LEVEL 18
So vorsichtig, als ob er mit einem Reagenzglas voll Nitroglyzerin hantiert, klebt Nick die schwarze Pappe auf den Scannerdeckel. Dann positioniert er genauso penibel den Lochstreifen auf dem Glas. So müssten sich die Löcher später gut genug in der Grafik abzeichnen - vorausgesetzt, wir schaffen es, den Streifen bei jedem Scan immer gleich aufzulegen. Denn das ist unser Plan: Statt mühsam einen Lochkartenleser zu organisieren, jagen wir den Papierstreifen einfach durch einen Scanner und lesen die Daten so aus, wie ein Foto eben. Während er noch den ersten Streifen zurechtrückt, rechnet sich Nick schon mal fertig: »Ich habe mal nachgeschaut: Auf einen Zentimeter kommen ungefähr vier Reihen mit Löchern, also 4 Byte. Das macht 400 Byte pro Meter. Unser Scanner hat eine Auflagefläche von ein bisschen über 30 Zentimeter, und jeder Scan dauert mit Auflegen und allem Drum und Dran eine Minute. Ergibt eine Lesegeschwindigkeit von sage und schreibe zwei Byte pro Sekunde! «
Er fängt an, hysterisch zu gackern. Nicht gut. Ihm scheint die vorgetäuschte Ernsthaftigkeit, mit der wir unsere Forschungsreisen traditionell betreiben, langsam abhanden zukommen. Mich interessiert an der Rechnung eher der Zeitfaktor. schließlich wollen wir in drei Tagen in L.A. abfliegen. Wenn die Schätzungen richtig sind, hätten wir in ein paar Stunden den gesamten Streifen ausgelesen. Sei technisch alles kein Problem, meinte Nick, zumal das Papier so frisch und weiß aussehe, als sei es gerade aus der Fabrik gekommen. Wer die hirnverbrannte Aufgabe übernehmen darf, den meterlangen Streifen Stückchen für Stückchen durch den Scanner zu ziehen, haben wir schon gestern Abend beim Bierdosen-in-den-Papierkorb-Werfen ermittelt. Ich finde, dass die Bedeutung der Auge-Hand-Koordination insgesamt überschätzt wird. Während ich, der Scan-Sklave, im dunklen Zimmer auf dem Boden kauere, kippelt Nick draußen vor derMoteltür mit dem Stuhl gegen die Klimaanlage, wobei er peinlich genau darauf achtet, mit keinem Teil seines Körpers in die Sonne zu kommen. Er schiebt gelangweilt seine Dose Mountain Dew mit dem Fuß hin und her. Aus Langeweile habe ich eine Diskussion darüber angestiftet, wer ein wirklich cooler Amerikaner ist oder war.
»Also, Burt steht auf jeden Fall auf der Liste, das ist ja mal klar. Dann natürlich noch Rick Simon, der Coole aus Simon & Simon«, meint Nick sehr bestimmt. Zu dem Namen fallen mir nur das WWF-Vorabendprogramm und ein gigantisches Paar Koteletten ein. Mein Beifahrer scheint sich mit der Serie intensiver beschäftigt zu haben.
»Ein echtes Raubein!«, belehrt er mich. Zum ersten Mal seit Tagen macht er länger als fünf Minuten einen zufriedenen Eindruck, fast so, als könne er unsere Ankunft in L.A. und damit das Ende unserer Reise kaum erwarten. Da der moteleigene Pool selbstverständlich kein Wasser enthält, bleibt uns nichts anderes übrig, als in bester Asi-Manier in und vor unserem Zimmer abzuhängen. Wir stecken in Blythe fest, einem Dreckskaff, das seine Existenz überwiegend der Interstate 40 verdankt, die tagtäglich Tausende von Trucks aus Arizona nach Kalifornien rüberschaufelt. Theoretisch hätten wir längst nach L.A. reinfahren können, aber irgendwie erschien es uns unangemessen, bevor wir das große Geheimnis gelöst haben. Also sitzen wir hier, ich scanne und brüte weiter über der Liste der coolsten Amerikaner.
»Jonathan Hart?«
»Lee Majors?«, sagt Nick und bewegt, begleitet von einem »Tsch-tsch-tsch« seinen Arm in Zeitlupe nach vorne.
