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The future, always so clear to me, has become like a black highway at night. We were in uncharted territory now. Wie eine Boje in der Dünung schaukelt unser Boot über das schwarze Teerband, das von den Bergen bis ans Meer reicht. Es sind halt seine Straßen. Kurz hinter dem Rasthof setzte der Rückenwind ein, seitdem haben die Außenspiegel aufgehört zu zischeln, und wir schweben geräuschlos durch die Nacht. Reichweite: 900 km steht auf der Anzeige neben dem Tacha. Schön zu wissen, dass wir wirklich bis ans Meer weiterfahren könnten. Der Beifahrer sieht cool aus, wie immer, wenn er nicht versucht, irgendwie cool auszusehen. Er lässt seine Hand aus dem halb geöffneten Fenster baumeln und surft mit den Fingern im Gegenwind. Seine Stirn hängt leicht nach vorne, sodass seine Augen direkt unter den Brauen hindurch den Horizont scannen - ein bisschen wie Riker, wenn er besorgt auf die Brücke der Enterprise stürmt. Die Ärmel seines hellblauen Hemdes hat er auf diese italienische Art hochgekrempelt: erst die Manschetten bis zum Ellenbogen geklappt, dann unten den Stoff noch einmal umgeschlagen. Wenn er nicht immer so verkrampft wäre, könnte er der coolste Hacker auf diesem Planeten sein; das Wort kommt ja angeblich sogar vom deutschen aushecken. Durch den Fensterschlitz weht es lauwarm rein; die Nachtluft fühlt sich weich wie Watte an. Unweigerlich hält man den Atem an, hofft, die Sekunden so verlängern zu können, doch die Moleküle scheren sich nicht drum, sondern machen einfach mit ihrem Pogo weiter. Der Zielcomputer ist eingeklappt, ab hier wird auf Sicht geflogen. Wir sind allein auf der Straße - bis auf die Familienpapis mit schweren Augenlidern, die glauben, durch einen Nachtstart den Stau schlagen zu können, und ein paar Clubber in ihren aufgemotzten Kleinwagen. Wollen wir uns bei denen auf die Rückbank quetschen? Nein, besser nicht. Wir wollen nirgendwo anders sein als hier, in diesem Moment. Die Zukunft, die bisher so klar vor uns lag, hat sich in eine schwarze Autobahn bei Nacht verwandelt. Klingt nicht mal schlecht, das »Terminator«-Zitat, so mit Autobahn statt Highway. Oft haben wir gemeckert über die deutscheste aller deutschen Straßen, ihre biedere Schale, die Autobahnkirche, den Autobahnfink. Doch heute Nacht lieben wir sie, weil sie nicht der Fluchttunnel aus deutscher Enge ist, sondern der Weg nach Hause. Eilig haben wir es trotzdem nicht, Hauptsache, die Räder rollen weiter, wenn es nach mir ginge, ewig. Du bist der, für den Geschwindigkeit Friede der Seele bedeutet. Zitat aus »Vanishing Point«, ganz groß. Niemand Geringerem als Andie haben wir diesen Trip zu verdanken. Die Liebe wollte uns was Gutes tun und hat uns erster Klasse von Seattle zurückfliegen lassen. Leider landete die Maschine am falschen Ende von Deutschland, sodass wir nochmal ordentliche Meilen - nein: Kilometer - fressen müssen. Aber sie schmecken ziemlich gut, deshalb ist Andie niemand an Bord böse. Sie dachte wohl, Germany ist gleich Germany. Immerhin weiß sie - anders als die meisten ihrer Landsleute -, dass es nicht in England liegt. Unsere Dienstreise geht langsam zu Ende. Nick legt seinen bandagierten Fuß auf die Ablage unterhalb der Windschutzscheibe und atmet zufrieden aus. Alles wieder zusammengeschraubt, das Sprunggelenk, der Bänderriss und so. Im Radio läuft »Black & Gold« von Sam Sparro, Nicks totaler Nullerfavorit. Er dreht am Lautstärkeregler. bis die Scheiben bei jeder Bassdrum ein bisschen zittern; es ist fast wie beim Cruisen damals. Hey, und wir können sogar die Fenster unten lassen, ohne dass uns jemand mit unserer