LEVEL 11

»Okay, du musst zugeben, dass an der Sache was dran ist. Aus irgendwelchen Gründen hat jemand vor 25 Jahren diese Schnitzeljagd veranstaltet. Und bei dieser Verschlüsselung kann es gut sein, dass wir die einzigen Teilnehmer sind!«, rattert Nick runter. Beneidenswert: Obwohl er auch nicht länger als vier Stunden geschlafen hat, kann mein Beifahrer schon wieder Vollgas geben; sein Blues von gestern Abend scheint endgültig verflogen zu sein. Und auch wenn es mir nicht passt, muss ich zugeben, dass er ausnahmsweise Recht hat. Langsam werden die Beweise erdrückend, das muss ich zugeben: »Mm, stimmt schon. Aber was will uns diese Botschaft sagen: located across from the first quarter. Geht es da um ein Viertel, so wie das French Quarter in New Orleans?«

Wir sitzen im Roadside Café, einem Verschlag, der - wie der Name verspricht - direkt neben einem Bundeshighway steht. Vom Boden bis zu den Schallschutzplatten an der Decke sind es wie immer kuschelige 2 Meter 20, die Bestuhlung schreit »Swinging Sixties«, genau wie die Tische mit ihrer abwaschbaren Plastikversiegelung. Auf unserem Tisch stehen Salz, Pfeffer und - wie immer bei Ortschaften mit mehr als 1000 Einwohnern - auch Süßstoff der Marke Sweet&Low. Wären es weniger, würden an seine Stelle ein Fläschchen Tabasco und A1-Steaksoße rücken. Die Deko im Laden trägt deutlich die Handschrift der Dame des Hauses: Geklöppelte Tagesdeckchen baumeln vor den Fenstern, Stockenten bevölkern alle Ecken, die Wand ziert ein Reliefbild mit Pferden. Dafür, dass der Laden vom Highway nur durch einen Parkstreifen getrennt wird, ist es überraschend still. Nur ein verirrter Cop rauscht draußen durch die Nacht, während im Gastraum leise die Kaffeemaschine vor sich hingurgelt und jene perfekt dünne Plörre braut, die bis heute Abend völlig selbstverständlich allen hereinkommenden Gästen angeboten wird. Gutes, altes Amerika. Denkt man sich das ganze Plastik weg, könnte Norman Rockwell hier noch heute reichlich Motive finden. Bis zum ersten Kaffee ist natürlich nicht an Konversation zu denken, und so starrt jeder in seine Highway-Richtung aus dem Fenster. Ich gen Osten, Nick nach Westen. Auf meiner Seite der Straße parkt ein paar Meter entfernt ein Wagen direkt auf dem Grasstreifen. Komisch: Bis auf Polizisten, die mit ihrer Radarpistole Rasern auflauern, traut sich das normalerweise kein Autofahrer, schon gar nicht nachts. Dafür ist die Gefahr, von einem betrunkenen Dorfdeppen mit seinem Monstertruck platt gemacht zu werden, viel zu groß. Scheint ein grauer Taurus zu sein. Je länger ich ins Dämmerlicht starre, desto stärker bilde ich mir ein, zwei Umrisse im Wagen erkennen zu können. Sollte ich Nick darauf hinweisen? Lieber nicht, er hatte die letzten 12 Stunden schon genug Recht, und außerdem vertrage ich keine Verschwörungstheorien auf leeren Magen. Wir sind die ersten Gäste, sogar noch vor der Bedienung. Deshalb nimmt eine nette Mom, die sonst wohl in der Küche steht, unsere Bestellung auf.

»They're really huge «, warnt die in die Jahre gekommene Sally Field meinen Kumpel, als der, wie jeden Morgen, einen Dreierstapel Pancakes bestellt. Damit hat sie Nick natürlich an seiner Jungs-Ehre gepackt, und er schüttet, kaum dass die Lady seine Bestellung gebracht hat, noch einen Hektoliter Ahornsirup über den Pfannkuchenberg. Punk! In diesem Moment piepst aus einer Kuckucksuhr an der Wand der Beatles—Hit »The long and winding road«.

