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Den Laden haben sie ja ordentlich ausgeweidet. Kahle Stahlbögen, so weit das Auge reicht, wie ein totes Tier in der Wüste, von dem nur noch die Rippen übrig sind. Die Hightech aus den Tagen des Kalten Kriegs ist verschwunden. Alle Leitungen, die das Go aus dem Kontrollraum zur Rakete übertragen hätten - an solchen Orten gibt es gottseidank nur Konjunktive -, sind von den Wänden gerissen worden, genau wie die meisten Stromleitungen. Dass das Strategie Air Command nicht noch die verrosteten Bolzen abmontiert hat, von denen die Wellblechröhre zusammengehalten wird, ist auch alles. Andererseits gut für uns. An den kahlen Wänden würde moderne Überwachungstechnik sofort auffallen. Nick scheint das Gleiche zu denken, jedenfalls hört er mit dem albernen Flüstern auf und liefert seinen Live-Kommentar wieder in normaler Lautstärke.
»Die coolste Silo-Story ist Anfang der Nuller passiert. Da haben sich zwei Alt-Hippies aus San Fran eine Abschussbasis in Kansas gekauft, um da unten fabrikmäßig LSD herzustellen. Damit Besucher nicht misstrauisch werden, ließen sie zur Tarnung ein paar Maschinen laufen, aus denen kleine Metallfedern rauskamen, weißt du, solche wie im Kugelschreiber drin. Na, irgendwann kam den Einheimischen die Sache trotzdem verdächtig vor, vor allem, weil die Freaks alles hochsicherheitsmäßig abgeschirmt hatten. Also riefen sie erst die Cops, später marschierten dann die Drogenbullen von der Drug Enforcement Agency rein und haben alles abtransportiert - achtzehn Umzugswagen.«
Stolzer Seitenblick. Ja, hast du dir alles schön gemerkt, Alter. Und weiter geht's im Vortrag.
»...Nach der Razzia ist der LSD-Marktrund um die amerikanischen Unis wohl völlig zusammengebrochen. Im Silo sollen Chemikalien rumgelegen haben, um Stoff im Straßenwert von 160 Millionen Dollar zu produzieren. Richtig bizarr muss der Prozess gegen die Typen gewesen sein, voller seltsamer Eso-Freaks als Zeugen und verschwundener Beweismittel. Ein Mitangeklagter zum Beispiel hat sich seine Anwaltsrechnung von Paul Simon und Sting bezahlen lassen - weil er die kannte.«
Nick hat beim Hölzchen angefangen, ruht sich kurz auf dem Stöckchen aus und wird nicht aufhören, bis er beim Zellulosemolekül angekommen ist - darauf ist Verlass. Da er absolut keine Antennen dafür hat, ob sein Gesprächspartner - oder besser: Gesprächsempfänger - zuhört oder nicht, kann man die nächsten zehn Minuten getrost abschalten; ab und zu nicken reicht. Also marschiere ich stumm neben ihm den Flur runter, während er weiter schwadroniert.
»... wusstest du eigentlich, dass es nie ein rotes Telefon zwischen Moskau und Washington gab? Ist eine totale Legende, Reagan konnte niemals direkt mit Breschnew sprechen! Es gab keine Telefone, sondern nur zwei Siemens-Fernschreiber, die über das erste Unterseekabel. die Transatlantic Number One, verbunden waren. Die Regierungen vertrauten nur auf das geschriebene Wort, weil die Experten annahmen, dass zwischengeschaltete Simultanübersetzer eventuell Missverständnisse produzieren könnten - und dann: Boom!«
Theatralisches Hände-Auseinanderreißen.
