gleich wieder hoch. Der Bildschirm wurde schwarz ...und er blieb schwarz! Der Cevi wachte nicht mehr auf. Wir hatten ihn getötet. Jetzt bloß nicht rumschreien oder sonst wie auffallen! Langsam, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlichen wir uns aus der Computerecke. Zur Rolltreppe, durch den Haupteingang - und dann nur noch rennen, rennen, rennen. Sicher ist sicher. Erst als wir wieder am Busbahnhof waren, gönnten wir uns eine Pause und fielen keuchend auf die Wartebank. Nick erinnert sich noch an jede Einzelheit jenes Tages.

»Ja ja, ich weiß noch, die Sache bei Betz. Wahrscheinlich hab ich die Kiste damals einfach zu schnell wieder angeschaltet«, sagt er und nimmt seine Rechnertasche hoch. Das ist das Signal zum Aufbruch. Ohne mich zu fragen, marschiert er los. Ich stehe noch eine Sekunde am Geländer rum und eise mich dann auch los. Vielleicht lässt er sich ja mit einer Zwischenfrage ausbremsen?

»Wer weiß. Möglich, dass der Todes-Poke doch gewirkt hat ...«

Nick legt die Stirn in Falten. Er liebt diese Art von Meinungsaustausch einfach: Ich komme mit meiner Meinung - und gehe mit seiner Meinung. Deshalb lässt er die Sache nicht auf sich beruhen: »Beim Commodore PET...«

»Die Kisten mit eingebautem Monitor, die im Physiksaal standen und dann irgendwann abgeräumt wurden, um Platz für den Apple II zu machen?«, unterbreche ich ihn. Der Beifahrer schaut etwas genervt, akzeptiert den Zwischenruf dann doch, weil er mit der von ihm so geliebten Vergangenheit zu tun hat.

»Genau. Ob es jetzt genau das Modell war, bin ich mir nicht sicher ...«

Wie jetzt, nicht sicher? Nickybaby, ich bin enttäuscht. Du wirst alt. Er spürt, dass die Begeisterung seines Publikums nachlässt, und legt technisches Bonusmaterial drauf, um seinen Ruf als Lexikon zu retten.

»... also beim PET gab es jedenfalls so einen Todes-Befehl, Fast Print Poke genannt. Wenn man den eingab, drehte der Videochip durch und die analoge Elektronik im Monitor brannte durch.«

Ich bin nicht überzeugt: »Einspruch. Also meine Definition von einem Killer Poke ist, dass ein reiner Software-Befehl die digitale Hardware zerstört, nicht irgendwelche analoge Peripherie. Wenn du einen Röhrenfernseher hundertmal pro Minute umschaltest, brennt der ja auch irgendwann durch.«

Holla, jetzt geht die Fahrt natürlich richtig los. Die Ehre des Beifahrers, eines Menschen mit abgebrochenem Informatik-Studium, steht auf dem Spiel. Aus dem Stand startet Nick eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hat: Seine Stimme überschlägt sich, die Adern an seiner Schläfe pochen, er verschluckt erst Worte, dann halbe Sätze, bis sich seine gesamte Leidenschaft in einer wahren Explosion von EDV-Sprech entlädt: »... und was ist, wenn du die Firmware in einem Router per PDOS phlashst. Dann ist das Gerät gebrickt. Das müsste ja dann nach deiner tollen Definition ein Killer Poke sein.«

Zeit für die kalte Dusche.

»Ja, da haste wohl Recht«, sage ich unbeeindruckt. Zischsch. Eine Wolke, dunkler als aus dem Monitor eines gekillten Commodore PET, quillt aus Nicks Ohren. Blitzschnell dreht er sein Gesicht nach vorne. Gerne würde er mehr sagen, aber er quetscht nur ein »So schaut's aus« aus dem Mundwinkel; das »du Ignorant!« denkt er so laut hinterher, dass man es fast hören kann.

Extraleben - Trilogie
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