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Die coolsten Leute auf jeder Konferenz sind die, die eigentlich nicht dazugehören. Also nicht die Teilnehmer, sondern der Rest, die ganzen Technikleute und so. Das gilt überall, ganz besonders auf der Legacy Systems und noch viel besonderer im Raum C3, wo wir gerade eingesperrt sind. Der Sound-Typ in der hintersten Ecke des Saales zum Beispiel: Sitzt ganz entspannt neben seinem Mischpult und spielt am Handy, während um ihn herum die Empfangsgeräte der drahtlosen Mikros, Equalizer und Vorverstärker blinken. Sein schwarzes MaidenT-Shirt spannt sich über die angehende Bierwampe, die Matte nähert sich der traurigen Sorte vodühila - vorne-dünn-hinten- lang. Und trotzdem sieht er total zufrieden aus, in seinem Paradies von Standalone-Geräten im 19-Zoll-Rack. Oder der Typ vom Malteser-Hilfsdienst. Die Sorte begleitet einen ja echt durchs Leben - vom Pfarrfest über den Abi-Ball bis zur Ersti-Fete: Überall stehen die Malteser gelangweilt rum und ärgern sich, dass sie nichts trinken dürfen. Klares Highlight des Vortrags - das lässt sich jetzt schon sagen ist das Mikro-Babe am Ende unserer Stuhlreihe. Drittes Semester vielleicht, knallenger Messe-Hosenanzug, die braunen Haare mit einem Gummi zu so einer Tolle gebunden, wie sie vor ein paar Jahren mal in war. Obwohl das Podium nach wie vor absolut leer ist, starrt sie konzentriert nach vorne - wahrscheinlich, um nicht den gierigen Geek-Blicken zu begegnen, die aus dem ganzen Raum auf sie abgefeuert werden. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen und umklammert das Frage-Mikro auf dem Schoß. Ihr Blick sprüht vor Überlegenheit, so, als wollte sie sagen »Scheiß Nerds«.
Nur die wippende Spitze ihrer Pumps vom Typ Lufthansa-Stewardess verrät, dass sie sich verdammt unwohl fühlt. Mal sehen, wer sich nachher nicht zu schade dazu ist, sie mit dem Mikro rüberzuwinken. Ich mustere unauffällig den Beifahrer. Wenn er nicht so ein totaler Nerd wäre und ständig mit dieser Schlaftablette Sabina rumglucken würde, hätte Nick echt Chancen - selbst bei einem solchen Spitzen-Babe. Andie hat mir anvertraut, dass die Frauen in der Firma total auf seine hellblauen Augen stehen - was ich ihm natürlich nicht mal auf dem Sterbebett verraten würde. Aber obwohl er es mit der Managertour etwas übertreibt, steht ihm sein neuer Look eigentlich gut, das muss man zugeben. Vor allem seit der Administrator-Pferdeschwanz ab ist. Doch, doch, wir machen schon was her. Wir sind coole Geeks. Ach was, wir sind überhaupt keine mehr! Deshalb muss auch nicht darüber geredet werden, wo wir uns hinsetzen, nämlich nach ganz hinten. Wir sind doch schließlich die lässigen Player aus der letzten Reihe, die alles mit professioneller Duldungsstarre aussitzen, oder? Die nicht aufpassen, sondern lieber Hockey mit den kleinen Perlchen spielen, die sie vorher aus Geha-Tintenpatronen rausgepult haben. Oder? Oder?? Leider nicht. Nick ist beim Reinkommen gleich links abgebogen, weil der Vortrag »der Hammer« werde, wie er meinte, und hat uns zwei supercoole Plätze in der zweiten Reihe reserviert. In der zweiten Reihe! Das bittere Fazit des Tages steht damit fest. Es lautet: Wir sind Millhouse, und nicht Bart. Das Licht wird gedimmt. Auf der Leinwand erscheint die Ankündigung des nächsten Vortrags. Dr. Charles Irving: Induced Electromigration in Legacy Systems. Wow. Definitiv der Hammer. Immerhin scheint der Mann was älter zu sein, und das bedeutet, er hat keine Interaktions-Flausen im Kopf, sondern liefert einen soliden Vortrag ab, bei dem man sich zurücklehnen und berieseln lassen kann. Schnell, Ablenkung! Der Raum bietet bis auf das Mikro-Babe nichts, was den Augen nicht weh tut. Über die Decke ergießt sich ein Meer von kleinen Glasstäbchen mit Glühbirnen dazwischen, von denen die Hälfte kaputt ist. Im grauen Marmorboden gespiegelt sehen sie aus wie die Raumschiffe in »Unheimliche Begegnungen der Dritten Art«.
