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Warum in aller Welt schmeckt Nutella aus diesen kleinen Aluschälchen viel besser als aus dem Glas? Zuhause verrotten die Becher im Schrank, doch sobald man im Frühstücksraum eines Hotels sitzt, muss man einfach immer weiter Nutella in sich hineinschaufeln, bis das Aluschälchen ratzekahl leer ist. Eine der wenigen Freuden einer Geschäftsreise, die man auch zu zweit genießen kann - anders als diese herrliche Minute, in der das Pay-TV noch nichts kostet. Wir sitzen im Frühstücksraum des Hotels zur guten Verkehrsanbindung. Und es ist verdammt hell. Nicht nur das Holz der Tische, sondern der ganze Raum. Viel zu hell für die kurze Nacht. An den porentief weißen Wänden hängen im Abstand von vielleicht 30 Zentimetern rote Plastikrosen. dazwischen selbst gemalte Aquarelle mit toskanischen Landschaften drauf. Cherchez la femme. Die anderen Gäste, allesamt Business-Heinis, starren stumm auf ihre Rechner, während sie mit der freien Hand mechanisch Müsli in sich hineinschaufeln. Früher raschelte an so einem Ort hier und da noch eine Zeitung, jetzt hört man nur noch das Klickern der Tastaturen. Auf einem Pult neben dem Eingang liegt zwar ein einsames Exemplar irgendeiner Lokalpostille. doch mit so einem Käseblatt will sich keiner der Weltmänner hier sehen lassen. Die checken lieber ihre Auktionen im Netz. Nick haut rein, als ob er seit Tagen nichts gegessen hätte. Er schmatzt und lacht und freut sich, dass er in wenigen Stunden wieder mit seiner Sabina zusammen sein kann. Früher hat er sich noch Mühe gegeben, dieses Gefühlsgedusel unter der Decke zu halten, so aus Rücksicht auf den armen Single. Doch das ist lange vorbei. Mittlerweile zwängt er mir den Pärchenpower-Mist gnadenlos auf, und zwar schön ausführlich: langatmige Protokolle von gemeinsamen Kinoerlebnissen. Shoppingtouren und Ausflügen.
» ... dann haben wir da am Ufer gesessen, und die ganzen Vatertagsbötchen sind grölend vorbeigeschippert.«
Eine weitere Geschichte mit schlechtem Verhältnis zwischen Rauschen und Signal. Auf den interessanten Kern der Story, nämlich Was für einen Bikini trug Sabina, geht er nicht ein. Triangel? Definitiv, sie kann es sich ja seit Neuestem leisten. Nick ist so ein furchtbar diskreter, geschmackvoller und asexueller Gentleman. Es ist Zeit, dass er mit seinem Romantik-Roman mal zum Ende kommt.
»Hm. Aber mal was anderes: Was machen wir denn jetzt?«
Nick schiebt sich ein weiteres Schinkenbrötchen in den Mund.
»Na, nach Hause fahren!«
Er lacht, dass die Krümel fliegen.
»Vorausgesetzt, dass Major Tom nix dagegen hat.«
Stimmt, da steht ja noch eine Antwort aus. Ich klappe unterm Tisch meinen Rechner auf. Was soll John schon geschrieben haben? Dass wir den Grid weiter rösten sollen, bis er noch mehr Daten ausspuckt? Wo nichts ist, lässt sich auch nichts herzaubern. Nein, die Sache ist durch, es sei denn, er schiebt noch Irvings Diskettenbox rüber, dann könnten wir die auch noch auslesen. Dafür bräuchten wir allerdings das passende Laufwerk für den Grid, so verlangt es das oberste Retro-Gesetz: Selbst die bestmöglich erhaltenen Medien taugen nichts ohne die passende Hardware zum Auslesen. Da, eine ungelesene Nachricht, ist sogar noch heute Nacht reingekommen. Ob John immer noch in diesem Führerbunker rumhängt? Bestimmt nicht. Wahrscheinlich ist er längst in die nächste Zeitzone weitergejettet oder läuft beim Iron Man auf Hawaii mit. Nachricht öffnen. Autsch, das wird Nick wehtun. Er schneidet gerade ein weiteres rundes Brötchen mit dem Messer auf und schmiert fingerdick Honig rein. Im Film würde der Regisseur jetzt langsam die klirrenden Teller und das Tastaturklicken ausblenden, bis die Tonspur komplett schweigt und man im Kinosaal das Popcorn auf den Boden rieseln hören kann. So ein Die-ganze-Welt-verschwindet-um-den- Helden-Moment. Wie bringe ich es ihm bei?
