#47 T-1: 23:26

Glaubt Nick wirklich, dass John uns nach der Aktion einfach so abmarschieren lässt? Nachdem wir ihm dabei geholfen haben, eine der geheimsten Geheimorganisation der westlichen Welt über den Tisch zu ziehen? Schließlich wussten selbst die Amerikaner bis Anfang der Neunziger nicht, dass es das National Reconnaissance Office überhaupt gibt. Die Satellitenmänner konnten im letzten halben Jahrhundert in die Umlaufbahn schießen, was sie wollten. Und nachdem John diese Jungs aus der schwarzen Zone abgezockt hat, wird er uns, die einzigen Zeugen, sicher nicht zum Feierabend nach Hause schicken. Er hat Stil-aber er ist kein Idiot. Verdammt schlau: Wir können nicht raus finden, ob er nur blufft. Hockt in diesem Moment wirklich einer seiner Leute im Wagen vor Sabinas Elternhaus? Unmöglich zu sagen. Und selbst wenn diese Drohkulisse zusammenklappen sollte, hat er immer noch die Pistole im Handschuhfach, um die Nerds in Schach zu halten. Vielleicht sollte ich Nick wirklich langsam von meiner Entdeckung erzählen. Der Sonnenaufgang kam schnell. In der Zeit, die der Himmel gebraucht hat, um sich von orange über pink bis zu hellblau umzufärben, sind wir gerade mal an drei Ausfahrten vorbeigerauscht. Vorhin, als es noch dunkel war, müssen wir die Staatsgrenze passiert haben, denn die Berge von Montana sind endgültig verschwunden. Jetzt schaukelt der Van durch die endlosen Äcker von Washington, geradewegs auf den Pazifik zu. Weil die Dreitausender direkt hinter der Küste den Regen vom Meer abfangen, ist das Wetter hier meistens gut. Eine Apfelplantage jagt die nächste, und neben den Straßenkreuzungen stehen kleine Obststände, an denen die zehnjährigen Töchter der Farmer erste Erfahrungen mit dem Kapitalismus sammeln dürfen.

»Farm Fresh Cherries 5 $« steht mit krakeliger Schrift auf den improvisierten Schildern. Ich bilde mir ein, dass der Duft der frischen Kirschen durch den kleinen Spalt vorne in Johns Fenster reinzieht, aber das ist natürlich nur Einbildung, reiner Übersprung. Die ganze Landschaft wirkt so frisch, dass man denkt, an jedem Blatt müsste ein Tautropfen runterperlen - wie an einem Bierglas in der Werbung. Frieden und Ruhe liegen über den Feldern, fast wie früher bei uns im »Alten Land«.

An so einem Tag wären wir direkt nach der Schule in die Plantagen gerannt - also in der analogen Zeit, als Nick noch nicht in unser Nest gezogen war. Wir Jungs hätten uns in einen der schmalen Streifen zwischen den Erdbeerpflanzen gelegt, der mit Stroh bestreut ist, hätten in den Himmel geguckt und darüber geredet, wie stark es wäre, hier auf der Erde mit einem Adler von der Mondbasis Alpha Eins rumfliegen zu können. Was ist das? Vorne tut sich was. Johns Telefon fiept. Shit, wenn er sein blödes Fenster hochmachen würde, könnte man vielleicht was verstehen. So schluckt das Rauschen des Fahrtwinds alles bis auf ein paar seiner Wortfetzen.

»... they probably think we're already heading for Schriever.«

John lacht heiser. Autsch, unsere Blicke haben sich im Rückspiegel getroffen. Seine Iriden, schwarz wie reife Oliven, schwimmen mittlerweile in einem Meer aus roten Adern. Sofort schraubt John die Lautstärke runter, damit ich nichts mehr verstehen kann. Ein paar weitere Sätze Gemurmel, denn hebt unser Ex-Chef die Stimme, um das Gespräch zu beenden.