Erwachsenenmucke ertappt. John hatte Recht. Sie haben uns in Ruhe gelassen. Kurz nachdem sich die Staubwolken des Rotors verzogen hatten, war auch er wieder verschwunden, der Busfahrer. Muss auf dem Absatz kehrtgemacht haben, der Schisser. Und es bleibt dabei: Ohne den unseligen Felsbrocken im Weg hätten wir ihn locker abgehängt. Zehn Minuten später bog schon der Geländewagen von Jeppesen auf die Alleenstraße ein, um die Reste von uns einzusammeln. Im Hubschrauber war wohl kein Platz mehr. Ja, kein Mann bleibt zurück - ist wohl nicht nur das Motto der Army. Ab dann ging es erster Klasse weiter, da hat sich die Datacorp echt nicht lumpen lassen. Private Notfallklinik mit einem totalen Klarmacherarzt, gefolgt von einer Woche Ausspannen im eigenen Hilton-Apartment. Das sei aber auch »die verdammte Fürsorgepflicht unseres Arbeitgebers«, grummelte der Beifahrer, bevor er sich wieder den Hörer ans Ohr hielt, um weitere fünf Stunden mit Sabinchen zu plaudern. Telefonieren und in den Akten aus Irvings Apartment in Kuala Lumpur stöbern - sonst hat er eine Woche lang nichts gemacht. Am Schluss waren wir nochmal groß einkaufen, nachdem wir entschieden hatten, dass es Teil der Fürsorgepflicht unseres Arbeitgebers sei, den Mitarbeitern Zegna-Anzüge springen zu lassen - und einen Schwung neuer Gadgets. Wir haben die Kohle schneller rausgehauen als Scheidungspapis, die ihre Brut samstagvormittags bei Toys“R“Us verwöhnen - nur dass wir kein schlechtes Gewissen dabei hatten. Das hat der Beifahrer mit einer passenden Business-Verklärung flott gekillt: »Bei anderen Firmen heißt so was Hardship-Zulage, und wenn die einer verdient hat, dann wir!«
Genau, das steht uns quasi zu. Der DJ blendet den Song aus, und es ist noch immer viel Strecke übrig. Was jetzt schön wäre: ein belangloser Nerdvortrag, der mit Worten beginnt wie ...
»Wusstest du, dass der Terminator den gleichen Prozessor im Kopf hat wie der Apple II?«, fängt Nick wie auf Zuruf an. Ich muss lachen, grinse aber lieber in mich rein, um die Ausführungen des Beifahrers nicht zu stören.
»Echt?« .
»Echt. Immer, wenn man in Teil eins sieht, was der Terminator sieht, ist das Bild doch so rot gefärbt und an der Seite flackern irgendwelche Zahlen und Grafiken rum.«
»Und?«
»Na ja, jemand mit einem schnellen Pausenknopf-Finger hat sich mal die Mühe gemacht zu schauen, was das genau für Daten sind, die beim Terminator da durchs Auge flackern. Und siehe da: Es ist Assemblercode für den 6502-Prozessor, bekannt als Herz des Apple II. Haben die Filmtypen einfach aus einem Magazin abgetippt, samt Prüfsummen! Wenn man hinsieht, kann man sogar die Befehle erkennen, IMP, LDA und so. Was lernen wir? Ein Megahertz reicht aus, um einen T-800 zu steuern. Nicht schlecht, oder?
»Cool. Aber wusstest du eigentlich, dass auch in Bender aus Futurama ein 6502 tickt?«
Der Beifahrer ist mittelmäßig geplättet. Es sagt nur »nö« anstatt »das wusste ich so nicht« - wie sonst immer, wenn er nicht zugeben will, etwas nicht zu wissen .
»Jap, in einer Folge hält der Professor ein Röntgengerät an Benders Kopf, und man kann ganz kurz die Zahlenfolge 6502 erkennen.«
»Na, darauf sollten wir mit einem Botweiser anstoßen!«
Wir schmunzeln eine Runde simultan, bevor jeder wieder still seinen Gedankenthread aufnimmt. Da steht noch einiges im Raum, zum Beispiel, wer den Grid jetzt kriegt. Er wackelt immer noch im Kofferraum hin und her und freut sich auf sein neues Zuhause. Eigentlich steht er mir zu. Bei mir müsste er sich nicht gegen eine Frau behaupten, die seinem Herrchen »die Flausen austreiben« will, was nichts anderes bedeutet, als dass »der ganze Elektroschrott weg muss«.
