LEVEL 02

Freitagabend, in einer mittelgroßen Stadt am Rhein. Nicks Wohnung liegt in einem Block, der Anfang der Achtziger gebaut wurde, also in einer Phase, als Messing und Rauchglas furchtbar angesagt waren. Bis heute gibt sich die Hausverwaltung alle Mühe, das Ambiente zu erhalten, und hat erst kürzlich auf allen Etagen neue gerahmte Kandinsky-Poster aufhängen lassen. In diesem Museum wohnt Nick, so lange ich denken kann. Wie lange genau, könnte ich gar nicht sagen, jedenfalls hat er schon ungefähr fünf Nachbarn überlebt. Das läuft immer gleich ab: Irgendein Student fährt mit seinem Kleinwagen vor, packt alles in die 40-Quadratmeter-Bude nebenan, klingelt bei Nick und verspricht, mit ihm mal einen trinken zu gehen. Wenn man den Typen das nächste Mal sieht, hat er sein Vordiplom in der Tasche und ein Mädel kennen gelernt, das schon provisorisch eingezogen ist. Nach ungefähr vier Monaten scheitert das Experiment, es zu zweit in diesem Stall auszuhalten. Dann fährt ein Kastenwagen fährt vor, und ihre Kommilitonen helfen ihnen beim Umzug in eine 100-Quadratmeter-Wohnung, wahrscheinlich ihr letzter Umzug mit Kumpelunterstützung. Und pronto: Der nächste Student kommt. Obwohl Nick immer steif und fest behauptet, dass er es »interessant« fände, wenn wieder ein neuer Nachbar einzieht, frisst es ihn insgeheim natürlich an - schließlich führt ihm jeder neue Ersti vor Augen, dass alle weiterziehen und nur er auf der Stelle tritt. Das, und die Sache mit Sabina, liegen ihm schwerer auf der Seele, als er zugibt. Umso wichtiger ist es mir, meinen besten Kumpel heute Abend ein wenig aufzuheitern, und womit ginge das besser als mit Ballern bis tief in die Nacht. Ich stehe im Aufzug und checke meine Ausrüstung: zwei Sechser Corona - Check, eine Packung Quaxi-Fröschli von Haribo für Nick - Check, eine Packung fettreduzierte Ofenchips für mich - Check. Das müsste für die ersten Runden reichen. Der Aufzug rumpelt in den dritten Stock, und ich stehe vor der Türmatte. die Nicks Mutter ihm zum Einzug geschenkt hat und auf der in großen grünen Buchstaben »Bed & Breakfast« steht; ihre Augen waren ein bisschen feucht, als sie ihm die überreicht hat, deshalb bringt es der alte Melancholiker nicht übers Herz, das zerfranste Jutemonster wegzuschmeißen. Es dauert eine Minute, bis Nick zur Tür geschlorrt ist.

»Alles klar?«, murmelt er, schon halb wieder auf dem Weg zu seinem Sofaplatz. Sein Look ist heute Abend wieder ausgesucht elegant: Er trägt eine alte Jeans, schwarze Norwegersocken und ein weißes T-Shirt aus dem Dreierpack. das unterhalb des Kragens schon ein bisschen eingerissen ist.

»Alles klar«, sage ich und haue mich neben ihm aufs Sofa.

»Was spielen wir?«

Das Coolste an Nicks Jetzt-wieder-Junggesellen-Medienbunker ist, dass er wirklich immer die allerneuesten Games da hat - neben dem topmodernen Heimkino ist das für ihn Ehrensache. Also zocken wir drauflos, ohne Rücksicht auf Rahmenhandlung. Intro, Handbuch oder Zwischenszenen. Ist ohnehin immer dasselbe: Irgendein Rick, Jim oder Tom, der früher mal bei einer supergeheimen Spezialeinheit war und da wegen Befehlsverweigerung rausgeflogen ist, will sich 

a) rächen,

b) rehabilitieren oder

c) die Welt vor einer Invasion von

a) Aliens,

b) anderen ehemaligen Spezialagenten oder

c) einer bösen, ultrageheimen Organisation retten.

