LEVEL 23
Nach dem Reinfall mit Pak-Mann von gestern haben wir uns entschlossen, heute eine Spielhalle zu besuchen, die garantiert noch nicht dichtgemacht hat - die Playland Arcade auf dem Pier in Santa Monica. Der Laden ist Sommerurlaub pur: In den Joysticks knirscht der Sand, Sonnenöl schliert über die Monitore, und die meisten Bildschirme flackern, weil die Salzwasserluft im Laufe der Zeit die Lötstellen auf den Platinen angeknabbert hat. Trotzdem ist auf das Playland Verlass: Der hölzerne Verschlag zwischen dem Parkplatz und der Mini-Achterbahn an der Spitze des Piers hat immer alle Klassiker da, wenn auch gut versteckt. Denn die besten Plätze, direkt vorne am Eingang zum Pazifik hin, sind für die neuesten Geräte reserviert. Hier blamieren sich schon jetzt, um zehn Uhr morgens, die ersten mexikanischen Teenager auf Dance Dance Revolution, Teil XXVI oder so. Weiter drinnen stehen die älteren Renn-und Prügelspiele wie Virtua Fighter, schließlich kommt analoges Tischhockey und irgendwo in der hintersten Ecke Pac-Man und Centipede. Um uns zu beweisen, dass wir überhaupt nicht alt und eingefahren sind, probieren wir aus Prinzip alles aus, was nicht gegen die Hydraulik-bewegt-Spieler-Regel verstößt. Wir spielen zum Beispiel ... Ja, wie heißt der Automat eigentlich? Mit den Games geht es Nick und mir mittlerweile wie mit Musik. Man kennt die meisten Top-Ten-Hits irgendwie, doch die Mühe, sich Titel oder womöglich Interpret zu merken, macht sich einfach keiner mehr. Also sprechen wir nur noch in »wo«-Nebensätzen, sagen zum Beispiel nicht mehr: Das ist das Lied von dem und dem, sondern nur noch: Das ist der Song, wo die Frauen Lack-Hotpants tragen und im Flughafen-Hangar tanzen. Genauso mit den Games: Wir zocken das japanische Spiel, wo man sich mit dem Controller gegenseitig wegschubsen kann, oder das, wo die zwei Panzer aufeinander schießen, und natürlich versenken wir auch ein paar Quarter in den Automaten, wo ich immer gewinne: Mortal Combat. Allerdings muss ich gestehen, dass meine Siegesserie bei dem Prügelklassiker nicht an meinen überlegenen Joystick-Künsten liegt, sondern auf einem kleinen, dämlichen Social-Engineering-Trick beruht: Anders als Nick wähle ich nämlich seit Jahren als Spielfigur nicht irgendwelche Muskelberge, sondern trete stets mit einer Frau an, zum Beispiel Prinzessin Kitana. Das klingt natürlich erstmal ziemlich soft, hat sich bei meinem Kumpel aber als pure Erfolgsstrategie entpuppt. Irgendwann ist mir nämlich mal aufgefallen, dass Kitanas knallenges Jane-Fonda-Aerobicleibchen Nick derart destabilisiert, dass er ständig Flüchtigkeitsfehler macht. Also brauche ich immer nur nett rumzuhüpfen und in der entscheidenden Sekunde den Joystick nach unten und gleichzeitig Feuer zu drücken - und zack, schon kassiert mein Kumpel einen brutalen Aufwärtshaken, dass das Pixelblut, für das sich der Titel seinerzeit wütende Proteste von Eltern einfing, nur so spritzt. Kitana wins! Natürlich würde Nick nie zugeben, ein derartiger Hormon-Dackel zu sein, trotzdem nimmt er nach dem zwanzigsten Knockout sicherheitshalber auch immer Kitana. Danach gehen die Schlägereien komischerweise immer unentschieden aus. Im Playland steht auch einer der letzten Road Riot 4WD-Automaten der Welt. Das Rennspiel ist nicht nur das beste aller Zeiten, sondern