Nick streckt seine Hand raus und surft weiter. Gleich will er .wieder eine seiner Bomben hier reinschmeißen. Er brütet irgendwas aus, man kann die Lunte schon fast riechen.
»Nun sag schon«, komme ich ihm zuvor. Er tut unwissend.
»Was?«
»Da ist doch irgendwas.«
Nick mimt weiter die Unschuld vom Lande: »Was meinst du?«
»Hallo? Nun mach schon!«
Er presst auf diese Dumm-gelaufen-Art die Lippen aufeinander. Ha! Bombe entschärft. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als den Fuß von der Ablage runterzunehmen, sich seriös gerade hinzusetzen und mit der Wahrheit rauszurücken.
»Okay, Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, ich weiß, was hinter THE BUG steckt.«
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Muss aber ein bisschen ausholen.«
Seit wann teilt er denn diese Warnhinweise aus? Schließlich hat er die letzten zwanzig Jahre nichts anderes getan, als superweit auszuholen - und zwar ohne irgendwen vorher zu fragen. Ich nicke kurz, um ihm zu signalisieren, dass ich mit seinen Bedingungen einverstanden bin. Er nickt zurück und startet.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, warum sie hinter uns her waren.«
»Und?«
» Irving hat den ultimativen Bug entdeckt.« „Was?« „Eine Hintertür, um Mikrochips aus der Ferne zu zerstören. Verstehst du? Nicht nur um die Chips lahm zu legen, sondern um ihre Schaltkreise final zu töten. Die größte mögliche Schwachstelle im System.«
»So etwas wie den Todes-Poke?«
Obwohl es erst ein paar Wochen her ist, dass wir auf der kleinen Brücke gestanden und den Tretbooten hinterhergeschaut haben, fühlt es sich doch an, als wäre seitdem ein halbes Leben vergangen. Und die zwei Menschen auf der Brücke sind uns längst so fremd geworden wie die Leute auf alten Klassenfotos, von denen einem nicht mehr der Name einfällt.
»So in der Art«, sagt Nick.
»Wie soll das gehen? Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass Software niemals Hardware killen kann.«
»Schon mal was von Elektromigration gehört?«, fragt er. Nein, das lernt man nicht in vier Semestern Nationalökonomie mit Nebenfach Philosophie, und erst recht nicht beim Frisbeespielen im Park. Weißt du doch. Ich zucke mit der Schulter. Der Beifahrer verzichtet darauf, seinen resignierten Jetzt-muss-ich-bei-null-anfangen-Schmollmund zu ziehen, sondern erklärt ruhig vor sich hin, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.
»Also, stell dir einfach mal einen Mikrochip vor: Hunderte von Millionen von Transistoren, auf einer Fläche so groß wie ein Fingernagel. «
Er streckt den Daumen aus.
»Und um Platz zu sparen, bauen die Ingenieure die Transistoren nicht nur nebeneinander, sondern stapeln sie auch in Schichten übereinander. Der Chip ist wie eine gigantische Stadt aus Silizium, mehrere Stockwerke übereinander gebaut, so à la Coruscant in Star Wars.«
Nick malt mit dem Zeigefinger Zickzack in die Luft.
»Zwischen den Häusern gibt es Straßen, also Drähte aus Kupfer oder Aluminium, die die einzelnen Transistoren miteinander verbinden. Die heißen Interconnects und ziehen sich kreuz und quer durch das Silizium-Labyrinth, wie diese fünfstöckigen Autobahnkreuze in L.A. So weit klar?«
Ich nicke stumm.