Blablabla, und so weiter und so fort. Wir starren nach vorne und reden nur das Nötigste: Wie kann man zwischen den Waffen umschalten? Wie ducken? Kann ich auch 'nen Quaxi haben? Klar dauert es mittlerweile immer ein bisschen länger, bis wir ein neues Game beherrschen - man ist ja schließlich nicht mehr 16 und kann stundenlang ermüdungsfrei Commando zocken. Aber Egoshooter kommen dankenswerterweise ja nie aus der Mode. Von Strategiezeugs und Rollenspielen lassen wir grundsätzlich die Finger, dafür sind wir viel zu sehr Old School. Alles, wofür man ein Handbuch oder auch nur ein Bildschirmmenü durchlesen muss, taugt nichts, so lautet unser eisernes Gesetz. Die Instruktionen dürfen das Pong -Limit nicht überschreitenden erste Videospielautomat der Welt kam schließlich auch mit der Anleitung »Avoid missing ball for High Score« aus. In all den Jahren haben wir von dieser Regel, soweit ich mich erinnern kann, nur für Myst eine Ausnahme gemacht. Da sitzen wir also und zocken die Top-Ten der aktuellen Games runter bis zu den Neunziger-Klassikern, Metal Gear Solid , Halo, Quake und so. Da ich mir fest vorgenommen habe, Nick aufzuheitern, stelle ich ihm zwischendrin ohne Vorwarnung eine Frage wie: »U2 und Mondbasis Alpha Eins?«

Das ist so ein Spielchen von uns, oder besser gesagt von Nick. Er hat nämlich ein phänomenales Gedächtnis - nicht nur für Computerspiele, sondern für so ziemlich alles, was jemals über seinen Fernseher geflimmert ist. Und nichts macht ihm mehr Freude, als wenn er damit brillieren kann. Deshalb werfe ich ab und zu ein paar Stichworte in den Raum, zwischen denen er dann eine popkulturelle Verbindung herstellen soll. Freudig erregt wie ein Hund auf der Jagd nach dem Stöckchen schnappt er zu.

»Hm, muss ich über Bande spielen ... Okay: Commander Koenig aus >Mondbasis< wurde von Martin Landau gespielt; den wiederum hatte zuvor die Hauptrolle in >Kobra - übernehmen Sie< bekannt gemacht. In Amerika hieß die TV-Serie >Mission Impossible<. Naja, und Mullen und Clayton von U2 lieferten '96 die Titelmusik zum Kino-Remake von >Mission Impossible< mit Tom Cruise.«

Nicks Gedächtnis haut mich immer wieder um.

»Unfassbar, dass du die Namen von den U2-Clowns kennst ...«

Diesmal hält die Genugtuung allerdings nicht lange an, und nach wenigen Sekunden verschwindet das zufriedene Grinsen wieder von seinem Gesicht. Nach weiteren zwei Leben meldet er sich aus seinem Brüten zurück: »Weißt du, worauf ich mal wieder Bock hätte? Doom .«

»Drei?«

»Natürlich zwei!«, sagt Nick entsetzt.