Damit es nicht zu sehr hallt, sind die Wände mit gelöcherten Schallschutzpaneelen aus hellem Holz zugeknallt. Eine Siebzigerjahre-Oase eben. Vor jedem Teilnehmer steht die Konferenzverpflegung nach DIN-Norm: ein Mineralwasser, eine Cola-die letzte in Westeuropa mit Zucker -, eine kleine Flasche Orangensaft von Granini, alles fein säuberlich auf kleinen Spitzendeckchen aus Papier arrangiert. Dazu spendiert uns der große Kongressdiktator ein Tellerchen mit Bahlsen Selection Gebäck, den Nick natürlich innerhalb weniger Minuten abgeräumt hat. Und wie üblich wird der Keksberg seiner Figur nicht schaden. Die Ernährung - das ist echt eines der wenigen Dinge, bei denen er noch ganz Student ist. Seinen Zuckerschock baut er gerade mit wildem Gehibbel auf dem Stahlrohr-Stuhl ab und sorgt so dafür, dass der auberginefarbige Bezug am Rand noch ein bisschen mehr abscheuert. Aber passt schon. Legacy heißt schließlich Erbe. Da ist es nur logisch, die Konferenz an einem Ort abzuhalten, der so aussieht wie eine Kreuzung zwischen Erichs Lampenladen und Caesar's Palace. Dabei geht es auf der LegaSys nicht um so ein Erbe, das jeder gerne hat, sondern um ein ungeliebtes Erbe: all jene alten Computer auf dieser Welt, die zwar reif fürs Museum sind - die aber mangels Geld niemand ersetzen kann. Wie sagen sie im Radio immer: das Schlimmste aus den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern und der Schrott von heute. Vor allem Bankenheinis turnen auf der LegaSys rum, und zwar aus gutem Grund, denn die haben die meisten Leichen im Keller: Da stehen noch reihenweise Mainframe-Dinosaurier rum, die auf Programmcode aus den frühen Achtzigern rumkauen. Und wenn diese Dinos müde werden, kann es sein, dass die Londoner Börse eben mal locker sieben Stunden am Stück nicht erreichbar ist, wie zuletzt im Herbst 2008. Doch solche Totalabstürze kommen eher selten vor. Meistens rückt die Datacorp, unser Arbeitgeber, schon vorher aus und überspielt die wichtigen Daten von einem alten auf ein neues System - Kundendaten, wissenschaftliche Auswertungen und so was. Immer reinspaziert. wir nehmen jedes Medium an, ganz egal, wie mausetot es sein mag. Vom Stapel unsortierter Lochkarten über Speichertapes bis zu Laserdiscs - wir retten alles ins neue Jahrtausend! Dass für das Überspielen manchmal Millionenbeträge fließen, ist ein offenes Geheimnis. Warum auch nicht? Für die Kunden ist die Rechnung ganz einfach: Alle Daten nochmal komplett neu zu beschaffen - wenn das überhaupt möglich ist -, würde viel mehr kosten als das Honorar der freundlichen und ach so diskreten Experten der Datacorp hinzublättern. Und wer nicht zu uns kommt, geht zur Konkurrenz von Big Blue oder Vintagetech in Livermore. Damit der ganze Schrott aus dem 20. Jahrhundert auch im 21. schön weiterfunzt, gibt es jedenfalls die LegaSys - die Fachmesse für Computerprofis von gestern. Und die Altvorderen im Saal C3 sind schon ziemlich aufgeregt, dass gleich Herr Irving zu ihnen sprechen wird. Fump, der Typ am Mischpult reißt den Mikrofon-Kanal auf, ein Raunen geht durch die Menge. Türen klappern. Dann verglüht das UFO an der Decke, bis nur noch die grünen Notausgangsschilder im Zwielicht tanzen. Dr. Irving tritt ans Rednerpult. besser gesagt: in den Strahl des Beamers. Der alte Mann merkt nicht, wie seine Schulter einen breiten Schatten auf die Leinwand wirft und seinen Namen bis auf das »ing« verschluckt.
»Der Typ ist 'ne Legende. Kommt immer in letzter Sekunde, falls er überhaupt kommt«, flüstert Nick rüber.
»Echt?«
Wie eine Legende sieht er gar nicht aus. Eher spröde, wie Q, der Typ, der James Bond immer seine Gadgets verpasst hat. Die Uhr mit Laser, der Hubschrauber mit Laser und das Mini-U-Boot mit Laser - zum Kampf gegen Haie, die ihrerseits mit Lasern ausgerüstet sind. Irving biegt sich das Mikrofon runter und merkt dabei, dass sein Tweedsakkoes hat tatsächlich Lederflicken an den Ellenbogen-offen ist. Mit zittriger Hand schließt er die Hornknöpfe. Wie alt wird er sein? Sechzig? Siebzig? Schwer zu sagen. Mit seinem karierten Hemd im Landhausstil sieht er unfassbar englisch aus, nahe an der Karikatur. Der wahre Lord British. Und wären da nicht diese schulterlangen grauen Strähnen, die neben den Bügeln seiner Hornbrille hin-und herbaumeln. käme wahrscheinlich niemand auf die Idee, dass er einen Computerpionier vor sich hat. Dr. Irving räuspert sich und setzt an.