»... and keep an eye on those transfers, okay.«

Alles klar, das Jerry-Cotton-Zentrum im Kopf übersetzt die Informationen: Major Tom wartet nur noch auf den »transfer«, die Überweisung vom NRO, danach will er die Satelliten-Software an ihren rechtmäßigen Eigentümer übergeben. Und damit die Bullen ihn bei der Übergabe nicht einkassieren, hat er dem NRO erzählt, dass er die Daten zur Schriever Air Force Base in Colorado bringt. Auf dieser Luftwaffenbasis betreibt das Office seine Bodenstation, von der aus alle Spionagesatelliten gesteuert werden - das behaupten jedenfalls Nicks total glaubwürdige MitVerschwörungstheoretiker im Netz. Doch wir fahren nicht zu dieser Air Force Base in Colorado, wir fahren in die komplett andere Richtung. John will also woanders hin. Das Telefon in der Hosentasche drückt weiter gegen meinen Oberschenkel. Ob John nur vergessen hat, es mir abzunehmen? Oder vertraut er einfach darauf, dass ich das Leben von Sabina, der Frau meines besten und einzigen Freundes, nicht aufs Spiel setzten werde? Dabei wäre es nur ein Handgriff. Nur kurz den Powerknopf antippen, blind den PIN eingeben - und bei der Datacorp würden die Alarmglocken schrillen. Sie hätten das Telefon innerhalb von ein paar Sekunden angepeilt, schließlich ist hier auf der Interstate die Netzabdeckung immer bestens. Und falls es bei der Company noch irgendeinen Menschen gibt, der nicht völlig kriminell ist, würde er jemanden losschicken, der Johns Erpressungsaktion stoppt und uns hier rausholt. Andie zum Beispiel, die ist doch schlau, die blickt doch durch. Okay, sie hat einen MBA, aber das bedeutet doch nicht automatisch, dass sie für einen völlig korrupten Haufen arbeitet. Nein, sie gehört zu den Guten, und sie würde uns befreien, wenn sie nur wüsste, wo wir sind. Es wäre so leicht. Ich müsste bloß mit ein paar Fingerbewegungen dafür sorgen, dass an diesem Klumpen von Leiterbahnen eine Spannung von 3,6 Volt anliegt. Der Rand des Ein-Schalters fühlt sich gut an, kantig und hoch, als würde er zentimeterweit aus dem Gehäuse herausragen. Ich lasse die Fingerkuppe drüberwandern und spüre, wie die Kante durch die Täler meiner Fingerabdrücke holpert. Nur kurz den Feuerknopf drücken, die Gravity Gun abfeuern, und schon wären wir frei. Nick hat seit Ewigkeiten nicht mehr hochgeschaut. Ab und zu presst er ein Stöhnen zwischen den Lippen raus, ansonsten fixiert er weiter die Blätter. Sich stundenlang konzentrieren, das konnte er schon immer gut, der alte Streber. Er tut tatsächlich so, als ob er eine Chance hätte, diesen Endboss zu besiegen. Im Grunde genommen hätte Sabina nie zu mir gepasst. Schon ihre Optik war niemals kompatibel: Sie ist klein und blond, mein Hirn beharrt darauf, dunkel und groß zu mögen. Obwohl sie bei unserem letzten Treffen - damals bei der Babybesichtigung echt gut aussah, zugegebenermaßen. Sie hatte da schon diesen Mutter-Look installiert, der auf eine unaufdringliche Weise sexy sein kann. Ihre kleinen Füße steckten in dunkelbraunen Wildlederpumps mit halbhohen Absätzen; dazu trug sie einen knielangen hellbraunen Rock, der sie in der Taille ein bisschen einschnürte und ihr - zusammen mit der gigantischen StillOberweite - die Silhouette einer Sanduhr verpasste. Okay, ums kurz zu machen: MILF. Vor allem aber war sie so lieb, dass es einem die Tränen in die Augen trieb. Ständig setzte sie mir das Baby auf den Arm, nur um dem Hauklotz Kee ein paar Papa-Gefühle zu entlocken - damit der auch mal spürt, wie toll das alles ist. Meine Mutter fände Sabina vermutlich sehr »patent«, wenn ich sie als meine Verlobte vorstellen würde. Dieser Zug ist aber schon vor langer Zeit abgefahren, da hieß der Zug noch Bundesbahn. Nachdem Nick mit ihr zusammengekommen war, verbot es das Kumpelgesetz natürlich, weitere Versuche zu starten. Theoretisch hätte ich nochmal freie Bahn gehabt, als sie vorletztes Jahr ihre kleine Beziehungspause eingelegt haben - doch wie arschlochmäßig wäre das gewesen? Also blieb weiter nur die Bewunderung aus der Ferne. Eine Familienkutsche mit zwei Jet-Skis hinten auf dem Anhänger schert vor uns ein. Auf der Rückbank sitzen zwei pausbackige amerikanische Blagen und winken uns zu. Ja, Mutter Natur, ich habe verstanden, dass ich mich fortpflanzen soll! Wie bizarr wäre es, wenn John jetzt zurückwinken würde? Hallo Kinderlein, herzliche Grüße aus dem Geisel-Express. Ja, wir wünschen euch auch eine schöne Fahrt. Zurück zu den Fakten. Richtig unterhalten konnten wir