»Ah, der inflationsbereinigte Fünfzehn-Komma-zwei-Millionen-Dollar Mann.«
Mein Ökonomenwitz verhallt unkommentiert. Schon nach wenigen Minuten wird klar, dass wir den Aufwand, die Lochkarten einzuscannen, brutal unterschätzt haben; das ist ein echter Job für Analfixierte: Jeder Streifen muss millimetergenau gleich auf den Scanner gelegt werden, sonst findet Nicks selbst gestrickte Bildverarbeitung nicht das erste Loch sprich Bit, und nachher fehlen Daten im Programm. Außerdem darf nicht aus Versehen die gleiche Zeile zweimal gescannt werden. Als Hilfe habe ich Klebestreifen auf dem Scannerglas verteilt und streiche außerdem jedes gelesene Teilstück mit Bleistift durch. Trotzdem ist nach zwei Stunden gerade mal die Hälfte von schätzungsweise 13 Kilobyte gescannt. Dabei könnte mein Teint durchaus auch ein wenig Wüstensonne vertragen; wir sehen nach den Wochen auf der Straße aus wie Engerlinge. Mist. Die Aussicht darauf, im Endeffekt vielleicht nur die Gehaltsabrechnung des Datacorp-Pförtners von 1974 zu finden, hebt die Stimmung auch nicht gerade. Besser gesagt: meine Stimmung. Nick hat das Analyseprogramm beneidenswerterweise schon vor dem Frühstück fertig gehabt und genießt den Ausblick auf den leeren Parkplatz. Ich dagegen habe die Lochkarte gezogen. Mit der Amerikaner-Liste geht es nicht richtig voran, deshalb gebe ich ein neues Stichwort: »Der geilste Retro-Cheat aller Zeiten. «
Das ist Nicks Hometurf, und er beißt sofort an: »Zunächst einmal wäre da der Klassiker ...«
Also alles, was in seiner Jugend cool war.
» ... Space Invaders: Wenn du mit dem dreißigsten Schuss das UFO erledigst, kriegst du 300 statt 50 Punkte. Der Trick funktioniert, habe ich selbst im Emu mal ausprobiert.«
Gelobt seien Emulatoren. Cheats in der Spielhalle auszuprobieren hätten wir uns früher ja gar nicht leisten können. 20 Mark zu investieren, um wirklich auf den dreißigsten Schuss zu warten, war unvorstellbar. Nach kurzem Nachdenken doziert Nick weiter: »Angeblich kriegt man beim alten Atari Star Wars-Game, du weißt schon, das mit dem Vectorgrafik-Anflug auf den Todesstern, 255 Leben, wenn man Darth Vaders Tie-Fighter dreißigmal hintereinander trifft. Soll aber unmöglich sein. Funktionieren tut dagegen der Trick, am linken oberen Bildrand abzuhängen und so den Schüssen zu entgehen.«
Weil ich weiß, wie viel Spaß ihm das Thema macht, gebe ich weitere Stichworte.
»Was ist denn mit dem Commando-Cheat, bei dem man zum unteren Bildrand rausschießt, die Kugeln oben wieder rauskommen und die Gegner von hinten erwischen? Beim C64 funktionierte das nicht, aber beim Original aus der Spielhalle lässt sich mit dem Trick der Endlevel angeblich spielend leicht schaffen. Und kann man bei Duck Hunt jetzt den Hund abschießen, der die abgeballerten Enten einsammelt, oder nicht?«
»Commando geht, Duck Hunt ist eine reine Legende«, stellt Nick trocken fest.
»Und der Atari Shuffle?«
So hieß damals ein Trick, mit dem sich die Kids in den Arcaden früher angeblich ein Freispiel bei Pong beschafft haben. Damals ging das Gerücht um, ein kleiner elektrischer Schock am Einwurfschlitz würde dem Computer vorgaukeln, ein Geldstück sei eingeworfen worden. Um sich mit der nötigen statischen Elektrizität aufzuladen, rieben die Zocker daraufhin wie wild ihre Nike-Air-Turnschuhe am bordeauxroten Teppichboden. Da das Ganze wie ein Tanz aussah, taufte man den Trick Atari Shuffle. Angeblich sollen Nylonblousons - gegen den Teppich gerieben - auch funktioniert haben.
»Da meine neongrüne Elho-Freestyle-Jacke gerade zusammen mit der Vanilla-Jeans in der Wäsche ist, können wir das nicht ausprobieren«, witzelt Nick, »und den Trick mit den Quartern aus gefrorenem Wasser würde ich lieber nicht testen«.