hat auch die interessanteste Nebenwirkung: Es macht immens aggressiv. Obwohl Nick und ich ja nicht gerade Schlägertypen sind, stehen wir nach einer halben Stunde im Fahrersitz immer sooo kurz davor, mal raus zugehen, um die Sache mit den Fäusten auszutragen. Im Jahr 2000 hat sich mal ein Irrer mit einem Dutzend Geiseln im Playland verschanzt und während der Belagerung drei Cops angeschossen. Als wir davon hörten, war uns völlig klar, dass es dafür nur eine Erklärung geben kann: Der Mann hatte zu lange Road Riot gezockt. Dabei sieht der Automat auf den ersten Blick wie ein x-beliebiges Reinsetz-Rennspiel aus - zwei Sitze, überdacht mit einem Überrollkäfig. zwei Monitore, über die feinste Neunziger-Spritegrafik flimmert. Der Clou an dem Game ist, dass die Spieler nicht nur gegeneinander fahren, sondern dabei gleichzeitig aufeinander schießen können. Und hier wird die Sache brutal: Jeder Treffer löst nämlich einen ohrenbetäubenden Knall in der Rückenlehne des Gegners aus. Das fühlt sich jedes Mal an, als wenn dir jemand mit einer Zwille eine Stahlkugel gegen den Hinterkopf ballert. In kürzester Zeit macht dieses Geräusch selbst harmlose Menschen so aggressiv wie Jungs von der freiwilligen Feuerwehr, denen man in der Mainacht ihre Bierkästen geklaut hat. Auch heute verfehlt Road Riot seine Wirkung nicht, und wir verlassen nach zehn Rennrunden vorsichtshalber erst mal die Spielhalle. um uns an einer Strandbude eine kalte Limo zu holen. Bis jetzt sieht alles nach dem perfekten L.A.-Tag aus: Die Morgensonne steigt träge den Horizont hoch und lässt die kleinen Wellen am Strand wie Lametta glitzern. Langsam verdunstet der Tau im klammen Sand unter unseren Füßen. Die Luft ist so klar, dass man sich einbildet, an den startenden Flugzeugen in Lang Beach noch die Logos der Airlines erkennen zu können. Alles riecht frisch, unverbraucht. Heute ist Donnerstag, und das bedeutet, die Angelinos können ihren Strand noch einen Tag in Ruhe genießen, bevor die Touristenhorden am Wochenende einfallen. Sie nutzen die verbleibende Zeit dafür, sich so klischeemäßig zu verhalten, als hätte der Regisseur gerade erst »Action!« gerufen: Schulmädchen in Neoprenanzügen üben auf dem Trockenen, ihre Surfbretter zu besteigen, und fallen quietschend in den Sand. Zwei Rentner mit exakt identischen Sonnenaufsätzen auf ihren Brillen walken durch die Wellen, vorbei an in die Jahren gekommenen Trophäen-Ehefrauen, die unbeweglich im Lotossitz ausharren und wie Eidechsen die Wärme aufsaugen. Die einzigen Fremdkörper sind Nick und ich, wie wir käseweiß und an unseren Limos nuckelnd den Strand langmarschieren. Nach einer halben Meile haben sich unsere Gaumen von der Attacke durch neun Beutelehen Sweet &Low-Süßstoff erholt, und die Road Riot-Wut ist so weit verflogen, dass wir das Gespräch mit unserem zweitliebsten Thema wieder aufnehmen können - dem Speiseplan für heute. Nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf einen Thailänder am Sunset und setzen zufrieden unseren Marsch entlang der scheinbar endlosen Reihe von Bademeisterhäuschen fort. Essen ist doch der Sex des Alters.
»Und danach Mulholland Drive?«, hakt Nick zögerlich nach. Wow, es sieht fast danach aus, als sei mein Beifahrer ausnahmsweise gewillt, diesem letzten Abend etwas Glanz zu verleihen.
»Bin dabei.«