LEVEL 19
»Smoking or non-smoking?«, quakt die hübsche Philippina am Empfang. Seit ein paar Jahren hat diese Frage in Restaurants die nette Begrüßung »How are you today?« vergangener Tage abgelöst. So auch heute. Ich habe Appetit auf Rebellion und gebe an, Raucher zu sein. Bis vor wenigen Jahren haben wir das häufiger gemacht, weil in der Rauchersektion damals noch die cooleren Leute saßen; mittlerweile ist man da nur noch unter Freaks. Zunächst folgt das attraktive Empfangskomitee der Anweisung und bahnt uns eine Schneise durch das übersichtliche Lokal, in dem wir uns durchaus selbst hätten zurechtfinden können. Auf dem halben Weg zu unseren designierten Plätzen scheint sie doch noch Zweifel zu bekommen, schaut über die Schulter und vergewissert sich.
»Really? You don't look like smokers.«
»Why's that?«, will ich wissen.
»You look nice and clean«, erklärt die Studentin. Das ist doch was! Wir haben anscheinend ein Alter erreicht, in dem man sich schon darüber freut, Reinlichkeit attestiert zu bekommen. Nicht dirty old men, sondern nur old men, wunderbar. Am Platz angekommen übernimmt eine deutlich unattraktivere College-Göre das Kommando. Wir denken kurz darüber nach, wie sie die Ecke in ihrem Schneidezahn verloren hat, und tippen auf Freund und/ oder Vater. Aber so sind die Regeln im Diner nun mal: vorne Miss California, hinten Mauerblümchen - ein gnadenloses Gefälle, auf das wir immer wieder gerne reinfallen. Wir versinken handbreit in den hellbeigen Polstern und schweigen ausgiebig. Ich beobachte, wie Nick seinen Rechner hochfährt. Manchmal denke ich, er könnte auf dem rechten Auge eine Augenklappe tragen und ich würde es nicht mal merken. Denn entweder er sitzt auf dem Beifahrersitz, da sehe ich ihn ja nur von links, oder wir essen, und das bedeutet, mein Kumpel schaufelt sich mit der linken Hand die Kalorien rein, während er nach rechts auf seinen Rechner starrt, den er fast immer dabei hat. Heute Abend steht rechts das »PDP11 Handbook« auf seinem Menü, dazu links ein BLT-Sandwich mit so viel gebratenem Schinken, dass ich Angst habe, Nick könnte noch vor dem Bezahlen so durchsichtig werden wie das Papierchen, auf dem der Fettlappen serviert wurde. Wir sitzen in einem alten Coffeeshop direkt an der Auffahrt zur Interstate, einem der letzten Vertreter dieser aussterbenden Gastro-Dinosaurier. Nach den vielen verlassenen Coffeeshop-Ruinen zu urteilen, die im Westen die Highways säumen, müssen die Läden in den Sechzigern so beliebt gewesen sein wie Starbucks in den Nullern. Ihre Architektur ist völlig uniform und lässt sich mit zwei Worten beschreiben: Playboy Mansion. Junggesellen-Architektur aus den Sechzigern, ein Love Shack, wie es Austin Powers gefallen würde. Sofort nach dem Reinkommen spürt man das dringende Bedürfnis, eine Scheibe von Esquivel aufzulegen. Groovy Baby! Als Blickfang ist die dem Highway ab gewandte Seite meist mit Natursteinen verkleidet. Zur Straße hin erstreckt sich eine Glasfront, hinter der die Gäste in den Sitzecken einen perfekten Ausblick auf die vorbeifahrenden 68er Mustangs haben. Für eilige Kunden wie Hugh Hefner oder - natürlich - Burt Reynolds, die ein junges Ding im Wagen warten haben, gibt es eine Theke mit Barhockern direkt vor der Küchendurchreiche. Darüber hängt immer eine Art Leiste mit beleuchteten Nummern von eins bis zwanzig, so wie die Lieder-Anzeige in der Kirche, die wir allerdings noch nie in Funktion gesehen haben.