»Okay.«

Was immer ihn happy macht. Und schon sind wir wieder in unserem Element: Retrogaming. Wie viele Jungs unseres Jahrgangs sind wir mit Doom auf eine besonders innige Art verbunden. Das Spiel war eine Art von Offenbarung. Anfang der Neunziger muss das gewesen, kurz vor dem Vordiplom. Einen 386er, ein Nullmodem, eine Palette Karlskrone-Dosen und die BFG 9000, die Big Fucking Gun - mehr brauchten wir damals nicht zum vollkommenen Glück. Dafür nahm man auch die sperrigen DOS-Befehle hin, lernte »/p« einzugeben, damit der Inhalt einer Directory nicht mehr in Lichtgeschwindigkeit vorbeiraste, und hantierte mit speicherschonenden Startdisketten. Wohl kaum jemand wird jemals vergessen, wie unendlich cool das Grunzen der braunen Monster im Kopfhörer klang, wenn man nachts allein in seiner Bude saß. Zum ersten Mal gab es das Gefühl, wirklich in ein Game einzutauchen. Um diesen Genuss heutzutage noch mal zu erleben, muss man tief in die Trickkiste greifen: Längst sind die Rechner viel zu schnell für das alte DOS-Programm geworden, und Laufwerke für die fünf 3,5-Zoll-Disketten, auf denen Doom.exe daherkam, sind bei neuen Rechnern schon seit Jahren nicht mehr eingebaut. Wir haben ein paar Mal versucht, das Spielerlebnis mit moderner Technik nachzustellen - mit Emulatoren und Programmen, die den Prozessor mit unsinnigen Aufgaben bombardieren und so ausbremsen. Doch irgendwas fehlte immer. Nicht umsonst heißt deshalb die oberste Regel beim Retrogaming: Du musst nicht nur die Software, sondern auch die Hardware aufbewahren. Man kann Nick viel vorwerfen, aber nicht, dass er dieses Gesetz nicht befolgt hätte. Im Laufe der Jahre hat er seine Bude in ein Hardware-Hotel verwandelt, das den Vergleich mit einem Museum nicht scheuen muss. Kein Speichermedium ist zu veraltet, und keine Hardware-Plattform zu obskur, um auf diesem Medienfriedhof nicht noch ein Plätzchen zu finden. Nick ist so eine Art Necromaniac der Informationsgesellschaft. er liebt die Untaten des Infozeitalters; bei ihm kommen die Medienzombies längst vergangener Tage unter. Da mein Keller nach drei Rheinhochwassern nicht mehr als Lager taugt, habe ich meine Dead-Media-Sammlung vor ein paar Jahren zu Nick geschafft. Hauptsächlich Audiozeug, ein altes Achtspur-Autoradio, ein seltenes Elcaset Tapedeck, DAT-Recorder und so was. Eigentlich bin ich vom Audiotrip runter, aber ab und zu muss man bei Juwelen doch zuschlagen. Mein letzter Lustkauf war ein Stapel Bone Records aus Russland. So haben sie hinterm Eisernen Vorhang Langspielplatten genannt, die illegal auf benutzte Röntgenfilme gepresst wurden. Wenn man die auflegt, dreht sich dann zum Beispiel eine Lungenaufnahme auf dem Plattenteller, während Ziggy and the Spiders from Mars vor sich hinknistern. Allerheißeste Ware, die aus der Kälte kam. Aber insgesamt haben wir unsere Audio-Video-Phase schon hinter uns, zumal da ja auch kaum was neues Altes dazukommt. Abspielgeräte für Normal/Super 8, 16mm-Film, Bildplatte, Betamax, Video 2000, iCD und so haben wir schon da, genau wie alle gängigen Kameraformate. Wenn Rob Lowe also mal wieder sein selbst gedrehtes Sex-Tape von der Originalkassette anschauen will, kann er gerne bei uns anrufen!

»Dann woll'n wir mal«, nuschelt Nick und schwingt sich vom Sofa hoch. Der uralte Pentium II mit 200 Megahertz, auf dem Doom perfekt läuft, steht noch von unserem letzten Retroanfall spielbereit in der Ecke. Als einziges Zugeständnis an die Halbwegs-Moderne schließen wir den vergilbten Kasten an einen 19-Zoll-Monitor an. Schon nach wenigen Minuten stellen sich heftige Heimatgefühle ein. Für Nichtspieler mag das komisch klingen, aber bei der Refueling Base um die Ecke zu kommen und zum ersten Mal wieder den runden Innenhof zu sehen - das hat was von Nach-Hause-Kommen. Also nach links, wieder links in den dunklen Raum und so lange rumrennen, bis man Dutzende von Troopern auf den Fersen hat. Und dann schön vor dem Eingang verschanzen und einen nach dem anderen abräumen - herrlich. Jeder Strafe , jeder Schritt und Waffenwechsel ist vertraut, jeder Health-Bonus und jedes Armor-Pack tausendmal aufgelesen. Was für Generationen vorher ihre Dorfstraße, die Wacht am Rhein oder der Königssee war, sind für uns die Gassen von Doom , verewigt in den berühmten WAD-Dateien. Als wir den letzten, völlig unmöglichen Level erreicht haben, ist es fast zehn und wir bestellen eine Pizza. Nick nimmt einen fettigen Salami-Lappen und ich einen Salat - mit dem Erfolg, dass mir schon eine halbe Stunde später der Magen wieder knurrt. Im Erdgeschoss seines Blocks gibt es praktischerweise einen Kiosk - einer der Gründe, warum Nick nicht auszieht. Also gehe ich kurz runter, kaufe noch zwei Tüten Chips und ein Clausthaler für mich, für Nick bringe ich zwei Dosen Mezzomix mit. Als ich in die Wohnung zurückkomme, kramt er kopfüber in irgendwelchen Kartons und streckt mir seine Klempnerspalte entgegen.

