LEVEL 15
Es ist sechs Uhr, und wir spielen Shinobi in Twin Peaks/Oregon. Gut, der Ort heißt nicht wirklich Twin Peaks, aber er könnte so heißen, denn hier sieht es genau aus wie in der Fernsehserie: Zwei Dutzend Holzhäuser quetschen sich in ein Tal, das von schwarzen, bedrohlichen Tannenwäldern umzingelt ist. Noch hat es die Sonne nicht über die Berge geschafft, und ein dunkles Grau liegt über dem Ort, hinter dem sich auch gut das Grauen verbergen könnte. Durch den dicken Morgendunst auf der Hauptstraße blinzeln nur eine Straßenlaterne und eine alte Telefonzelle. Seinen Kirschkuchen bekäme Agent Cooper hier allerdings nicht, da der nächste Coffeeshop zwanzig Meilen entfernt ist. Also müssen wir auf nüchternen Magen zocken. Und all das nur, weil Nick beschlossen hat, seine dreckigen T-Shirts dieses Jahr zu waschen, anstatt, wie sonst immer, einfach bei Wal-Mart ein paar neue zu kaufen. Scheint eine Tour der Traditionsbrüche zu werden. Wir haben natürlich auch schon vorher an einigen Münzwäschereien gehalten - nicht um zu waschen, sondern um eine Runde an einem der alten Arcade-Automaten zu zocken, die hier oft noch stehen. An denen sollen die Leute eigentlich spielen, während sie auf ihre Wäsche warten, und obwohl das außer uns kaum noch ein Kunde tut, werden die Dinger nicht weggeräumt. So haben sich die Coin Laundries im Laufe der Zeit zu einem interessanten Retrogaming-Reservat gemausert. Überhaupt ist dieser Ort angenehm in der Vergangenheit stecken geblieben. Die meisten Betreiber wirtschaften nach dem Motto »Waschmaschine ist Waschmaschine« und kaufen aus Prinzip keine neuen Geräte. Nicht selten sehen die schwimmbadgrün lackierten Monster aus, als habe die Kelly da schon die Uniform von ihrem Tom gewaschen, bevor der als G.I. nach Korea musste. Der Capri Laundromat macht da keine Ausnahme. Die beigen Waschmaschinen sind von der Sorte, in die man seine Sachen durch eine Klappe von oben rein steckt, und rotieren hier gut und gerne seit der Reagan-Ära; zwischen den Gerätereihen liegen ein paar verbogene Wäschekörbe aus Chrom herum. Irgendjemand hat versucht, den beißenden Geruch der Waschmittel mit einem Zimt-Duftspray zu überdecken, mit dem Erfolg, dass es jetzt wie Weihnachten in der Waschküche riecht. Neben der Tür hängt eine Pinnwand mit den dorfüblichen Infos: Hat jemand Allison (14) gesehen? Am 16. August startet die Kartoffelausstellung. Zuchtbulle zu verkaufen, 500 Dollar oder bestes Angebot. Daneben steht ein Automat, aus dem man sich wahlweise Schokozeugs oder Einzelpackungen Waschmittel ziehen kann - natürlich nicht so einen phosphatfreien deutschen Öko-Weichspüler, sondern hartes Amizeug mit Chlorbleiche, das die Wäsche weißer macht als eine Kutte vom Ku-Klux-Klan. Wenn man seine Hemden damit zweimal malträtiert, reißt der Stoff am Kragen auf. Früher haben wir immer versucht, den Trip zur Münzwäscherei romantisch zu verklären, so à la Levi's-Werbung. Mittlerweile mussten wir einsehen, dass in diese Läden kein Nick Kamen reinkommt, um seinen Astralkörper aus der 501 zu schälen, sondern nur Joe aus dem Wohnwagenpark, und der hat kein Sixpack, sondern trinkt höchstens eines. Heute Morgen scheinen wir allein zu sein, jedenfalls im Moment. Auf dem Parkplatz vor der Tür steht zwar ein alter Pick-up - Stoßstangen-Aufkleber: »Born to fish, forced to work« -, und als wir reinkamen, lief schon eine Waschmaschine. Doch der Besitzer der Wäsche hat sich noch nicht blicken lassen. Wir packen zwei Maschinen mit unseren T-Shirts voll, mehr braucht man hier oben ohnehin nicht. Ich versuche, noch ein hellblaues Hemd in die Trommel zu schmuggeln, für den Fall, dass wir in L.A. vernünftig essen gehen wollen - und werde prompt von Nick ertappt.
»Du bist und bleibst ein Scheiß-Popper «, lacht er. Und natürlich stimmt das - schließlich redet er mit einem Mann, der 1982 versucht hat, mit Mamas Lockenstab seinen Scheitel in die gleiche Form zu bringen wie der von Paul Weller. Außerdem beweist Nick, dass in seinem Kopf die Mauern vergangener Zeiten noch bombenfest stehen: Popper hier, Normalo da. Apropos: Mir fällt immer wieder auf, dass nahezu niemand mehr das Wort Popper versteht. Entweder die Leute denken an den Philosophen Popper, an poppen oder verbinden mit dem Wort die Schwulendroge Poppers, die in Kölner Darkrooms angeblich gerne eingeworfen wird. Wahrscheinlich hat Nick mit der Poppersache Recht, aber ich schaff's halt nicht, bei H&M irgendwelches schwarzes Zeugs zu kaufen, mit dem man wie Neo aus »Matrix« aussieht. Und so bleibe ich bei den Ralph-Lauren-Hemden und Chinos - dem Kram eben, den man an der volkswirtschaftlichen Fakultät Mitte der Neunziger anhatte. Immerhin habe ich es geschafft, meine Barbourjacke kurz vor der Jahrtausendwende in die CDU-Kleiderstube zu bringen. Nachdem wir die Maschinen angeworfen haben, bauen wir die verbleibenden Vierteldollarmünzen auf der zerkratzten Scheibe des Shinobi auf. Drei Jahrzehnte Chlordämpfe und Missbrauch haben die Mutter aller Ninja-Sidescroller schwer gezeichnet: An allen Ecken des Gehäuses schaut blankes Holz unter dem Lack hervor, und den Two-Player -Knopf hat jemand mit einer Kippe zu einem braunen Knüddelchen zusammengeschmolzen. Egal. Kurzer Joystick-Check, alle Richtungen gehen noch. Start, ein weiterer Nostalgie-Trip kann beginnen. Schon beim ersten Gegner fällt uns wieder ein, warum wir das Spiel schon damals irgendwie peinlich fanden.