»1969« - dem Copyright-Vermerk am Bildschirmrand nach zu urteilen passt Nicks Lektüre perfekt zum Baujahr des Ladens. Auf dem Weg zur Toilette fallen mir beim Blick auf den Monitor Worte wie Interlocked Communication, Autoincrement Addressing oder Line Frequency Clock ins Auge - mindestens so schwere Kost wie sein Sandwich. So wie unsere Eltern seinerzeit ernsthaft gesagt haben, etwas sei »eine Wolke«, wenn sie cool meinten, scheinen die Geeks damals einen eigenen Code gepflegt zu haben. Ich finde es von Nick irgendwie nerdmäßig, sich das reinzutun, obwohl wir noch gar nicht sicher sind, dass das Programm auf dem Lochstreifen wirklich für einen PDP ist. Vielleicht hat er auch einfach keine Lust zu reden; allerdings brauchte er früher dafür keinen Rechner, da haben wir uns ganz selbstverständlich angeschwiegen. Ohne weitere Kommunikation nehmen wir Kohlenhydrate auf. Nach dem letzten Bissen reißt uns die Kellnerin unsere Teller unter den Fingern weg. Wie überall scheint auch in hier zu gelten: Je besser das Restaurant, desto schneller wird abgeräumt. Ich lasse großzügige 30 Prozent Trinkgeld auf dem Tisch in der Hoffnung, dass ein wenig bis zum Empfangsmädel durchsickert. Zurück in unserem Motelzimmer müssen wir feststellen, dass es uns die Datacorp diesmal nicht so leicht macht: Unser Plan, die Lochkarten mithilfe von Scans auszulesen, funktioniert zwar perfekt - Nicks selbst gestricktes Programm hat die 12062 Byte in ein paar Sekunden ausgelesen -, doch danach ist erst mal Schluss. Wir stehen vor einem Datenhaufen und wissen nichts damit anzufangen. Alle bisherigen Tricks sind schnell durchprobiert: Es gibt keine chiffrierten Texte, keine geheimen Botschaften in einer Grafik, nur Bits und Bytes. Anscheinend ist das Programm in reiner Maschinensprache geschrieben, enthält keinen Quelltext. der leicht zu entziffern wäre. So, wie es aussieht, werden wir uns wohl ernsthaft mit Inhalten auseinandersetzen müssen. Mit einem schlechten Gefühl dringen wir auf echtes Geekterritorium vor. Für welchen Großrechner wurde die Software geschrieben? Die Frage werden wir wohl nur mit Rumprobieren lösen können. Also ziehen wir alle verfügbaren Simulationsprogramme aus dem Netz, die es für DEC-Computer gibt, vom 12-bis zum 36-Bit-Rechner, und installieren die komplizierten Programme ohne Erfolg: Keiner der Emulatoren kann mit dem Code etwas anfangen. Ich unternehme einen Trip zur Eisbox, während Nick schlecht gelaunt wieder das PDP-Handbuch öffnet. Selbst ihm scheint die Sache langsam etwas zu ernst zu werden. Einen Abend, den man auch auf zwei Monoblocks vor dem Motelzimmer verbringen könnte, irgendwelchen dreißig Jahre alten Handbüchern zu widmen, passt sogar ihm nicht. Überhaupt: Handbücher lesen. Aus Nevada rollen im Kofferraum noch ein paar Bierdosen der Marke Schlitz herum, vielleicht kriegen wir die ja auf unter 20 Grad gekühlt? Die Nacht ist klar, und ich hocke mich mitten auf dem Parkplatz kurz auf einen der Randsteine. Jetzt, wo sich die Dunkelheit über die Schmierigkeit gelegt hat, machtBlythe gar keinen so schlechten Eindruck mehr. Morgen Abend kommen wir in L.A. an, danach vergehen die letzten Tage erfahrungsgemäß in Sekunden. Haben wir es diesmal übertrieben? Vielleicht nehme ich die ganze Datacorp-Sache zu ernst. Aus unserer Generation-X-Karikatur einer Forschungsreise droht langsam eine echte zu werden. Als ich mit den kinderbadewannenwarmen Dosen auf unser Zimmer zusteuere, steht die Tür offen. Ich schaue mich um und sehe im Halbdunkel, wie Nick in einem Liegestuhl neben dem leeren Pool sitzt und telefoniert. Wie ein Glühwürmchen tanzt das Display seines Telefons durch die Dunkelheit. Komisch, bislang galt auf unseren Trips eigentlich immer ein unausgesprochenes Telefonierverbot. Zwischenzeitlich hatten wir sogar mal einen Strafdollar eingeführt für Gesprächsthemen, die mit Zuhause zu tun haben, um uns 100 Prozent auf die Sprache der Straße konzentrieren zu können: Wer Freundin, Eltern, deutsche Politiker oder sonst was erwähnte, musste zahlen. Na ja, er wird schon einen guten Grund haben. Als Nick zehn Minuten später reinkommt, wirkt er irgendwie unkonzentriert, fahrig.