»Der heiße Draht wurde übrigens mehrfach aus Versehen durchtrennt, von einem dänischen Bulldozer in der Nähe von Kopenhagen zum Beispiel, oder von ...«
Fast ein Uhr. Wenn Andie gerade in der Jeppesen-Zentrale in Kalifornien arbeitet, macht sie jetzt Mittagspause - vorausgesetzt, dieser komische Typ vertritt sie nicht noch immer. Mit ihr Mittagspause zu machen war immer eine freudlose Angelegenheit: Sie gehört zu den Frauen, für die Essen bedeutet, leicht proteinhaltige Luft einzuatmen. Eine Scheibe Truthahnbrust auf Baguette, danach ein Café Latte mit fettfreier Milch, mehr hat sie nie gegessen. Na, es scheint ja zu funktionieren, sonst wäre sie ja nicht so schlank. Sabina dagegen haut immer ordentlich rein, das volle Programm, Schnitzel mit Jägersoße und so. Das kann noch lustig werden, wenn sie Nick erstmal regelmäßig bekocht - der mit seinem empfindlichen Magen.
»... als Kennedy erschossen wurde, kamen die Fernschreiber erstmals zum Einsatz. Washington setzte Moskau über den Vorgang in Kenntnis. In den Siebzigern wurde das Seekabel dann durch vier Satelliten ersetzt, zwei amerikanische und zwei russische. Über den so genannten Molink konnten die Staatschefs sich dann auch Faxe zuschicken ...«
Eigentlich hat Andie ihren göttlichen Status durch nichts verdient - außer vielleicht durch diesen engen Hosenanzug, besser gesagt: durch die Hose von dem Hosenanzug, noch besser gesagt: durch die Art, wie die Hose bei ihr sitzt. Echt gut eben. Aber davon abgesehen ist sie furchtbar langweilig, weil sie eigentlich eine ignorante Ami-Bratze ist. Essen, Musik, Filme - sie hat von nichts eine Ahnung, und schon gar nicht, wenn die Sachen sich - Schock! - außerhalb der Staaten abspielen. Als sie zum Beispiel hörte, dass wir aus Deutschland kommen, hat sie uns als Erstes total ernst gefragt, ob wir einen VW Jetta fahren, und direkt eine ihrer Endlos-Storys hinterhergeschoben. Das sei ja an ihrem College das angesagte Auto schlechthin gewesen, so was von cool und, like, awesome. Alle Quarterbacks - unsere Interpretation - hätten so einen gefahren. Als wir ihr dann offenbarten, dass sich in Deutschland niemand unter Siebzig in so eine Kiste setzt, hat sie es uns bis zum Schluss nicht geglaubt. Tja, Andie, es gibt andere Länder, und, like, andere Sitten. Heißt die Karre nicht außerdem schon lange Bora bei uns? Mann, was das Schwätzen angeht, kommt Nick echt bald an sie ran. Er serviert weiter Häppchen von der Kalten-Kriegs-Platte.
»... im Kontrollraum des Silos, die Kapsel genannt, saßen immer zwei Typen, jeder mit einem eigenen Abschuss-Schlüssel. Sie konnten die Rakete nur zusammen starten. So sollte verhindert werden, dass ein einziger durchgeknallter Army-Typ den dritten Weltkrieg auslöst ...«
Irving scheint ein echter Messie gewesen zu. Er hat das Silo innen genauso abfucken lassen wie sein Apartment in Kuala Lumpur. Bei jedem Schritt wirbeln massenweise Staubmäuse über den Boden; in den Lampen, die den Gang beleuchten sollen, ist jede dritte Birne abgeraucht, und der Gestank wird mit jedem Meter schlimmer. Wahrscheinlich hat er hier nur seine Server abgestellt, für Strom und Kühlung gesorgt - und ist wieder abgezogen. Passt zu seinem fahrigen letzten Auftritt bei der LegaSys. Nick kurbelt weiter wie ein Irrer am Rad der Geschichte. Er fängt an zu klingen wie die Typen, die in diesen Landser-Heftchen früher ihre Kriegserinnerungen auswalzten. So nach dem Motto: Wir waren doch wer, oder? Nur dass der Krieg, von dem Nick, man könnte fast sagen: schwärmt, nie stattgefunden hat. Genau das fasziniert ihn wohl daran: Es ist alles nur ein Spiel, eine Frage des Was-wäre-wenn. Bei ihm lernt man wirklich, die Bombe zu lieben.