»Nice, isn't it?«, fragt uns Mom stolz. Wir nicken heftig, aber wortlos, um keinen Angriffspunkt für ein längeres Gespräch zu bieten. Dann befördern wir wortlos unser Essen in den Magen.

»Carbing up« lautet die Devise - schnell Kohlenhydrate auffüllen.

»Also«, nuschelt Nick, nachdem er ungefähr ein Drittel seines Pancake-Gebirges weggeschaufelt hat, sodass es jetzt wie ein Pac-Man aussieht.

»Fest steht, dass mit Quarter sicher nicht ein Stadtviertel gemeint ist, sondern halt der Geld-Quarter.«

In Amerika kostet ein Spiel am Automaten traditionell 25 Cent, also einen Vierteldollar oder Quarter. Die Herren von der Datacorp haben uns diesmal anscheinend ein Worträtsel hinterlassen.

»Aber wo wurde der First Quarter, der erste Quarter gespielt?«, drehe ich Nicks Gedanken weiter, »Anfang der Siebziger kam ja mit Computer Space der erste Arcade-Automat auf den Markt, aber der war ja kein richtiger Erfolg, da hat kaum jemand einen Quarter reingeworfen. Das ist sicher nicht gemeint.«

Nick schaufelt weiter Pancakes in sich hinein, während ich die Reste meines Bagels mit einem O-Saft runterspüle. Zwischen zwei Bissen fasst er zusammen: »Okay, dann gibt es nur einen Kandidaten - Pong .«

Natürlich, die offensichtliche Wahl, der Einzeller der Spiele-Evolution. Mit dem Game verließen Computerspiele die Labors und Universitäten, um ihren Aufstieg zum wichtigsten Medium des 21. Jahrhundert zu beginnen. Bei uns zuhause zog der Klassiker als TV-Multi-SpielGerät ein. Universum, die Elektronikmarke des Versandhauses Quelle, hatte die graue Kiste - so groß wie eine Warmhalteplatte im China-Restaurant -, gerade billig auf den Markt geworfen. Für das Familienleben sollte der Zuwachs ein Desaster werden: Denn von dem Abend an, an dem mein Vater das Ding nach Hause gebracht hatte, zockten wir in jeder freien Minute nur noch Squash oder Fußball - beides nur leicht veränderte Varianten von Pong . Das heißt, man musste mit einem weißen Balken einen weißen Punkt gegen eine Wand lenken. Damals erschien uns die Technik wie Magie: ein Knopfdruck, und die Schläger schrumpften auf halbe Breite, ein weiterer, und der Ball raste mit doppeltem Tempo über den Bildschirm. Wir liebten den Kasten und spielten so lange, bis uns die Augen brannten oder Kulenkampffs »Einer wird gewinnen« im Ersten anfing; dann war Eurovision statt Telespielen angesagt. In den Ohren eines Grundschülers klang das monotone »Pong «, das der Ball bei jedem Abprallen gemacht hat, wie der Sound der Zukunft schlechthin. Legenden zu Pong gibt's natürlich fast mehr als Kopien des Spiels, aber welche hat mit einem »Quarter« zu tun? Doch, da gab es mal eine. Ohne zu fragen, lange ich über den Tisch und ziehe Nicks Rechner zu mir rüber, den er als echter Nerd schon vor dem Frühstück hochgefahren hat. Zugang ist auch kein Problem, da das Motel um die Ecke seinen Router liebenswerterweise mit dem Passwort »admin« schützt. Ich klicke mich durch ein paar Datenbanken. Das könnte es wirklich sein.

»Schon mal was von Andy Capp's gehört?«, frage ich - stolz, auch mal was zu unserer Spurensuche beitragen zu können.