»So, das Problem ist, dass alle zwei Chip-Generationen eine zusätzliche Straßenebene obendrauf gebaut wird. Na ja, und weil die Transistoren gleichzeitig immer kleiner werden, müssen auch die Drähte immer dünner werden. Und genau da kommt die Elektromigration ins Spiel. Die führt dazu, dass die mikroskopisch kleinen Interconnects irgendwann durchschmoren.«
»Ich dachte, Elektronik hält ewig, wenn man nichts falsch macht.«
»Nicht unbedingt. Wenn durch einen besonders dünnen Draht viel Strom fließt, kann es nämlich sein, dass die Elektronen mit der Zeit ein paar Atome mitreißen - wie bei einem Bach, der an einer engen Stelle so schnell fließt, dass die Strömung kleine Steinchen am Grund weiterkugelt. Äh, nur dass die Stromleitung dadurch - anders als der Bach - nicht breiter wird, sondern schmaler.«
Hä? Zufrieden über seinen wirren Vergleich faltet der Beifahrer die Hände vor der Brust, bevor er mit seinem Vortrag weitermacht.
»Der elektrische Strom reißt also immer wieder einige Kupfer-Atome mit, bis der Draht irgendwann so dünn ist, dass er bricht. Die Verbindung zu den angeschlossenen Transistoren kollabiert, der Chip funktioniert nicht mehr richtig.«
»So weit, so klar. Aber das klingt jetzt eher danach, als würde das alles eher zufällig passieren.«
»Tut es auch. Bisher ist nur ein Fall bekannt geworden, in dem Chips durch Elektromigration zerstört worden sind, und zwar bei der Firma Western Digital ...«
»... wo Irving gearbeitet hat! «
Wohlwollend schließt Nick kurz die Augen .
»Genau. Es gibt natürlich bei der Konstruktion von Chips klare Regeln, die vorschreiben, wie breit bestimmte Verbindungen sein müssen und so weiter, damit es eben keine gefährliche Elektromigration gibt. Aber ein Lieferant hatte sich wohl nicht dran gehalten, sodass die integrierten Schaltkreise - und damit auch die Festplatten - nach einem halben Jahr den Geist aufgaben.«
»Testen die Hersteller ihre Chips nicht vorher?«
»Klar. Aber bei Milliarden von Transistoren in einem Prozessor kann man halt nicht alles überprüfen. Die Teile sind längst so kompliziert, dass du alle Nebenwirkungen nicht mal mehr mit einem Supercomputer berechnen könntest. Es geht in der Chip-Entwicklung oft nur noch darum, keine schlimmen Fehler einzubauen. Erinnerst du dich noch an den FDIV-Bug beim Pentium?«
»Bei bestimmten Zahlenkombinationen gab's Rechenfehler, oder? Alle hatten damals Angst, irgendwelche Brücken würden deshalb einstürzen, weil der Architekt seine statischen Berechnungen mit 'nem Pentium gemacht hat.«
Nick lacht.
»Stimmt, genau. War natürlich unsinnige Panikmache. Die Chancen standen eins zu neun Milliarden, dass der Fehler im Alltag einmal auftritt. Und trotzdem trat er bei irgendwem auf und Intel musste eine Million Pentium-Chips umtauschen.«
»Okay, so weit, so gut. Irving hat also vor zwanzig Jahren in den Prozessoren diesen Bug, einen besonders anfälligen Draht im Chip, entdeckt. Alle anderen Forscher haben ihn übersehen, und wahrscheinlich hätte ihn bis heute niemand entdeckt. Wo liegt das Problem?«
»Das Problem liegt in der Rom-Theorie, die kennst du doch?«
Ob ich zustimme oder nicht, spielt keine Rolle, er wird ohnehin alles nochmal erklären. Und ... Bingo!
»In der Computerwelt steht das meiste Neue auf den Ruinen von was Altem, das ist in der Halbleiter-Industrie nicht anders.«
Nick stapelt seine Hände übereinander - süß, wie er versucht, es für seinen Zuhörer extra idiotensicher zu erklären.
»Selbst die allerneuesten Super-Prozessoren basieren meist auf Chips, die es schon seit Jahren gibt - ganz einfach weil es unbezahlbar wäre, etwas Brandneues zu entwickeln. Außerdem müssen alle neuen Prozessoren abwärtskompatibel sein. Das führt dazu, dass selbst die modernste Maschine tief in sich drin die Gene aller Vorfahren der letzten zwanzig Jahre mit sich rumschleppt. Beim Pentium zum Beispiel war fast die Hälfte der Transistoren nur dazu nötig, damit der Prozessor auch alte Programme vom 286er ausführen kann. Und wenn sich vor zwanzig Jahren irgendwo ein Fehler eingeschlichen hat, kann es gut sein, dass ein Großteil aller Rechner auf dieser Welt diese Zeitbombe in sich trägt.«
»Bisher ist sie aber noch nicht hochgegangen ...«
»... Richtig. Doch das muss ja nicht so bleiben. Ich gebe zu, hier wird die Sache etwas theoretisch ...«
Hier erst?