»Alter, guck mal, was ich mir ersteigert habe«, sagt er und dreht sich um. Stolz zieht er einen Commodore 64 samt 1541-II Diskettenlaufwerk aus dem Karton. Selbst auf zwei Meter riecht das Zeug schon heftig nach eBay; dieser Duft von Wasserschaden im Keller, Entrümpeln in Opas Wohnung und Flohmarkt. Optisch macht das, was mal Inbegriff der Zukunft war, einen eher antiquierten Eindruck. Das Gehäuse der alten Floppy, ehemals das stolze Spitzenmodell. sieht vergilbt aus wie der Zeigefinger einer alten Lady, die ein Leben lang geraucht hat. Und auch die Plastikhaut des Brotkastens wirkt, als habe er 20 Sommer lang in der Auslage eines Schreibwarenladens gebraten - ohne so eine orangefarbene Folie vor dem Fenster, wie manche Geschäfte sie früher runtergelassen haben. Nick hat noch das Urmodell mit beigen Tasten, später waren die, glaube ich, dunkelbraun. Erfrischt seine alte Diskettenbox raus.

»Was sollen wir spielen?«

»Keine Ahnung - schmeiß halt irgendwas rein.«

Wir schließen dieses seltsame Antennenkabel mit zwei männlichen Steckern stilecht an einen Grundig-Fernseher Baujahr 1982 an und haben schon tierisch Spaß dabei, mit einem Schraubenzieher den richtigen AV-Kanal zu suchen. Der Aufbau und das Prickeln, bis alles läuft, sind ohnehin die Höhepunkte unserer Bastelaktionen; danach geht es mit der Begeisterung meistens bergab. Power on, und die erste Überraschung: Es dauert nur eine halbe Sekunde, dann meldet sich das System mit dem legendären Startscreen, drei Zeilen hellblaue Buchstaben auf dunkelblauem Hintergrund:


**** COMMODORE 64 BASIC V2 ****

64K RAM SYSTEM 38911 BASIC BYTES FREE

READY .


Entspannt blinkt der Cursor vor sich hin, bereit, uns auf eine Zeitreise mitzunehmen. Ich greife in den Schuhkarton. nehme eine Floppy heraus, stecke sie ins Laufwerk und drehe den Knebelverschluss. Nick müht sich währenddessen damit ab, das erste Kommando einzutippen - keine einfache Sache, denn die Tastatur ist anders belegt als heutzutage. Wo normalerweise die Taste für Großschrift liegt, haben die Commodore-Leute Run Stop untergebracht; das kostet Umdenkzeit. Wofür Teenager-Hände nur Millisekunden gebraucht hatten, das muss jetzt quälend langsam im Einfingersuchsystem erkämpft werden.


LÓ$“,8


Natürlich, Nick hat noch nicht vergessen, dass man die gängigsten Kommandos wie LOAD oder LIST auch abkürzen kann, indem man nach dem »L«ein hochgestelltes »0« oder »I« eingibt, die beim C64 wie kleine Kringel aussehen. Return. Der Schrittmotor des Diskettenlaufwerks hustet kurz, dann quittiert der Rechner die Eingabe.


SEARCHING FOR $


»Machen wir doch, machen wir doch!«, brüllt Nick - ein bewährter Witz aus Zeiten, als wir noch auf »$« in der Form von Taschengeld angewiesen waren. Raschelnd läuft die Scheibe an und spuckt das Inhaltsverzeichnis aus. Barbarian ist drauf, ein guter Start. Wir laden wahllos eine Datei, die so aussieht, als könnte sie das Schwertduell enthalten. Unweigerlich kommt mir der alte Kalauer in den Sinn: »God save the Queen, 8, 1«.