»Nö«, sagt Nick. Alle aufgepasst, jetzt kann ich mal was erklären: »Mann, das ist das Cape Canaveral der Spiele - der Ort, wo die Sache das erste Mal richtig abgehoben hat!«

In knappen Worten fasse ich zusammen, was ich mir selbst gerade angelesen habe, versuche dabei aber zu klingen, als hätte ich alle Details im Kopf, wie Nick halt. Wir schreiben das Jahr 1972: In München findet die Olympiade statt, Willy Brandt ist Bundeskanzler, Baader und Meinhof werden verhaftet. Unbeeindruckt von der prekären Weltlage schraubt ein Ingenieur in den USA zu dieser Zeit an einem alten Schwarz-weiß-Fernseher herum. Er hat die Röhre mit einem Haufen Transistoren verbunden, zu einem Gerät, das später Telespiel genannt werden wird. Anders als die Zukunftsprodukte der Fünfzigerjahre sieht dieses nicht stromlinienförmig oder elegant aus. Die Apparatur besteht aus einem Kabelwirrwarr und steckt in einer schmucklosen Holzkiste. Der Sinn dieses neuen Typs von Unterhaltungsgerät ist ganz einfach: Ein Spieler steuert einen weißen Balken auf dem Bildschirm rauf und runter, an dem ein weißes Kästchen abprallt und gegen eine - richtig - weiße Wand springt. Wer den zurückspringenden Ball durchlässt, hat verloren. Natürlich tüftelt der Ingenieur nicht nur aus Spaß. Ein Mann hat ihn beauftragt, das Gerät zu bauen. Sein Name ist Nolan Bushnell, und er führt eine Firma namens Atari, die damals genau einen Mitarbeiter zählt, nämlich Bushnell selbst. Der Geschäftsmann wiederum hat die Idee zu diesem neuartigen Spielautomaten zwar auch nur woanders geklaut, ist aber fest entschlossen, auch damit Geld zu verdienen. Als er das erste Mal den flimmernden Ball auf dem Bildschirm sah, dachte er spontan an Pingpong - und schon ist der Name für sein Kind gefunden: Pong . Wie würden die Menschen auf das Gerät reagieren? Bushnell, ein Vollblut-Geschäftsmann, ist klug genug, zuerst Marktforschung anzustellen, bevor er sein gesamtes Vermögen von 500 Dollar in die neue Technologie steckt. Deshalb beschließt er, den Prototypen zu testen, und zwar in einer Kneipe um die Ecke von seinem Büro: Andy Capp's Tavern. Der Laden ist nicht gerade die beste Adresse am Ort, eher ein Auffangbecken für alle, die im Sonnenstaat Kalifornien noch nicht ihr Glück gefunden haben. Durch die dunkle Kneipe zieht immer ein schaler Bierhauch, der Boden ist mit Erdnussschalen übersät, und mit der gleichen Nachlässigkeit wird auch das neue Hightech-Gerät behandelt. Der Besitzer stellt es einfach auf ein altes Weinfass in der Ecke. Dann passiert lange Zeit erstmal nichts. Bushnell beginnt sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass auch dieses Videospiel wie sein Erstling Computer Space ein Reinfall wird. Nach zwei Wochen schließlich, als der Atari-Boss schon gar nicht mehr damit rechnet, meldet sich der Wirt vom Andy Capp's und berichtet, dass schon morgens früh, wenn er den Laden aufschließt, die ersten Kunden anstünden - und zwar nicht für einen Frühschoppen, sondern um an diesem neuen Automaten zu spielen. Allerdings sei mit dem Gerät irgendetwas nicht in Ordnung, so der Wirt, vielleicht müsse nur mal die Geldkassette geleert werden. Der Vorschlag kommt keinen Tag zu spät, denn als der Erbauer des Kastens bei Andy Capp's Tavern ankommt, wartet eine Überraschung auf ihn: Der provisorische Weidenkorb unter dem Einwurfschlitz ist so voll, dass sich die Münzen schon im gesamten Gehäuse verteilt haben. Bushnell, der das Spiel eigentlich an einen Flipperhersteller verkaufen will, stoppt alle Verhandlungen und entscheidet sich, Pong selbst zu vermarkten. Eine Entscheidung, die ihn binnen weniger Jahre zum Multimillionär machen wird. Bis heute gilt Andy Capp's als Geburtsort der interaktiven Unterhaltung.