uns nie, Sabina und ich, ganz einfach weil es nichts gibt, das uns beide interessiert. Ihre einzige echte Freizeitbeschäftigung besteht darin, sich einmal im Jahr ein Burgfräulein-Kostüm überzuwerfen und einen Mittelalter -Ringelpiez aufzuführen. Armer Beifahrer. Und worüber soll man noch reden? Nerd-Themen? Die braucht man bei ihr überhaupt nicht anzuschneiden, wie bei allen Frauen eben. Können Frauen überhaupt Nerds sein? Eher nicht, denn Nerd-Sein ist eine Art von Extremismus. Du musst deine ganze Existenz einer einzigen Sache widmen, und du kannst erst ruhen, wenn du über diese Sache wirklich alles weißt, bis ins kleinste Detail. Dein Wissen muss so umfassend sein, dass es einem Außenstehenden völlig hirnrissig vorkommt. Du musst eins werden mit deinem Projekt, selbst wenn das bedeutet, fünf Wochen lang jede Nacht daran zu arbeiten, einen BBS-Server auf dem Commodore 64 laufen zu lassen. So brutal würden Frauen niemals ihre Lebenszeit verschwenden. Die würden sich nach zwei Stunden abseilen, um mit ihren Freundinnen im so genannten realen Leben einen Kaffee zu trinken. Kalt ist es hier drinnen, dabei fühlt sich der Luftzug aus Johns Fenster ziemlich warm an; das wird heute ein astreiner Hochsommertag, da werden die Kids mit ihren Jet-Skis richtig Spaß haben. Natürlich, die Gänsehaut am Arm kommt davon, dass wir ewig nicht gepennt haben. Wir nähern uns langsam dem kritischen Limit, und jeder Schlaflose weiß, was als Nächstes kommt. In ein paar Stunden werden wir anfangen, durchzudrehen: Wir werden uns wegen Kleinigkeiten an die Gurgel gehen, nur noch Scheiß reden, weil das Sprachzentrum allmählich runterfährt. Dann kommen die Sehstörungen, irgendwann die Halluzinationen und schließlich bricht das Immunsystem zusammen. Wäre es okay, ein bisschen mit dem Game Boy rumzuspielen? Nick hat ihn samt Kameramodul automatisch eingesteckt, als John uns vorhin aus dem Zimmer gescheucht hat. Jetzt hüpft das graue Kästchen, Jahrgang 1989, auf den Sitzpolstern rum und verstärkt bei unserem Ex-Chef vermutlich den Eindruck, es mit totalen Versagern zu tun zu haben. Nein, es wäre natürlich nicht okay, jetzt zu zocken - während Nick sich den Arsch aufreißt, um uns hier rauszuhauen. Das würde die Kumpelsolidarität untergraben. Er hat ja auch nie geschlafen, während ich gefahren bin, bis auf das eine Mal, als er krank war. Nein, mir bleibt nichts übrig, als weiter aus dem Fenster zu starren und zu warten. Das nächste Kaff kündigt sich mit einem haushohen Schild an, auf dem steht, dass man sich als »Apfelhauptstadt der Welt« verstehe. Liebenswerte amerikanische Provinzhybris. Obwohl: So richtig rausgekommen sind wir ja auch nicht aus unserem Alten Land. Gerade mal bis in die nächste Unistadt haben wir es geschafft, und selbst diese Aktion endete mit einem epischen Scheitern, wie man in den Nullern gesagt hätte. Studium versägt, ewiger Prakti geworden. Dass mein halbherziger Flirt mit den Wirtschaftswissenschaften schnell vorbei sein würde, hätte so ziemlich jeder vorhersehen können. Bis heute kapiere ich nicht, warum ich das überhaupt angefangen habe. Ich schiebe es auf die Achtziger: Vermutlich bin ich einer diffusen Gordon-Gecko-ich-werde-stinkreich -Vision hinterhergerannt. Weniger selbstverständlich war, dass Nick sein Informatikding nicht durchhalten würde. Ein Fünkchen Wille hätte bei ihm völlig ausgereicht, um das Studium mit Anstand zu Ende zu bringen. Aber etwas in ihm drin sträubte sich dagegen: Vielleicht war es die Angst davor, endgültig mit der geliebten Jugend abschließen zu müssen - oder er wollte nur seinem Alten eins auswischen. Jedenfalls war es eine hirnrissige Verschwendung. Seine Augen zucken über die Zahlenkolonnen. Dass ihm noch ein halbes Toast an der Unterlippe hängt, scheint er nicht bemerkt zu haben. Schon witzig, dass ausgerechnet wir den Schrott aus dem Kalten Krieg im Orbit wegräumen sollen - schließlich wollte uns die Bundesprüfstelle damals ja nicht mal Raid over Moscow zocken lassen, weil die Herrschaften das für ethisch-moralisch unzumutbar hielten. Komm schon, nachdenken. Wie kommen wir hier raus? Nick. Sabina. Mein Telefon. Die Ausdrucke. Was passiert mit uns, wenn John sein Geld hat? Es fängt an, der Schlafentzug kickt rein. Das Hirn jongliert nur noch mit den immer gleichen Gedanken, anstatt neue zu produzieren. Noch drei Stunden bis zum Treffen mit den Satellitentypen.

Extraleben - Trilogie
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