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Es ist genau halb zehn, als wir aus dem Bahnhof kommen. Wir knöpfen die Sakkos zu und schlängeln uns zwischen den Taxis auf den Vorplatz durch. Auf einmal hört der Schatten auf, und mit ihm der Winter: Die Sonne grillt von oben so freundlich runter wie seit Monaten nicht mehr; im Nacken fühlt es sich fast so warm an, als würde man unter einem Heizstrahler im Biergarten sitzen. Noch ist alles neu und ungewohnt, die Leute laufen langsam, als müssten sie sich nach einem langen Winterschlaf erst mal aufwärmen. Der Vorplatz ist so leergefegt wie eine Dorfstraße am Sonntagvormittag, wenn der Fußballverein auswärts spielt. Wir bleiben kurz stehen und lassen eine Straßenbahn vorbeirattern. Es ist eines dieser alten, taxigelb lackierten Modelle mit runden Scheinwerfern. Der Himmel über der Oberleitung strahlt mit dem Schöller-Fähnchen um die Wette, das der Kiosk in der Mitte des Platzes rausgehängt hat. Der Besitzer, ein alter Mann mit Schiebermütze, hockt zufrieden hinter seinem Fensterchen und wartet darauf, dass die Schüler große Pause haben. Alles sieht danach aus, als könnte es dieser magische erste Frühlingstag werden, an dem alle Leute wie irrsinnig Weizen in sich hineinschütten, mit Baseballkappe und voll aufgedrehter Sitzheizung Cabrio fahren oder auf der Straße tanzen, zumindest wenn Kevin Bacon in der Szene mitspielt. Einfach nur weil es wieder geht. Es ist der perfekte Tag, um sich zu verlieben, den zweiten Knopf oben am Hemd aufzumachen oder auf der Straße Jack Johnson zu hören. Wir werden ihn damit verbringen, in einem abgedunkelten fensterlosen Raum zu sitzen und alten Männern dabei zuzuhören, wie sie über Computer schwadronieren, was zumindest nach Nicks Definition ein perfekter Tag ist. Denn für ihn existiert so was wie Wetter gar nicht. Schlimmer noch: Er sitzt gerne bei so einem Kaiserwetter drinnen - und das nervt irrsinnig. Deshalb mache ich ein paar Sachen, von denen ich weiß, dass sie ihn irrsinnig nerven, zum Beispiel beim ersten Sonnenkontakt das Jackett ausziehen und die Hemdsärmel hochkrempeln. Der Beifahrer schluckt den Köder und schaut missbilligend rüber, sofern sich das durch seine dunkle, mittlerweile völlig unmodische Oakley-Sonnenbrille erkennen lässt. So, als wollte er sagen: »Aha, der Herr macht auf Casual Friday!«
Als Retourkutsche zupft er demonstrativ seine Manschetten unten aus dem Sakkoärmel raus und macht gleichzeitig mit seinem Kinn eine völlig alberne Bewegung, die wohl den Hemdkragen justieren soll. Er ist so verdammt glücklich darüber, jetzt auch endlich »Business-Zeugs«, wie er sagt, anziehen zu dürfen. Deshalb kann man ihm seine neue Liebe zur Korrektheit nicht wirklich übel nehmen. Und korrekt sieht er heute wirklich mal wieder aus, einfach vorbildlich, der Beifahrer: Sein hellblaues Button-down-Hemd knarrt vor lauter Sprühstärke und steht oben genau einen Knopf auf - so wie bei allen in der Firma. Kein Härchen verschandelt den dunkel grauen Flanellanzug, und sogar die Absätze seiner Schuhe glänzen, als hätte er sie stundenlang poliert, was er sicher auch getan hat. Es ist halt wie in der Kirche: Je später die Leute eintreten, desto genauer nehmen sie die ganze Sache. Das T-Shirt mit dem Pinguin Tux vorne drauf hat Nick vorletztes Jahr, nachdem er den Anzug-Äquator überschreiten durfte, wahrscheinlich rituell verbrannt. Doch eigentlich ist der Tag zu schade für Zickereien, also lasse ich die Kleidungsfrage auf sich beruhen.
»Cause everybody knows it's spring again.«
Jawohl, Herr BizMarkie, der Frühling kommt, und damit leider auch die Legacy Systems Conference, in der Branche LegaSys abgekürzt - eine Messe mitten im alten Europa, für alte Menschen, die sich mit alten Rechnern beschäftigen und die Zukunft lieber anderen überlassen. Ein sehr lästiger Pflichttermin, zumal bei dem Wetter. Also ist Zeitspiel angesagt. Immer schön links und rechts gucken, bevor man über die Straßenbahnschienen geht - könnte ja ein Kind in der Nähe sein! Kurz anhalten, Rechnertasche abstellen, Tragehand wechseln, weiterlaufen. Am Kiosk extra langsam vorbeilaufen und die Eiskarte scannen. Ich schubse Nick an.