»... Aber stell dir einfach mal vor, Irving hätte nicht nur die Schwachstelle gefunden, sondern auch einen Weg, sie auszunutzen. Zum Beispiel mit einem Programm, das gezielt Strom auf die kritische Verbindung lenkt und so die Elektromigration beschleunigt. Und jetzt stell dir vor, dass dieses Programm per Virus verbreitet wird ...«
» ... alle Maschinen, deren Prozessor die Schwachstelle hat, würden nach einiger Zeit abrauchen, und zwar endgültig. Kein Neustart und kein neues Betriebssystem könnte die Kisten dann retten; sie müssten komplett ausgetauscht werden.«
»Und was wäre, wenn wir hier über eine weit verbreitete Chip-Baureihe sprechen?«
Kommt es plötzlich kälter rein? Auf einmal erscheint alles, was wir glauben erlebt zu haben, überhaupt nicht mehr drastisch. Was ist eine eingetretene Tür gegen das, was der Bug anrichten könnte? Die Schaltpläne und Chip-Layouts auf dem Monitor im Silo, das waren Wegweiser zur alles entscheidenden Schwachstelle, zur Achilles-Ferse der Rechnerwelt. Und diese Beweismittel musste Irving natürlich mit allen Mitteln schützen, denn er wusste, dass früher oder später jemand von seinem Geheimnis erfahren würde - und er selbst zum Abschuss freigegeben wäre. Wo also die Daten verstecken? Natürlich nicht auf dem modernen Speicherchip, den jedes Skript-Kiddie in Sekunden knacken kann. Nein, Irving setzte auf Sicherheit durch Seltenheit, arbeitete nur mit antiker Hardware. Er schrieb auf seinem Grid Compass, dem Modell 1101, das sonst nur im Museum steht, und schickte die Daten dann per Telefon an sein treues, aber mittlerweile brutal veraltetes IBM-System. Dabei hat er, typisch Wissenschaftler, einfach auf Statistik vertraut: Wie groß stehen die Chancen, dass ein zweiter Mensch genau diese Antiquitäten noch bedienen kann? Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser jemand alle kleinen Rätsel, mit denen er den Weg zu seinem Archiv in der Wüste markiert, entschlüsselt? Verschroben - aber effizient. Selbst der Raketenbunker erscheint nicht mehr paranoid, sondern nur angemessen, bei der Sprengkraft des Bug. Irgendwie muss sich Captain Obvious jetzt auch gerade hinsetzen.
»Wer herausfindet, wie man den Bug in den Prozessoren ausnutzt, kann alles aus der Ferne eliminieren - Netzrechner, den ganzen Notfallkram im Krankenhaus, Ampeln ...«, spinne ich weiter. Nick schaut düster von unten hoch.
»... eingebettete Systeme in Autos, Panzern, Flugzeugen«, ergänzt er.
»Es wäre die ultimative Waffe. Wer den Bug kennt, kann die Welt zum Stillstand bringen.«
Und dann kommt er doch noch dazu, eine kleine Bombe zu schmeißen.
»Eine Waffe, die das Leben eines Menschen wert wäre.«
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Doch sie schlägt nicht so richtig ein, seine Bombe, denn unausgesprochen schwebt dieser Gedanke schon seit Malaysia zwischen Fahrer-und Beifahrersitz. Der Zeitpunkt und die Art, wie Irving das Gebäude final verlassen hat, war zu auffällig, selbst für Nicht -Verschwörungstheoretiker.
»Du glaubst auch, dass Irvings Tod kein Zufall war?«, frage ich. Nick hockt wie eingefroren da und schweigt.