Keiner, der nach 1975 geboren wurde, hat auch nur die leiseste Chance, den zu verstehen. Warten. Bange Blicke auf den Bildschirm. Läuft alles noch? Die Kiste verlangt mehr Geduld, als wir im Gigabit-Zeitalter gewohnt sind. Dann das erlösende READY. Nick tippt RUN ein. Das Programm läuft tadellos. Nach dem Cracker-Intro dröhnt uns dreistimmiger Synthie-Minnegesang aus dem 5-Watt-Lautsprecher des Fernsehers entgegen. Wir legen sofort los. Plötzlich ist es, als ob das Hirn den Autopiloten reaktiviert hat. Alle alten Moves gehen ohne nachzudenken von der Hand. Kurz den Competition-Pro-Joystick gegen die Laufrichtung legen, gleichzeitig Feuer drücken, und schon köpft Conan der Barbar seinen Gegner - ein netter Dreh, der dem Game damals eine Indizierung beschert hatte und den Titel gleichzeitig zum Favoriten auf dem Schulhof machte. Verboten war immer gut. Doch anders als damals reicht unsere Geduld schon lange nicht mehr dafür aus, das Spiel länger als einen Level durchzuhalten. Mit halber Energie hacken wir ein paar Runden auf uns ein, drücken dann aber schnell auf Run-Stop und Restore, um den Rechner in den Startzustand zu versetzen und eine neue Diskette einzulegen. Als wenn wir wüssten, dass sich morgen früh die Magnetschicht der Floppys endgültig auflöst, fressen wir uns durch die Klassiker: Movie Monsters, Commando, G.I.Joe, dazwischen immer wieder Synthie-Versionen damals angesagter Charthits wie »Big in Japan« von Alphaville. Und Porno, Porno ohne Ende, oder besser gesagt: das, was man damals für Porno hielt, nämlich mit drei Graustufen eingescannte Bildchen aus dem Playboy. Wie völlig unschuldig wir damals waren, wird uns spätestens klar, als wir ein Programm namens »Gigadildo« finden, das abwechselnd die Worte »Schwanz« und »Saftmoese« in verschiedenen Farben auf den Bildschirm druckt. Mehr nicht. Angesichts moderner Pornografie aus dem Netz wäre uns damals wahrscheinlich der Kopf geplatzt, wie dem Typen in dem Horrorfilm Scanners. Passend dazu finden wir eine Art Proto—Moorhuhnjagd mit dem falsch geschriebenen Titel Commando Lybia , die sich schon im Vorspann als »Sadism Game of the Year« lobt. Tatsächlich verspricht der Autor, ein deutscher Herr Pfitzner, da nicht zu viel: Bei dem Spiel geht es darum, so viele Menschen wie möglich abzuknallen, ohne Zeit-und Munitionslimit. Im Bonuslevel stehen die Pixelmännchen sogar schutzlos vor einer Wand, sodass man nur noch von links nach rechts durchmähen muss. So was passiert halt, wenn man Heranwachsenden nicht genug richtige Killerspiele gibt. Nach einigen Disketten wird die Zeitreise allerdings ziemlich ermüdend, weil die alten Sachen eben doch nicht besser waren. Bis auf Uridium langweilen uns die meisten Spiele schon nach ein paar Runden, da hilft auch die rosa Brille nichts, und G.I.Joe besteht immer noch zu 95 Prozent aus Warten und Disketten-Umdrehen. Nur hier und da flammt die alte Begeisterung noch mal auf: Wie das Männchen bei Impossible Mission den Überschlag macht, das ist immer noch geschmeidig; und wie sie den Funkverkehr bei Kennedy Approach digitalisiert haben - toll. Aber im Großen und Ganzen fragen wir uns, wie wir damals stundenlang vor diesem Rechner sitzen konnten: Der Sound plärrt, die pixelige Grafik schmerzt in den Augen, und die meisten Spielideen waren doch ziemlich dünn. Es ist wie beim Stöbern in alten Fotokartons: Erst findet man alles ganz süß und lustig, doch nach dem fünften Karton ist man froh, nicht mehr in dieser Zeit leben zu müssen. Nick will das natürlich nicht wahrhaben und erhöht die Retro-Dosis, indem er eine alte Datasette aus dem Karton fischt und an den C64 anschließt. Dann verschwindet er kurz im Nebenzimmer und kommt mit einem anderen Karton voll muffig riechender Tapes zurück. Er reicht mir eine alte Kassettenhülle entgegen. „Raid over Moscow ?« „Warum nicht?«, sage ich, hole brav das Band aus der Hülle und reiche es ihm zum Einlegen. Was immer dich happy macht, Dude, was immer dich happy macht. Ich schaue mir das Cover an. Respekt - ein Originaltape, das ist schon was Besonderes. Bisher haben wir nur gecrackte Games gespielt, die irgendjemand auf eine Billigdiskette gehauen hat, um sie im Regen auf dem Schulhof schnell gegen andere Games oder ein Raider einzutauschen. Für uns waren die Spiele nicht mehr als eine Handelsware, eine Handvoll Bytes, ein Mittel zum Zweck. Aber das Band hier ist anders: ein Gesamtkunstwerk, wie es sich der Programmierer vorgestellt hat, und obendrein ein Stück Geschichte.