Und so geht sie weiter, die Rundfahrt um alle Themen, die uns Freude machen: Wir spekulieren über Intelink, das geheime Datennetz der amerikanischen Geheimdienste, fragen uns, was auf den Fernsehaufzeichnungen von der Mondlandung zu sehen ist, die die NASA verschlampt hat, diskutieren über den neuesten UFO-Hype - unbekannte Unterseeobjekte. Unterdessen fädele und markiere ich, während sich der Windowsbalken im Kopf nach und nach füllt. 8K, 9 K, 10 K. Welches Geheimnis diese Löcher wohl bergen? Was Unterhaltung angeht, sind wir auf uns selbst gestellt, da der Motelbesitzer wohl vergessen hat, die Kabelgebühren zu zahlen. Im Fernsehen läuft nämlich nichts. Nicht im Frauensinn, also »kein Film mit Hugh Grant«, sondern wirklich nichts. Alle Kanäle sind schwarz, bis auf den Schriftzug: »Your digital service has been disconnected. Please contact your cable operator for assistance.«
Auf dem breiten Boulevard, der sich quer durch Blythe zieht, rumpeln die mexikanischen Wanderarbeiter mit ihren ramponierten Pickups in den Sonnenuntergang. Für ein paar Minuten brennt der Himmel, und wenn vor dem Scherenschnitt der Flachdächer ein paar einsame Palmen tanzen, kann man fast verstehen, warum die Leute denken, hinter den Bergen im Westen fange das Gelobte Land an. Nach gefühlten fünf Stunden surrt der Kopf des 10-Dollar- Scanners das letzte Mal in seine Ausgangsposition zurück - fertig. Meine Fleißarbeit hat ein ganzes Verzeichnis voller Grafikdateien produziert; irgendwo da drin muss das letzte Puzzleteil vergraben sein. Beiläufig fällt mein Blick auf das Ende des Lochstreifens, der sich über den fleckigen, grauen Teppich kringelt. Auf dem letzten Zentimeter schimmert blass ein Wasserzeichen durch. Ich halte den Streifen ins Licht. Deutlich sind nun die Buchstaben erkennbar: DEC.
»Alter, schau mal.«
Nick beugt sich von draußen rein und zieht den Streifen zu sich rüber: »Scheiße.«
»Warum scheiße?«
»DEC steht für Digital Equipment Corporation; das war in den Siebzigern der führende Hersteller von Mainframes. Nicht gerade unsere Liga; das bedeutet echt Arbeit, Alter.«
Sofort scheint seine gute Laune verflogen zu sein. Großrechner. Elektronenhirne. Das Master Control Program. Ein riesiger white room, eingemauert von Schränken, in denen Magnetbänder wie stumme Sklaven hin-und herzucken. In Zeitlupe schreitet eine Datentypistin, die aussieht wie Laura Holt aus der TV-Serie »Remington Steele«, quer durch den Raum zu einem der Schränke. Bedächtig wechselt sie eine Spule, fädelt das Band wieder ein und kehrt - immer noch in Zeitlupe - an ihr Terminal zurück. Ihre hochgeschlossene Seidenbluse flattert in der klimatisierten Luft, wie bei einem Model, das vor einem Ventilator posiert. Als sie beim Hinsetzen die Beine übereinander schlägt, rutscht der Saum ihres Tweedrocks - in einer finalen Explosion von Cheesyness - leicht hoch. Dann ist nur noch das leise Klickern ihrer manikürten Fingernägel auf der Tastatur zu hören, während sie auf die bernsteinfarbene Schrift des Monitors starrt. Futureworld - willkommen in der Welt von Morgen. Nochmal mit Echo: Futureworld-world-world-orld-ld-d-d. So versiert wir früher mit unseren 8-Bittern waren - von dieser Welt trennten uns schon immer Lichtjahre. Unser einziger Kontakt zum Planeten der Mainframes war dieses Papier, das mein Klassenkamerad Roland Alpers in der Unterstufe immer in die Schule mitbrachte. Sein Dad arbeitete in einem staatlichen Forschungszentrum, irgendwas in Richtung Radioastronomie, Kernkraft oder Teilchenbeschleunigung. Was er genau machte, konnte selbst Roland nicht erklären. Eines jedenfalls stand fest: Es wurde viel dabei ausgedruckt. Und um das Budget der Schule zu schonen, spendete sein Vater stapelweise benutztes Papier aus dem »Institut«, wie Roland immer sagte. Es war am Rand perforiert, hatte vorne grüne Streifen drauf, und manchmal konnte man noch die Spuren eines Nadeldruckers erkennen, der einige Zahlen und Buchstaben ins Papier gehämmert hatte. Viele Erdkundestunden haben wir über diesen geheimnisvollen Artefakten gebrütet, anstatt uns mit den Endmoränen der Eiszeit zu beschäftigen. Brutal reißt mich Nick aus meiner Retro-Vision: »Lass uns erstmal was essen.«
Dabei wehte gerade so eine angenehme Nostalgiebrise von Sechzigerjahre-EDV heran. Das ist auch so ein Ding: Sehnsucht nach alten Zeiten, die man selbst nie erlebt hat. Mit dem 68er-Kram zum Beispiel kann ich nichts anfangen, und trotzdem gibt es Momente, da glaube ich zu wissen, was meine Eltern an dem Tag fühlten, als Benno Ohnesorg starb. Oder als 1989 die erste Loveparade über den Kudamm zog.