»Was denn?«
Er schaut etwas verlegen nach unten, weil er Angst hat, dass ich ihn auslache, wenn er sagt, was er sagen will. Nick, der alte Spinner und so. Also muss ich es aussprechen: »Implantat -Hacking. Der Herzanfall wurde von außen herbeigeführt.«
Blitzschnell dreht sich der Beifahrer um und eröffnet das Feuer.
»Genau! Denk doch mal drüber nach: Irving stirbt in genau der Sekunde, in der er sein großes Geheimnis platzen lassen will. Ist total unwahrscheinlich - und völlig untypisch. Damals im Altenheim, da haben sich die Oldies immer erst nach ihrem letzten großen Auftritt in die ewigen Jagdgründe verabschiedet, nach runden Geburtstagen und so. Niemals vorher!«
»Aber wie macht man so was? Wie kann man einen Herzschrittmacher von außen lahmlegen?«
»Da gibt's schon Möglichkeiten. Einige Modelle lassen sich über Funksignale warten, damit der Arzt die Therapie einstellen kann, ohne dass der Patient aufgeschnitten werden muss. Bei den älteren Schrittmachern sind die Funksignale nicht mal verschlüsselt. In dem Fall brauchst du nur ein bisschen Radiozeug für, sagen wir mal. 1000 Dollar - und natürlich das Wissen. Ein paar Jungs haben das schon mal durchgezogen: einfach per Funk einen ausgemusterten Schrittmacher angewiesen, alle Therapiemaßnahmen einzustellen. Beeeeep.«
Er malt mit der Hand eine Flatline in die Luft.
»Allerdings hätte der Angreifer dafür Irving ziemlich nah auf die Pelle rücken müssen; die erste Sitzreihe wäre schon zu weit weg gewesen.«
Wow, ist die Autobahn gerade. Ist bestimmt wieder eine Notlandepiste, eine NLP. Schade, dass ich jetzt nicht den Beifahrer fragen kann, ob's wirklich eine ist, denn dann wäre er total beleidigt, weil ich seinen Vortrag nicht richtig würdige. Die nächste Raststelle huscht vorbei. Auf dem Parkplatz quetschen sich die Laster aneinander wie Elefanten im Zoo, die sich gegenseitig wärmen, wenn der erste Schnee aufs Gehege fällt. In einigen Kabinen brennt schon wieder Licht. Nebenan an der Tanke trägt ein Student, der die Nachtschicht geschoben hat, die Geräte zum Reifendruckmessen wieder raus an die Zapfsäulen. Die Autobahn wacht auf.
»... möglich wäre natürlich auch die brutale Variante. Einfach ein extrem starkes elektromagnetisches Signal auf den Herzschrittmacher abfeuern, das hätte vielleicht auch aus der ersten Reihe funktioniert. Schließlich steht in den Gebrauchsanleitungen von Elektroautos, dass Menschen mit Schrittmacher nicht näher als sechzig Zentimeter an den Motor rangehen dürfen, weil die so stark strahlen. Überhaupt: War es nicht so, dass da jemand sofort aufgesprungen ist, als Irving zusammenklappte? Vielleicht war es ja genau umgekehrt: Dieser jemand ist aufgestanden, um näher an sein Opfer ranzukommen, und hat dann das Funksignal abgefeuert, zum Beispiel mit einem Sender, der in einer Tasche ...«
Junge, Junge. Kann ja alles sein, aber die Geschichte ist doch längst gegessen, vorbei, begraben. Major Tom hat gesagt, dass sie uns in Ruhe lassen werden, und das haben sie getan. Basta. Es gibt keinen Grund, sich weiter einen Kopf zu machen. Vielleicht ist genau das »mein Problem«, von dem Nick immer spricht. Aber das Rätsel ist gelöst, weiterspekulieren führt zu nichts. Er verpulvert wertvolle Energie, die er besser für die nächsten paar Jahre aufsparen sollte, denn dann wird er sie verschärft brauchen. Mag sein, dass genau hier der Unterschied zwischen einem Legacy Systems Consultant und einem Data Retrieval Specialist liegt, doch es ist mir egal. Ab morgen wird gelebt. Ein bisschen von diesem Morgen kann man sogar schon sehen. Hinter Nicks Hand, die mittlerweile wieder durch den Nachtwind surft, schimmert es grau durch die Bäume.