»Play it like there's no tomorrow« schreit es in großen gelben Buchstaben von der Hülle; darüber sieht man ein Flugzeug im Tiefflug durch Moskau rasen. Wie damals üblich hat das Airbrush-Bild auf dem Cover absolut keine Ähnlichkeit mit der kruden Klötzchengrafik, die einen später im Spiel erwartete. Im Endeffekt war das nur ein Sidescroller, bei dem man mit einem Düsenjäger irgendwelche Öltanks abschießen musste. Play it like there's no tomorrow - das ist schon Kalter Krieg pur. Das war damals wirklich ein Thema, wenn auch kein besonders großes. Ich erinnere mich noch, wie wir mit der Schulklasse mal im Phantasialand waren, einem Freizeitpark in der Nähe der damaligen Hauptstadt Bonn. Anfang der Achtziger muss das gewesen sein, kurz nach dem Amtsantritt von Kohl. Während wir uns gerade im hawaiianischen Fischerdorf eine Zuckerwatte kauften, zeigte einer unser Mitschüler zum Himmel und brüllte: »Ein Awacs - geil!«

Und tatsächlich: In diesem Moment rauschte eine dieser Boeings mit riesiger Radar-Untertasse über unsere Köpfe. Dass die Amis in diesem Moment mit ihrem Langstrecken-Radar den Luftraum bis zur polnischen Grenze nach russischen Migs absuchten, fanden wir hauptsächlich cool, mehr aber auch nicht. Über die geopolitischen Hintergründe machten wir uns keine Sorgen, eher darüber, ob wir uns noch mal an der Wildwasserbahn anstellen sollten. So sehr nahm uns der Kalte Krieg damals mit. Heute gibt es das Tiki-Idyll natürlich nicht mehr, und über den Park donnern nur noch die Maschinen der Billig-Airlines im Anflug auf Köln-Wahn - oder Bundeswehrmaschinen, die nach Afghanistan, Timbuktu oder weiß Gott wohin fliegen. Nick hat das Tape in die Datasette gefummelt und gibt LOAD ein. Ein weiterer zum Mythos gewordener Satz erscheint auf dem Fernseher: 


PRESS PLAY ON TAPE


Nick folgt der Anweisung, und mit einem lauten Schleifgeräusch fährt das Band an. Nach einigen Sekunden baut sich eine amerikanische Fahne auf dem Bildschirm auf, und die US-Nationalhymne zerrt in einer 8-Bit-Version aus dem alten Grundig. So etwas wie eine Fünf-vor-zwölf-Stimmung haben wir Jungs damals nicht gespürt. Für uns war der Kalte Krieg eher so eine Art Geisterbahn. Die Luftschutzsirenen auf Frankie goes to Hollywoods »Two Tribes« zu hören, das hatte eben diesen Gänsehaut-Faktor, da konnte man den Mädels im Partykeller gleich noch ein Glas Criss zur Beruhigung einschenken. Und erst dieses amtlich klingende Voice-over mit der Instruktion, im Fall eines nuklearen Angriffs die Opfer mit Namensschildern zu kennzeichnen, bevor man sie - bitte rasch - aus dem Haus schafft. Ganz schön gespenstisch. Lag wahrscheinlich am Alter, dass wir das alles nicht ernst genommen haben. Und obwohl es in Spielen wie Green Beret völlig ungeschminkt darum ging, möglichst viele Russen abzustechen, kam bei uns nie so recht ein Feindbild auf. Da brauchte uns der singende Zeigefinger Sting gar nicht zu belehren, dass die Russen ihre Kinder auch lieb haben. Für Fünftklässler war Breschnew nicht mehr oder weniger real als der Bösewicht bei James Bond, der immer seine Katze im Schoß streichelt. Oder Sex. Vor ein paar Jahren haben sie in Polen ja angeblich die detaillierten Angriffspläne der Russen gefunden, abgezeichnet von Jaruzelski höchstpersönlich. Mit blauen Linien soll darauf die geplante Invasionsroute der sowjetischen Panzer eingezeichnet sein, von Salzwedel über Hannover bis nach Holland. In sieben Tagen wären sie am Rhein gewesen, sagen die Militärhistoriker. Neben Bremen, Bremerhaven und Antwerpen haben die Russen angeblich rote Bömbchen eingemalt - Zeichen für einen geplanten Atomangriff auf die Stadt. Für diesen Fall sollen die Amis auf der anderen Seite sogar schon ein passendes Codewort parat gehabt haben - »Nucflash«.