»Ist was?«, frage ich. Nick schmeißt sich aufs Bett. Das Knarren der Federn und die röhrende Klimaanlage schlucken seine Antwort, aus der ich nur das Wort »Familie« heraushören kann. War wohl nichts Wichtiges. Da ich im Moment definitiv nichts tun kann, schalte ich den Fernseher ein - und gleich wieder aus, denn, das hatte ich ganz vergessen, es läuft ja nichts. Wenn ich jetzt wählen könnte, würde ich mir »Bullit« mit Steve McQueen wünschen. Stattdessen blättere ich eine alte Ausgabe der »Palo Verde Valley Times« durch, in der unter anderem zu lesen ist, dass der Besitzer einer Achterbahn auf irgendeinem County Fair zu Tode kam, als er mit seinem Bart in das Fahrgestell der Bahn geriet und fast 100 Meter mitgeschleift wurde. Nach einer halben Stunde dumpfen Brütens vor dem Rechner meldet sich Nick wieder zu Wort: »So: Wir haben zwei Fehler gemacht. Erstens braucht die Maschine einen Bootstrap-Loader, und zweitens dachten wir, die Daten auf dem Lochstreifen seien in ASCII codiert. Doch die Mainframes von Digital waren für den Betrieb mit einer Telexmaschine ausgelegt, die einen anderen Code verwendet. Lässt sich aber einfach umrechnen: Teletypeminus 200 gleich ASCII.«
Ich mache mir nicht die Mühe, eine Erklärung abzurufen.
»Und?«
»Auf dem Band hat jemand, wenig überraschend, ein Spiel gespeichert, und zwar Moonlander - exakt wie es Anfang der Siebziger auf einem PDP-11 mit GT40-Vectordisplay gelaufen ist. Scheint im Großen und Ganzen mit Lunar Lander von Atari identisch zu sein. Nicht gerade Splinter Cell, also.«
Den echten Retromanen erkennt man daran, dass selbst die Referenzgrößen von gestern sind. Mit der längst zum Ritual gewordenen Bewegung dreht Nick den Monitor zu mir um, allerdings klingt der imaginäre Trommelwirbel schon etwas müde. Er hat das Programm auf dem Lochstreifen also tatsächlich ans Laufen gekriegt. Quer über den schwarzen Bildschirm zieht sich eine feine weiße Linie, wie eine Herzkurve. Sie zeichnet einen kleinen Hügel nach, dann einen gewaltigen Gipfel, gefolgt von zwei kleinen Spitzen, die in eine Ebene übergehen. Am oberen Monitorrand schwebt eine kleine Mond-Landefähre, die mit ihren dünnen Beinchen wie eine Spinne aussieht. Daneben stehen Zahlenkolonnen und Worte wie FUEL und DISTANCE. Kein Wunder, dass wir keinen Text gefunden haben: Da das Spiel Vektorgrafik benutzt, existiert Schrift nur als Haufen von X/V-Koordinaten. Moonlander - da haben die Herren von der Datacorp ihre nächste Botschaft ja in einem echtem Klassiker aus der optimistischen Astro-Ära versteckt. Und auch die Hardware, auf dem das Spiel mal lief, könnte ganz gut in das Rechenzentrum der NASA passen: ein alter Großrechner, wie er lange Zeit nur bei Banken, Versicherungen und Behörden im Keller stand. Gegen diesen Dinosaurier waren unsere Atari-Konsolen die reinsten Amöben. Nick zeigt mir im Netz ein Bild, auf dem die monströse Maschine abgebildet ist: ein Gigant, mindestens so hoch wie das höchste Billy-Regal von Ikea. Wer sich dem Monster entgegenstellt, dem streckt es eine abweisende schwarze Frontplatte und zwei Bandlaufwerke entgegen. Schalter in psychedelischem Orange und Violett reihen sich am Sockel auf. in den gleichen Farben prangt ein Firmenlogo am Kopf der Maschine: |d|i|g|i|t|a|l. Jeder Zentimeter dieses Giganten scheint nur eines zu sagen: Finger weg! Kein Knuddel-Design wie bei den iMacs der Neunzigerjahre biedert sich an, kein quietschbuntes User Interface lädt zum Probieren ein. Was hier steht, ist ein Werkzeug, genau wie eine Schrottpresse oder ein Partikelbeschleuniger, so lautet die Ansage. Und wie verkauft man so eine gewaltige Masse Vernunft, so viel industrielle Strenge? Mit einem Spiel natürlich: Moonlander. Anfang der Siebziger ließ DEC das Game als Demo auf Industriemessen laufen. Am Messestand war ein Terminal aufgebaut, an dem die vorbeiflanierenden EDV-Leiter mit einem Lichtstift die Landefähre auf dem Monitor steuern konnten. Der Trick funktionierte: Die Computer, so teuer wie ein kleines Eigenheim, wurden ein Verkaufsschlager. Selbst Anfang der Nuller brummten noch eine halbe Million der Monster in Rechenzentren rund um die Welt vor sich hin. Diesen ehemaligen Koloss zu imitieren kostet unseren Rechner wahrscheinlich nicht mehr Power, als den Ladestandsbalken des Akkus einzublenden. Im Gegenteil, der Emulator muss wie wahnsinnig Leerzyklen einbauen, damit nicht alles auf dem Bildschirm nur so vorbeirast. Wir beschließen, uns den Spielspaß bis morgen aufzusparen.