»Da fiel der erste Quarter ! Mensch, der erste Quarter!«

Nick scheint meine Deutung der Dinge nicht wirklich vom Hocker zu reißen. Sichtlich geschafft kaut er am letzten Drittel seines Mount Pancake und lässt vernehmen.

»Klar könnte das gemeint sein, aber so richtig hart ist es nicht, das musst du zugeben.«

Da hat er nicht Unrecht. Ich checke im Netz noch kurz ein paar Details.

»Ist eine Adresse in Sunnyvale, da kommen wir doch eh vorbei «, schlage ich diplomatisch vor. Unser Rückflug geht ab Los Angeles, und die paar Meilen bis ins Silicon Valley fahren wir vorm Frühstück - selbst wenn wir vorher noch einen ausgiebigen Schlenker durch Nevada und Oregon machen. Mehr Energie stecke ich nicht in meine Überredung, da mein Beifahrer ohnehin zustimmen wird, allein schon, um nicht selbst eine Alternative vorschlagen oder etwas entscheiden zu müssen.

»Hm, okay«, murmelt Nick, während er mit seiner Kaffeetasse Richtung Mom wedelt, um einen Nachschlag zu bekommen. Damit ist es entschieden: Wir reisen weiter nach Westen, rückwärts in der Zeit - eine in jeder Hinsicht gute Richtung. Am Schluss muss Nick doch vor den Pancakes kapitulieren - der Berg war einfach zu hoch. Unsere Bedienung, sichtlich in ihrer Mom-Ehre bestätigt, quittiert seine Niederlage beim Abräumen mit der Bemerkung: »You did better than I thought!«

Als wir rauskommen. hat der Tag schon angefangen. Ein paar Vögel zwitschern, und das Neonschild vor dem Café knistert entspannt vor sich hin: O, P,E, dann N - und wieder aus; in ein paar Minuten wird der Lichtsensor den Strom wohl abstellen. Bevor wir zum Parkplatz hinterm Haus einbiegen, drehe ich mich nochmal kurz um. Der Grasstreifen neben dem Highway ist leer, der Phantomwagen muss also weggefahren sein, während wir bezahlt haben. Ganz leise hängt noch das Summen eines Motors in der Luft. Ich schaue in die andere Richtung. Da! Die roten Lichtbalken am Heck der Limousine verschwinden gerade hinter der Hügelkuppe. Shit. Und es sitzen wirklich zwei Typen drin. Zwei! Niemand in Amerika fährt freiwillig zu zweit, niemand. Deshalb sind die Fahrspuren für Fahrgemeinschaften auf den Freeways in L.A. auch immer leer. Kein Mensch käme hier auf die Idee, jemanden mitzunehmen. Für einen Moment zieht sich etwas in meinem Bauch zusammen, wie auf der Achterbahn kurz vor der Schussfahrt. Ich drehe mich zu Nick um.

»Alter?«

»Hm.. Er hat sich an der Kasse einen Zahnstocher genommen und lässt das Hölzchen pseudocool aus dem Mundwinkel hängen. Ich schaue nochmal nach Westen. Der Wagen ist endgültig im hellgrauen Rest der Nacht verschwunden.

»Ach nichts«, sage ich und drücke auf die Fernbedienung der Zentralverriegelung.

Extraleben - Trilogie
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