»Hör mal ...«
Nick schaut auf seine treu-ehrliche Art hoch, sodass es mir noch mehr leid tut, ihn enttäuschen zu müssen.
»Schätze, unser Auftrag ist noch nicht vorbei.«
Sein Kiefer kommt knirschend zum Halten. Ausnahmsweise bin ich dran, den Rechner zum großen Showdown rumzudrehen. Mit versteinertem Gesicht überfliegt der Beifahrer die Zeilen.
»Kuala Lumpur?«
Mehr bringt er nicht raus.
»Ja, wir sollen da unten in lrvings Wohnung die fehlenden Informationen beschaffen; die genaue Adresse schickt er noch.«
Am Anfang und am Ende von »Informationen« male ich mit den Fingern kleine Anführungszeichen in die Luft. Eine bescheuerte Geste, mit der mich Andie infiziert hat. Die Angestellten-Seele auf der anderen Seite des Tisches fängt langsam an zu sieden: »Aber wir sind doch kein Kurierdienst oder eine Detektei oder sonst was!«
Nick hat sein Brötchen beiseite gelegt, meinen Rechner ganz zu sich rübergezogen und liest Johns Nachricht nochmal, als ob sich dadurch irgendwas ändern würde. Alle paar Zeilen schüttelt er ungläubig den Kopf. Den Rest des Frühstücks verbringt er damit, rumzuzetern, was für ein totaler Schwachsinn das sei und ob die Datacorp da unten nicht jemand habe, der diese Lakaienarbeit erledigen könne, und so weiter. Ich höre gar nicht mehr zu, sondern beschäftige mich lieber mit dem erfreulichen Kern von Johns Nachricht: Transportation will be provided by Jeppesen. Das bedeutet, ein konspiratives Telefonat mit Andie steht an.
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Sie hat definitiv einen im Tee.
»Hi, Kee, Darling! I'm so happy ...«
Definitiv. Wahrscheinlich hat sie um zehn angefangen, sich Erdbeer-Daiquiris oder andere bunte Cocktails zu mixen - nein: aus einer Fertigflasche einzuschütten; dazu wurden höchstwahrscheinlich ein paar Duftkerzen angezündet. Im Hintergrund umpft frauenkompatible House-Musik vor sich hin, also Stücke, bei denen auch ab und zu gesungen wird. Ob sie alleine ist? Geweckt habe ich sie jedenfalls nicht, dafür war sie zu schnell dran. Dabei ist es in Washington schon ein Uhr nachts. Ich haspele eine Minute vor mich hin, um ihr die Lage zu erklären.
»Malaysia? Sounds great. Give me a second.«
Das dumpfe Tapsen von bestrumpften Füßen auf Holzfußboden entfernt sich. Man denkt ja immer, Superfrauen wie Andie würden rund um die Uhr auf Highheels rumstöckeln - auch zuhause. Doch das stimmt nicht. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, trägt sie dicke Norwegersocken mit solchen Gumminoppen drunter, die verhindern sollen, dass man ausrutscht. Wunsch ungleich Wirklichkeit. Deshalb ist die einzig perfekte Frau auch nur so eine, die man niemals richtig kennen lernt. Ach was, die man nicht mal anspricht, sondern nur aus der Entfernung genießt. Denn mit jedem Schritt, den man sich ihr nähert, wird sie zwangsläufig entzaubert. Dann entdeckt man die Stoppersocken unterm Bett oder die Hornhautraspel im Badezimmerschrank. So gesehen haben Nick und ich etliche äußerst perfekte Beziehungen hinter uns.
»Ooookay!«
Andie ist wieder dran. Jetzt sitzt sie sicher mit ihrem Rechner auf dem Schoß da und klickert mit ihren Krallen auf die Tastatur ein. Eingebildete Kleidung: Spagetti-Top und knapper Seiden-Panty. Tatsächliche Kleidung wahrscheinlich: dieser ausgewaschene Fleecepulli mit dem Logo ihrer tollen Studentenverbindung drauf.