»Guck mal, Ed von Schleck gibt's immer noch, lustig.«
Der Feind von Tageslicht und Sonne schubst genervt zurück.
»Mach mal hin. Ey, ich will echt nicht wieder den Anfang verpassen. «
Dabei ist der Weg vom Bahnhof zur LegaSys das Beste an dem Trip. Man muss nämlich auf dem Weg ins Messezentrum durch den Zoo, oder, besser gesagt, über den Zoo, denn über das Gelände des Tierparks spannt sich in großem Bogen eine Fußgängerbrücke. Wenn man ganz oben angekommen ist, riecht es da immer so herrlich nach einer Mischung aus Fritten und Elefantendung, nach einem warmen Kinder-Tag, nach einem Tag wie heute. Auf dem Kanal, der sich unter der Brücke durchschlängelt, gleiten ein paar Tretboote vorbei. Ich halte an und schaue runter - noch eine berechnete Provokation.
»Was ist denn jetzt?«, drängelt Nick. Ich lehne mich ans Geländer und stelle den Rechner ab.
»Mann, wir haben doch noch ewig Zeit!«
Erst tut Nick so, als wolle er weiterlaufen, postiert sich dann aber doch neben mir. Das nächste Boot zuckelt vorbei. Man sieht dem hellblauen Fiberglaskörper an, dass er heute nach einer langen Winterpause zum ersten Mal wieder raus darf. Die makellose orangefarbene Haube glänzt im Licht des frühen Vormittags, und da, wo das Wasser an den weißen Bootsrand schlägt, zieht sich noch keine grüne Algenlinie entlang. Mutter und Tochter sitzen im Boot. Das Mädchen, vielleicht fünfundzwanzig, trägt ein lila Top, Jeans und -leicht optimistisch-Flipflops. Sie lümmelt in ihrem Sitz und tut so, als würde sie ihre Füße bewegen. In Wirklichkeit konzentriert sie sich total darauf, ihr Gesicht, das zu 95 Prozent von einer Sonnenbrille bedeckt ist, auf die Sonnenstrahlen auszurichten, die durch die kahlen Bäume am Ufer funzeln. Dabei lächelt sie ununterbrochen. Sieht immer ein bisschen nach »The Day After« aus, dieses Sonnen, bevor das erste Laub da ist. Ihre Mutter, grauhaarig und mit einer deutlich kleineren Sonnenbrille, ist das, was man wohl »rüstig« nennt. Sie tritt so energisch in die Pedale, wie es ihre Escada-Rüstung zulässt, und bewegt dazu ununterbrochen ihre pfirsichfarbenen faltigen Lippen. Verstehen kann man nichts von dem, was sie sagt, aber wahrscheinlich geht es in die Richtung von »Wenn die Blätter so hellgrün sind, das ist doch das Schönste«.
Und sie hat Recht. War das letztes Jahr? Oder vorletztes? Jedenfalls gab es da diesen Tag, diesen Moment, von dem einem die Eltern früher immer erzählt hatten und von dem man annahm, dass er im eigenen Leben niemals kommen würde. Und dann kommt er doch, und zum ersten Mal bemerkt man, wie die Welt jenseits der Eingabezeile eigentlich ausschaut. Dass die Blätter im Frühling eben echt hellgrün sind und ganz anders aussehen als im Sommer. Überhaupt, dass es Jahreszeiten gibt, die Zeit vergeht und eigentlich schon lange Halbzeit ist - rein statistisch. Auf einmal nimmst du diese alten Häuser wahr - genau wie die hier neben dem Tierpark; ihre Fassaden haben solche Einkerbungen, und die Balkons sind verschnörkelt wie der Rand eines Lebkuchenherzens. Natürlich hast du auch vorher gesehen, dass da alte Häuser sind. Aber jetzt guckst du sie dir echt an. Und sie sind wirklich schön. Was geht denn jetzt ab? Erschrocken über die unverhoffte Softness bläst du am Bildschirm fünf Stunden hintereinander Zombies die Hirne raus, doch es hilft nichts: Wenn du aus dem Fenster siehst, sind die schönen alten Häuser trotzdem noch da. Ob Nick sie auch bemerkt hat? Eher nicht, Frühlings-oder Herbstgefühle sind nicht so sein Ding. Nachdem er ungefähr zwanzig Sekunden in den Kanal gestarrt hat, beschließt er, dass es Zeit ist, sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zu widmen - und bei ihm bedeutet das: den gleichen Themen, über die wir schon auf dem Schulhof vor fünfundzwanzig Jahren gesprochen haben. Er fängt an, aus dem Brotkästchen zu plaudern - ein Gesprächsthema, das kaum weniger zur Stimmung passen könnte.
»Also ich hab nochmal überlegt: Es gibt keinen Todes-Poke. Das ist Stuss«, legt er los. Ich brauche ein paar Sekunden, um in den Retro-Modus umzuschalten, und halte erst mal ein bisschen dagegen.
»Aber sicher - wir haben's doch selbst ausprobiertl«