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Welches Problem? Nick presst Daumen und Zeigerfinger zu diesem 0 zusammen, zu seinem Das-ist-der-Punkt-0, und dann haut er diesen Elternsatz einfach nochmal raus, eiskalt.

»Genau das ist dein Problern!«

Dabei lässt er das 0 über die Lehmwüste schweben. Was für ein Problem? Es gibt kein Problem. Es gibt nur einen verdammt schönen Tag, von dem wir absolut nichts mitbekommen, weil wir in diesem Scheiß-Hotelzimmer sitzen und auf dieses Briefmarken-Display starren, ohne auch nur einen Schritt weitergekommen zu sein. Was ist da gegen eine Pause einzuwenden? Wir sitzen auf einem Stapel sonnengebleichter Euro-Paletten, den wir uns mit einem Ameisenvolk teilen müssen. Da sich Nick geweigert hat, weiter als zwanzig Meter zu laufen, hängen wir auf einem Grundstück neben dem Hotel ab, das noch darauf wartet, in einen Parkplatz verwandelt zu werden. Die Warterei scheint allerdings schon länger zu dauern: Auf den Kieshügeln wuchern kniehoch Kamillen-Pflanzen und verbreiten einen Hauch von Erkältungstee. Es summt und brummt überall, und neben den Paletten rostet ein Stapel Baustahl vor sich hin. Es ist das Paradies. Dabei hatte ich nur vorgeschlagen, bei der Tanke noch ein Sixpack zu holen und es für heute gut sein zu lassen. Doch das war anscheinend zu viel für den Angestellten des Monats.

»Es ist doch so«, Nick schaut auf seine Dose Eistee runter und gibt sich Mühe, etwas weniger streng zu klingen, »es ist nicht mehr wie früher, als wir noch schrauben konnten, wenn wir gerade Bock drauf hatten. Das ist vorbei. Wir haben einen Auftrag bekommen - oder besser gesagt: Du hast einen Auftrag bekommen. Und der lautet: Hol aus der Kiste raus, was drinsteckt. Dafür bezahlt uns John, und das auch noch ziemlich gut. Und genau deshalb werde ich jetzt unseren Auftrag ausführen.«

Er zeigt hinter sich.

»Ich gehe jetzt da rauf und hocke mich so lange vor diese Kiste, bis ich jedes Byte rausgequetscht habe, und wenn es bis morgen früh dauert. Dann setze ich mich ins Auto und du fährst mich zurück nach Hause. Da bin ich nämlich gerne«

Nick steht auf, geht ein paar Schritte und dreht sich nochmal kurz um.

»Hey, grow up and sell out!«, ruft er, mit einem gequälten Lächeln. Werd erwachsen und verkauf deinen Arsch - was für ein Motto. Ich schaue ihm nach, wie er über den staubigen Lehmpfad zurück Richtung Hotel marschiert. Sein graues T-Shirt sieht zerknittert aus; wir müssen uns morgen unbedingt neue Klamotten besorgen.

»Ja, toll«, sage ich laut, aber erst, als er außer Hörweite ist. So weit zu unserem tollen Kumpeltum. Wann waren wir uns eigentlich das letzte Mal so richtig einig? Im Studium? Nein, da ging er schon seinen eigenen Weg, mit ein bisschen zu viel THC und ein bisschen zu echten Bekannten. Pure Harmonie herrschte damals auch nur selten. Und danach, während unserer Zeit als McJobber, wurde es täglich schlimmer mit dem Gezicke. Es wäre cool gewesen, wenn wir uns schon als Kind gekannt hätten - und nicht erst ab der Siebten. Als Kind, in dieser ganz und gar analogen Zeit, als man noch in einer Bande war, und nicht in einer Abteilung. Da lief das Leben so schön simpel ab: Jeden Nachmittag fuhren wir mit unseren BMX-Rädern zur alten Ziegelei am Rand der Trabantenstadt. Das heißt, richtige BMX-Räder waren es nicht, nur alte Klappräder, von denen wir alles abgeschraubt hatten, was sich abschrauben ließ. Weiß Gott, wie gerne hätte ich ein echtes Crossbike gehabt, mit diesen gelben Plastikfelgen, aber meine Eltern hielten ein Rad ohne Schutzblech für unvernünftig. Wir standen also mit unseren Oma-Böcken da, auf dem Gipfel von Lehmbergen wie diesen hier, und waren bereit, den nächsten Stunt zu wagen. Ein Stunt, das war alles, wofür man Mut brauchte: mit dem Rad einen kleinen Hügel runterrasen, auf dem Hinterrad fahren, bremsen, bis es von hinten Steinehen regnet - und dann das Ganze nochmal freihändig. Das waren Stunts. Ausgelöst hatte diese kollektive Fallsucht ein gewisser Herr Seavers. Seine Abenteuer im Vorabendprogramm hatten unsere Hirne gründlich durchgespült. Was Herr Seavers tat, wollten auch wir tun: mit dem Auto über andere Autos springen, auf zwei Rädern fahren, Scheiße in die Luft jagen. Das war der Stoff, aus dem die Träume waren. Die blonde Jody kam in unseren Schulhoffantasien nicht vor, noch nicht. Die war damals nicht nur kein Thema, sondern eine richtig lästige Unterbrechung. Sie stand zwischen Colt und dem nächsten, noch weiteren Autosprung. Erst Jahre später ist mir aufgefallen, wie unfassbar hot Heather Thomas aussah, wenn sie im Vorspann mit ihrem Bikini durch die Schwingtüren kam. Jedenfalls stand unser Weltbild damals noch felsenfest. Darüber, was cool war, mussten wir kein Wort verlieren. Das war eh klar: D-Böller, ein De Tomaso Pantera mit 500 PS, die Lockheed SR-71- dieser Düsenjäger, der mit Mach 3 den russischen Raketen einfach wegrasen konnte. Solche Sachen. Das Größte, das Schnellste, die meisten U/min, die höchste Feuerkraft, den Corsalflug in weniger als zwölf Parsec schaffen - um zu wissen, was wichtig im Leben ist, musste man nur ins Schmid-Quartett gucken. Diskussionen über die richtige Work-Life-Balance fanden damals nicht statt. Ich trinke meinen Eistee aus, ganz langsam, Schluck für Schluck, bis der Schatten des ersten Lehmbergs die Arneisenstraße neben meinem Bein erreicht. Gott, wie schön wäre es, ab und zu mal wieder ein Auto mit solchen Schlaf-Augen auf der Straße zu sehen.

Extraleben - Trilogie
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