Das erinnert mich an unseren Plan, mal Point Alpha in Hessen zu besuchen. So hieß damals der östlichste Beobachtungsposten der Amis in Deutschland, ein paar Wachtürme in einem Kiefernwald, direkt vor dem Fulda Gap , durch den die Russen - so vermutete man - im Falle eines Angriffs anmarschieren würden. Ist ja Gott sei Dank nichts draus geworden. Wir sind wohl der einzige Jahrgang, der das Glück hat, Mahnmale eines Krieges besuchen zu können, der nie stattgefunden hat. Knack, die Kassette stoppt plötzlich. Jetzt müsste eigentlich der Sturm auf Moskau mit diesem hammerschweren Level anfangen, bei dem man seine Flugzeuge aus dem Weltraum-Hangar navigieren muss. Doch nichts tut sich. Nick haut auf die Tasten »Run-Stop/Restore« und der Bildschirm schaltet wieder aufs vertraute Dunkelblau zurück.


READY


»Und jetzt?«

»Tja, scheint kaputt zu sein.«

Anders als bei modernen Rechnern lassen sich Programme beim C64 nicht einfach per Klick starten, zumal es keine Maus gibt, mit der man klicken kann. Die Sache ist komplizierter: Software besteht hier nur aus Bytes, die irgendwo im Speicher des Rechners abgelegt werden. Damit der Nutzer sich diese Adresse nicht merken muss, haben die Spiele eine einzige BASIC-Zeile, in der der Startpunkt vermerkt ist, also zum Beispiel SYS 2048 für ein Programm, das an der Speicheradresse 2048 anfängt. Dann muss man nur noch RUN eingeben, und es geht los. Doch bei unserer Version von Raid over Moscow fehlt die Zeile. Na und? Jeder normale Mensch würde sich damit abfinden, dass Moskau ein schönes Land ist - ha-ha-ha-ha-ha -, und erleichtert in die hochauflösende Realität zurückkehren. Aber nicht Nick. Jetzt ist der Informatiker in ihm erwacht. Wie wild gibt er SYS-Befehle ein, stochert im Dunkel des Speichers nach der Startadresse. Zunächst versucht er es mit 4096, 8192, 49152; das sind die runden Hexadezimalzahlen $1000, $2000, $C000,an denen Programmierer oft ihren Code beginnen lassen. Nichts. Ich habe die Hand schon am AusSchalter, da versucht Nick einen letzten, völlig banalen Trick: SYS49153 - er sucht nach einem Programm, das bei C001 startet. Manchmal ließen die Coder früher bewusst das erste Byte weg, genau um wilde Rumtipper wie uns draußen zu halten. Schlagartig verdunkelt sich der Bildschirm. Buchstabe für Buchstabe baut sich ein Text auf, wie live getippt:


WELCOME TO DATACORP


»Oh Mann, was für ein Filmklischee. Fehlt nur noch ein Tastaturpiepsen«, nörgelt Nick. Typisch: Er hat diese deutsche Ingenieurs-Unaufgeregtheit perfektioniert, diese totale Konzentration auf die Technik. Von etwas aus der Ruhe gebracht zu werden ist in seinen Augen eine Schwäche. Vielleicht stand er deshalb so auf diese Schlaftablette Sabina? Die nächsten Worte erscheinen: 


YOU HAVE TAKEN YOUR FIRST STEP INTO A LARGER WORLD 


»Star Wars!«, brüllen wir unisono. Das ist natürlich ein Fall. für Lexikon-Nick: »Diesen Satz sagt Obi-Wan Kenobi, als Luke beim Training mit dem Laserschwert zum ersten Mal die Macht spürt, an Bord des Rasenden Falken, in Teil Eins, äh, Episode IV.«

So, als habe er unser Geschrei gehört, antwortet der VICII-Videochip mit der nächsten Zeile: 


STARS 


In diesem Moment stockt der Cursor, nur ein weißes Dreieck bleibt blinkend stehen. Das war's.

»Abgestürzt, würde ich sagen. Die Wargames fallen aus«, witzelt Nick; natürlich eine Anspielung auf den Film mit Matthew Broderick. Dessen Message - thermonuklearer Krieg ist wie Tic Tac Toe, niemand kann gewinnen - fanden wir schon mit elf peinlich. Ich krame schon mal im Fundus nach einer neuen Kassette.