»... und wusstest du, dass um ein Haar der Dritte Weltkrieg ausgebrochen ist? Wenn es nicht diesen Russen gegeben hätte, Stanislaw Petrow. Der saß am 26. September 1983 in der russischen Satellitenüberwachungszentrale, als plötzlich der Alarm losging. Das System meldete einen Raketenabschuss auf amerikanischem Territorium! Petrow ruft also beim Oberkommando an, und die fragen ihn, was denn los sei. In der Sekunde stand die ganze Welt am Abgrund. Wenn Petrow den Abschuss gemeldet hätte, wäre der Gegenschlag ausgelöst worden. Doch er blieb cool und sagte, es sei nur ein Fehlalarm. weil er wusste, dass die Amerikaner einen nuklearen Erstschlag niemals mit nur einer Rakete starten würden. Der hat uns allen den Arsch gerettet. Wir waren sooo nah dran.«
Mein Fremdenführer kneift Daumen und Zeigefinger zusammen. An seinem Japsen zwischen den Sätzen merkt man, dass ihn das Fieber doch langsam anfrisst. Er läuft ganz klar auf Reserve.
»Sollen wir mal Pause machen?«, biete ich an. An sich gibt es in der Kumpelwelt nur eine Antwort auf diese Frage: Nö, warum? Doch für solche kindischen Kämpfchen haben wir keine Zeit mehr. Also nickt der Beifahrer stumm, beugt sich vor und stützt sich mit den Händen auf seinen Kniescheiben ab. Bestimmt eine halbe Minute keucht er still vor sich hin. Das Ende des Ganges ist schon in Sicht - das Schott aus dem Video. In Echt ist es mit einem dunkelgrünen Lack gestrichen, der so bröckelig aussieht. Heißt Hammerschlag, oder so. Oben, in der Mitte und unten sind so große Schrauben dran, wie an einem Schott im Kriegsschiff, damit man den Gang, oder was auch immer dahinter kommt, luftdicht verrammeln kann. Es ist Zeit, mal zur Sache zu kommen.
»Hast du schon eine Idee, wie wir den Hauptrechner knacken? Ich meine, ein IBM aus den Siebzigern ist nicht so mein Metier.«
Mein Metier ist nämlich nichts, außer dem Überspielen von Lebenserinnerungen, die auf einem Tandy gespeichert sind. Nick reißt den Kopf hoch und läuft weiter, als ob nichts gewesen wäre.
»Ja, äh, das geheime Datenarchiv. Wie gesagt, ein IBM-System: eine Batterie von 3330-Festplatten, gekoppelt an einen Mikrocomputer der Series/l aus den späten Siebzigern. Gesamtkapazität etwa ein knappes Gig. Wird höchstwahrscheinlich von einem 4978-Terminal gesteuert, mit Datensichtgerät. Da kommen wir schon irgendwie rein ...«
Unglaublich. Allein das Wort Datensichtgerät! Nach all den Jahren schüttelt er immer noch solche Asse aus dem Ärmel. Den ganzen Kleinkram kann er sich unmöglich gestern im Flugzeug angelesen haben. Nein, das Wissen schlummert in seiner ganz persönlichen dunklen Zone. Doch, es muss gesagt werden: »Respekt!«
Mit einem Gewinnerlächeln dreht sich der Beifahrer um.
»Nichts Besonderes. Die Dinger standen auch bei der Nas ...«
Schon beim »a« merkt er, dass er Scheiße gebaut hat, und bricht den Satz ab. Tja, Alter, raus ist raus. Du hast dich verquatscht: Die Datacorp hat also ein bisschen bei der National Aeronautics and Space Administration im Keller gewerkelt - und du warst dabei, im Allerheiligsten des Allerheiligen. Wie hat er geschafft, das bei allen Nasa-Diskussionen unter der Decke zu halten? Er ist halt der Übermensch - nein, der Über-Angestellte. Diese Episode werden wir beizeiten mal vertiefen. Jetzt, wo der Colt noch raucht, sofort nachzubohren brächte aber nichts, das wäre zu offensichtlich. Nein, jetzt muss ich dem Beifahrer erst mal die Möglichkeit geben, seinen Ausrutscher mit einem anderen Thema zu überspielen .