»Geil, die Lederwesten der Punks: mit Schulterklappen drauf«, lacht Nick, während er weiter routiniert die Wurfsterne raushaut, »die sehen original aus, wie Opa sich 1986 einen Punk vorgestellt hat. Irgendwie Mad Max -artig«.
Mir fällt vor allem auf, wie lax die Programmierer seinerzeit mit dem Copyright umgegangen sind. An jedem zweiten Haus sind schamlos Plakate mit Warhols Marilyn aufgehängt, und schon im zweiten Level seilt sich kein Geringerer als Spiderman von einer Wand ab. Wie schnell hätte Sega dafür heute bitteschön einen Prozess am Hals? Die ersten drei Level hat Nick noch erstaunlich gut drauf, doch beim ersten Boss fordern die Jahre ihren Tribut. Schon nach einer Sekunde feuert er vor lauter Angst die Superwaffe ab, nach zwei Sekunden hat ihn die erste Feuerkugel erwischt. Ich schubse meinen Kumpel nach guter alter Sitte vom Joystick weg und fange an. Mission 1. Einige japanische Schriftzeichen kleckern in Zeitlupe auf den Schirm. Warum schreiben Programmierer immer wieder Screens, die man sich sofort wegdrücken kann? Obwohl ich ja schon eine Runde lang zugucken konnte, schlage ich mich nicht besser. Auch bei mir ist beim ersten Boss Schluss. Nach einigem Hin und Her erreichen wir dann doch noch den Bonuslevel, halten ihn aber ebenfalls nicht durch.
»Oh Mann«, stöhnt Nick, »den haben wir damals immer geschafft«.
Schließlich geht es ans Highscore-Eintragen, wir dürfen uns mit den berühmten drei Buchstaben verewigen. Seelenruhig rührt Nick mit dem Joystick rum. S. Tick, tick, tick nach oben. E. Tick, tick, tick nach unten. X. SEX, der Klassiker, herrlich infantil. Wir müssen beide lachen und wenden uns - jetzt, wo wir festgestellt haben, dass es mit dem Spielen selbst nicht mehr so toll ist - dem Reden über das Spielen zu.
»Wusstest du, dass es bei den russischen Arcade-Automaten zwar Freispiele, aber keine Highscore-Tabelle gab?«, eröffnet Nick. Ich wusste gar nicht, dass die überhaupt Videospiele hatten, tue aber sehr wissend.
»Klar, die hatten's ja nicht so mit Wettbewerb. Mich hat der Highscore aber auch nie so richtig interessiert.«
»Stimmt. Das war irgendwie eine Eltern-Idee, um Punkte zu spielen, mehr was für die Generation Flipper«, stimmt Nick ein, während er in Zeitlupe zum Süßwarenautomaten neben der Tür schlendert. Da es sonst nichts zu tun gibt, trotte ich hinter ihm her und spinne den Gedanken weiter.
»Richtig, eigentlich ging's nur darum, das Game durchzuspielen.«
Nick kramt aus seiner Tasche ein paar letzte Quarter raus, wirft sie ein und drückt ein paar Tasten. Mit einem lauten »Kloink« scheppert eine Packung Reese's Pieces in den Ausgabeschlitz. Er popelt die Packung raus, reißt sie sofort auf und lässt die Schokolinsen in den Mund purzeln. Mein Magen knurrt. Nachdem die ersten Zuckermoleküle in seiner Blutbahn angekommen sind, redet mein Beifahrer direkt schneller: »Korrekt. Und was man einmal durchgespielt hatte, war uninteressant. In der zweiten Runde haben sie die Gegner eh nur schneller gemacht.«
Wir rücken uns zwei Monoblocs direkt vor das Schaufenster und beobachten, wie sich der Nebel über Twin Peaks, Twin Oaks oder Twin-was-auch-immer lichtet und das Dorf aufwacht. Jetzt, wo man in den Wald hineinsehen kann, wirkt er kaum noch bedrohlich. Ein einsamer Milchlaster, das erste Auto an diesem Morgen, rumpelt den Highway runter. An seiner Stoßstange klebt ein dunkelblauer Crown Victoria, der nervös versucht, links auszuscheren. Ein Modell aus den Neunzigern, die letzte Generation von Limousinen, bevor die Geländewagen alles andere platt gemacht haben. Die Scheiben des Wagens sind getönt, nur durch die Windschutzscheibe kann man kurz die Insassen erkennen: zwei Männer mit Sonnenbrillen und hellblauen Hemden. Sollten die einfach nur das Auto gewechselt haben? Da selbst Nick den Wagen nicht zu bemerken scheint, schiebe ich den Gedanken, dass wir oberserviert werden, beiseite. Absurd, ich werde langsam wie Nick. Für den Rest des Tages habe ich »Falling« von Julee Cruise im Kopf, die Titelmusik aus »Twin Peaks«.