#45 T-2: 00:45
Wie viel Meter werden das sein - von hier aus bis zum Bullenwagen? Vielleicht zwanzig, sicher nicht mehr. Wir müssten nur vom Grundstück der Tanke, auf der John geparkt hat, runterrennen, über die menschenleere Straße sprinten und rein in das Restaurant, vor dem der Cop parkt. In ein paar Sekunden könnten wir da sein - falls John den Wagen nicht so verrammelt hat, dass wir nicht rauskommen. Dafür müsste er aber an dem Lieferwagen rumgeschraubt haben, denn alle Ami-Autos kann man von innen entriegeln, auch wenn von draußen abgeschlossen wurde, damit man bei einem Unfall nicht drin verreckt. Diese Sperre hätte Major Tom erst mal deaktivieren müssen, aber so eine Schrauberei passt nicht zu ihm, dafür ist er viel zu digital. Der Beifahrer kaut konzentriert auf der Kappe seines Kulis rum. Die letzten drei Stunden hat er keinen Ton von sich gegeben, sondern mit dem Papier geraschelt und gekritzelt, während ich dazu verdammt war, zum Fenster rauszustarren und Angst zu haben. Mittlerweile sehen die Bögen auf der Rückseite fast schwarz aus, weil er so viel in seiner mikrofichegroßen Streberschrift draufgeschrieben hat. Unser ehemals so heiliges Tape, auf dem die Daten drauf waren, rutscht mittlerweile unbeachtet durch den Fußraum. Was soll's, wir müssen es probieren. Ich trete Nick gegen seinen Fuß.
»Alter?«
»Hm.«
»Siehst du den Cop, der da drüben parkt?«
Nick schaut beiläufig raus. Seine Augen brauchen ein paar Sekunden, um sich ans Halbdunkel zu gewöhnen, dann lässt er ein bestätigendes Grunzen ab.
»Bis da sind es doch nur ein paar Meter«, nerve ich weiter, »sollten wir nicht rüberlaufen, dann wäre die Sache endlich vorbei.«
Er legt den Kuli hin und durchbohrt mich mit seinem Was-bist-du-denn-für-ein-Arschloch-Blick.
»Bist du bescheuert? Keine Chance. Solange ich nicht weiß, dass Sabina in Sicherheit ist, geht hier niemand irgendwo hin.«
Er hat natürlich recht, aber es wäre doch so schön einfach. Anscheinend glaubt er nicht, dass ich seinen Punkt schon verstanden habe, denn er krempelt umständlich den Gurt zur Seite, damit er sich mit seinem ganzen Körper zu mir umdrehen kann.
»Also, pass auf.«
Er fährt den Zeigefinger wie zum Duell aus.
»Ich werde dieses Programm entwursteln, bis ich den Bug gefunden habe, John kassiert seine Löhnung, übergibt die Papiere dem NRO, die bringen ihren Sat wieder auf Kurs und dann fahren wir alle schön friedlich nach Hause und nichts ist passiert. Klar?«
»Klar«, knicke ich ein. Die Tür der Tanke schwingt auf und ein Glatzkopf mit einem kurzärmeligen, hellblauen Hemd schaukelt seine gewaltige Wampe über den Vorplatz. In seinem Ohr steckt ein schnurloses Headset - das untrüglichste Spacken-Erkennungszeichen, das die Menschheit jemals hervorgebracht hat. Auf dem Kaffeebecher, den er vor sich herträgt, kippelt obendrauf ein Donut herum. Vermutlich ist er ein sehr tüchtiger Salesman, der Saatgut, Kompressoren oder so was an den Mann bringt. John scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass seine Einschüchterungen von wegen »If you want to see your wife again« bei uns gewirkt haben, sonst hätte er uns nicht hier alleine sitzen lassen, völlig unbewacht, direkt vor dem Eingang zur Tanke. Und sie hat ja auch gewirkt, denn keiner von uns würde auch nur wagen, einen der verchromten Türhebel zu berühren. Neben Nicks Fenster, auf dem Parkplatz für Trucks, drängen sich die Zugmaschinen Tür an Tür, wie schlafende Elefanten. Zahllose Dieselaggregate schnarchen monoton vor sich hin. Für uns europäische Umweltweicheier unfassbar: Die Trucker machen den Motor grundsätzlich nie aus, weil es hier - auf dem halben Weg nach Alaska -selbst im Hochsommer nachts frieren kann. Scheiße, der Himmel ist schon dunkelblau. So hoch im Norden bedeutet das, die Nacht ist in wenigen Minuten vorbei. Noch bevor der Salesman seinen Kaffee runtergestürzt hat, wird die Sonne aufgegangen sein. Nick bleiben nur ärmliche fünf Stunden, um den Fehler zu finden. Da, John stolpert aus dem Laden. Mein Gott, weiß er denn nicht, wie er aussieht? Von seinem Pflaster auf der Stirn zieht sich ein dunkelbrauner Strich aus Schorf die halbe Nase runter, er sieht aus, als wäre er gerade aus einem Autowrack gekrochen. Jeder halbwegs wache Typ in dem Laden wird sich an ihn erinnern können. Ja, da war dieser Typ, dem lief das Blut quer durchs Gesicht, kann mich noch genau erinnern, Officer, er trug einen Anzug, der war schwarz, fast wie für eine Trauerprozession. John kippt im Laufen ein kleines rotes Fläschchen 5 Hour Energy runter, so einen Hokuspokus-Saft, der neben jeder Tankenkasse liegt und der einen angeblich wach hält. Red Bull für Trucker - das soll alles sein? Die echten Wachmacher, Provigil oder so, hat er sicher vorher auf der Toilette eingeworfen. Für den letzten Schluck hält er kurz an, dann reißt er seine Tür auf und schwingt sich ächzend in seinen Sitz. Anscheinend hat John eine halbe Palette Wachmacher gekauft, jedenfalls räumt er eine halbe Ewigkeit vorne im Handschuhfach rum, Flaschen klappern auf den Boden, ein leises »Fuck« rutscht ihm raus. Schließlich fährt er neben der Kopfstütze seine Hand aus und wedelt mit zwei Plutonium-Sandwiches. Fütterungszeit - wie nett. Warum kann er nicht wenigstens mal was sagen? Zu den Stullen gibt's natürlich nichts zu trinken, sonst würden wir ja wertvolle Zeit mit Toilettenstopps verschwenden. Die Banalität des Opferdaseins. Ich beuge mich nach vorne, um unsere folierten Kohlenhydrate in Empfang zu nehmen. Und da sehe ich sie: die Waffe im Handschuhfach. Sie klemmt mit dem Lauf nach vorne zwischen dem AutoHandbuch und etlichen roten Flaschen, nur das Ende des Magazins ragt ein Stück raus. Doch das reicht. Diesen Gummigriff mit den Fingerkerben haben wir schon viel öfter gesehen, als friedliebende deutsche Menschen das sollten. Scheiße. Eine Glock, Vierziger-Kaliber. Die kriegen beim FBI alle Special Agents an ihrem letzten Schultag, behauptet Nick. John ist also doch nicht subtil, wie wir dachten. Er vertraut nicht nur darauf, dass seine Einschüchterungen wirken. Er hat einen Plan B. Wenn wir rumzicken, wird er uns - mit einer Kugel im Kopf-irgendwo am Rand des Highways deponieren.