»Was für eine andere Möglichkeit gibt es, so einen Rechner anzuzapfen? «
Nicks Erleichterung reicht vom Boden bis zur Decke. Er glaubt tatsächlich, dass er seinen kleinen Fehltritt unter einem Berg von Details verstecken kann.
»Die Series/1 war ein ziemlich offenes System. Kam zu der Zeit raus, als die Großrechner gerade ausstarben und Digital mit seinen kleinen 16-Bit-Maschinen der großen IBM das Wasser abgrub. Das waren wilde Zeiten, 1976, kurz bevor der digitale Tsunami heranrollte. Ziemlich genau zum gleichen Zeitpunkt zeigte ein gewisser Steve Wozniak den Schraubern vom Homebrew Computer Club eine selbst gelötete Platine, die später auf den Namen Apple I hören sollte. Damit ging die Ära, in der Computer nur etwas waren, das Unternehmen bauten, um es an andere Unternehmen zu verkaufen, zu Ende.«
Versonnener Blick zum Himmel, Schweigesekunde, dann Rückkehr zum Thema.
»Äh, also, die Series/1, mit einem alten Laptop käme man ganz einfach an die Daten, dafür gibt's nen Emu...«
Wir stehen kurz vor der Druckschleuse; sie steht einen Spalt weit offen. Glück gehabt, diese Teile hat die Datacorp auch in ihrem Archiv in Kangerlussuaq, wiegen Tonnen, kriegt man mit der Hand kaum auf. Der Countdown beginnt: War das Video von Vaters Höhle wirklich authentisch? Verbirgt sich hinter der Tür ein digitales Archiv, das Irving über Jahrzehnte hinweg still und heimlich aufgebaut hat? Es könnte ja genauso gut sein, dass der Kameramann die Rechner, die im Video zu sehen waren, an einem völlig anderen Ort gefilmt hat. Holmes würde sagen: Was ist wahrscheinlicher, Watson? Und Watson müsste zugeben, dass es verdammt unwahrscheinlich ist, dass sich ein Wissenschaftler in einem Raketensilo mit seinem digitalen Nachlass einigelt. Da könnte er sich ja gleich in einen Ovalia-Eiersessel quetschen, mit einer Katze auf dem Schoß, und die Welt erpressen. Nein, hinter der Druckschleuse wartet sicher nur eines auf uns: noch mehr Moder. Früher wäre all das klares Nick-Territorium gewesen, Verschwörungsflausen halt. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass wir echt was auf der Spur sind, steigt. Allein die ganzen Leute, die sich in letzter Zeit für uns interessiert haben: Dieser Busfahrer-Typ am Flughafen, der dann doch nicht mit uns nach Malaysia geflogen ist. Die Truppe in Kuala Lumpur, die Irvings Apartment auseinandergenommen hat. Und wer weiß, wie viele von ihnen uns unterwegs noch im Visier hatten, ohne dass wir es gemerkt haben? Was macht er jetzt schon wieder? Nick rennt ohne Vorwarnung los; ich versuche, ihn noch am Arm festzuhalten, doch er ist schneller und hängt mich ab. Na warte. Hinterher. Kurz vor der Druckschleuse rempele ich ihn so hart an, wie man das einem Kranken zumuten kann. Aber der Beifahrer lässt sich wie eine Billardkugel vom Rand des Gangs abprallen und springt mir direkt vor die Füße. Ich muss abbremsen, er zieht vorbei.
»Ha-e ha!«
Nick reibt im Laufen einen Zeigefinger gegen den anderen. Ohne anzuhalten schlüpft er an der Druckschleuse vorbei in den nächsten Raum. Stille. Nur das Knirschen unter seinen Schuhen ist noch zu hören. Und es hallt verdammt lang nach.
»Wow.«