»Schade, ist wohl doch nur kaputtes Cracker-Intro ...«

»... auf einer Original-Kassette?«, hält Nick dagegen.

»Stimmt, komisch.«

Ich will schon ausschalten, da reißt Nick meine Hand zur Seite.

»Wart mal.«

Er verschwindet in seinem Zimmer und kommt mit einem selbst gebastelten Reset-Taster und reichlich Kabeln zurück.

»Das schau ich mir mal in Ruhe an.«

Diese Ansage kenne ich, jetzt fängt die Bastelei an. Nick wird so lange frickeln, bis er das alte Tape wieder ans Laufen gekriegt hat, da kennt er weder Hunger noch Schlaf. Ich aber schon, deshalb streiche ich die Segel: »Bin mal weg.«

»Hm«, sagt Nick, während er schon neben dem Brotkasten kniet und Kabel zieht. Als ich unten am Kiosk vorbeikomme, schließt der ukrainische Besitzer gerade die Tür zu.

Extraleben - Trilogie
titlepage.xhtml
1Extraleben01.xhtml
1Extraleben02.html
1Extraleben03.html
1Extraleben04.html
1Extraleben05.html
1Extraleben06.html
1Extraleben07.html
1Extraleben08.html
1Extraleben09.html
1Extraleben10.html
1Extraleben11.html
1Extraleben12.html
1Extraleben13.html
1Extraleben14.html
1Extraleben15.html
1Extraleben16.html
1Extraleben17.html
1Extraleben18.html
1Extraleben19.html
1Extraleben20.html
1Extraleben21.html
1Extraleben22.html
1Extraleben23.html
1Extraleben24.html
1Extraleben25.html
1Extraleben26.html
1Extraleben27.html
1Extraleben28.html
1Extraleben29.html
1Extraleben30.html
1Extraleben31.html
1Extraleben32.html
1Extraleben33.html
1Extraleben34.html
1Extraleben35.html
1Extraleben36.html
1Extraleben37.html
1Extraleben38.html
1Extraleben39.html
1Extraleben40.html
2DerBug01.xhtml
2DerBug02.html
2DerBug03.html
2DerBug04.html
2DerBug05.html
2DerBug06.html
2DerBug07.html
2DerBug08.html
2DerBug09.html
2DerBug10.html
2DerBug11.html
2DerBug12.html
2DerBug13.html
2DerBug14.html
2DerBug15.html
2DerBug16.html
2DerBug17.html
2DerBug18.html
2DerBug19.html
2DerBug20.html
2DerBug21.html
2DerBug22.html
2DerBug23.html
2DerBug24.html
2DerBug25.html
2DerBug26.html
2DerBug27.html
2DerBug28.html
2DerBug29.html
2DerBug30.html
2DerBug31.html
2DerBug32.html
2DerBug33.html
2DerBug34.html
2DerBug35.html
2DerBug36.html
2DerBug37.html
2DerBug38.html
2DerBug39.html
2DerBug40.html
2DerBug41.html
2DerBug42.html
2DerBug43.html
2DerBug44.html
2DerBug45.html
2DerBug46.html
2DerBug47.html
2DerBug48.html
2DerBug49.html
2DerBug50.html
2DerBug51.html
2DerBug52.html
3Endboss01.xhtml
3Endboss02.html
3Endboss03.html
3Endboss04.html
3Endboss05.html
3Endboss06.html
3Endboss07.html
3Endboss08.html
3Endboss09.html
3Endboss10.html
3Endboss11.html
3Endboss12.html
3Endboss13.html
3Endboss14.html
3Endboss15.html
3Endboss16.html
3Endboss17.html
3Endboss18.html
3Endboss19.html
3Endboss20.html
3Endboss21.html
3Endboss22.html
3Endboss23.html
3Endboss24.html
3Endboss25.html
3Endboss26.html
3Endboss27.html
3Endboss28.html
3Endboss29.html
3Endboss30.html
3Endboss31.html
3Endboss32.html
3Endboss33.html
3Endboss34.html
3Endboss35.html
3Endboss36.html
3Endboss37.html
3Endboss38.html
3Endboss39.html
3Endboss40.html
3Endboss41.html
3Endboss42.html
3Endboss43.html
3Endboss44.html
3Endboss45.html
3Endboss46.html
3Endboss47.html
3Endboss48.html
3Endboss49.html
3Endboss50.html
3Endboss51.html
3Endboss52.html
3Endboss53.html
3Endboss54.html
Gillies.html