»Are you travelling with ... what was his name again?«, flötet sie durch die transatlantische Leitung. Da ist es wieder, das berühmte Andrew-Ridgeley-Syndrom: Jeder weiß, dass er dabei war, aber niemand kann sich an seinen Namen erinnern. An dieser Krankheit leiden wir beide, oder besser gesagt, die Umwelt. Unsere Namen löschen sich schneller aus den Hirnen der Menschen als die Geheimanweisungen in »Mission Impossible«, Wir hinterlassen eben keinen besonders bleibenden Eindruck. Das merkt man zum Beispiel daran, dass im Fitness-Studio die gleichen Leute innerhalb von einer Stunde dreimal ein »Hey, alles klar?« rüberrufen - eben weil sie sich einfach nicht mehr daran erinnern können, dass sie einen schon mal begrüßt haben. Ich buchstabiere Nicks Namen.
»Alright.«
Weiteres Geklicker, ein neues Stück aus der Anlage. Schock! Kann das sein, ist es womöglich ... Keith Sweat? Auf jeden Fall irgendeine R'n'B-Sülze, bei der der Sänger über die Akkorde hinweg sehr intensiv spricht. So à la »Lady, you know that I love you«.
Ultimative Cheesyness.
»Okay, I'll put you on the flight ...«, Andie gibt professionell die Reisedaten durch. Ich notiere sie mir auf dem Notizblock, der neben dem Bett liegt. Nick wird nachher die restlichen Seiten - wie immer - zerreißen, weil er in irgendeinem Spionagefilm gesehen hat, dass sich die Buchstaben auf die Folgeseiten durchdrücken und böse Menschen sie immer noch entziffern können, wenn sie das Blatt gegen das Licht halten. Jetzt nur noch das »th« von »thanks« richtig hinbekommen und der Anruf ist pannenfrei über die Bühne gegangen. Andie haucht das obligatorische »take care«, ich mache mir die obligatorischen Hoffnungen, und das Gespräch ist vorbei.
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Es war keine gute Idee, ihn ausgerechnet heute fahren zu lassen. Old Nick ist aus gutem Grund der ewige Beifahrer, ganz einfach, weil er wie eine Oma fährt. Bei allen Denkprozessen, die in seinem Hirn ständig ablaufen, bleibt keine Rechenpower mehr übrig, um ein Lenkrad und zwei Pedale vernünftig zu bedienen. Dabei dürfte das gerade heute kein Problem sein. Es ist nicht viel los auf der Autobahn, weil Sonntagmittag ist und die Trucker ihre Böcke an der Raste geparkt haben und daneben mit nacktem Oberkörper Bier trinken. Abgesehen von ein paar Wohnmobilen, bei denen man aus der Ferne nie genau erkennen kann, ob sie noch fahren oder schon auf der rechten Spur campen, blockieren keine größeren Hindernisse die Straße. Nick stresst das Fahren trotzdem: Unentschieden driftet er von Spur zu Spur, bremst und gibt abwechselnd Gas, je nachdem, wie sehr in Fahrt er gerade ist. Und er ist ziemlich in Fahrt. Dass er an diesem Abend im Flugzeug nach Kuala Lumpur sitzt und nicht bei sich zuhause auf dem Sofa, nervt ihn gewaltig.
»Man, schon wieder diese Scheiß-Strecke!«
Obwohl die Klimaanlage volle Kanone läuft, kullert an seiner Schläfe ein kleiner Schweißtropfen runter.
»Was heißt schon wieder«, erkundige ich mich, ohne den Haltegriff über dem Fenster auch nur eine Sekunde loszulassen. Mein rechter Fuß pumpt fleißig auf einer virtuellen Bremse rum.
»War vorletzte Woche erst in den Staaten, West Virginia ...«, zischt er aus dem Mundwinkel. West Virginia? Es gibt nur einen Ort in West Virginia, wo die Datacorp regelmäßig hin muss. Nach Clarksburg, zur Criminal Justice Information Services Division des FBI, da sitzen die Computerspezialisten der amerikanischen Bundesbullen. Das könnte der perfekte Moment sein, um ein paar Dienstgeheimnisse aus ihm rauszukitzeln - jetzt, wo er seinen Arbeitgeber gerade so schön hasst. Ich teste ganz sachte das Wasser: »Worum ging's?«
»Ach, nix Großes. Die Strafverfolgungsbehörden ...«
Hallo? Ich bin nicht blöd, du kannst ruhig die drei Buchstaben sagen! Probier's mal: »Eff« - »Bieh« - »Ei«, geht ganz leicht. Doch Nick macht unbeirrt weiter auf diskret: »... die haben einen alten Mordfall aus den späten Achtzigern wieder rausgekramt. Das Problem lag darin, dass sämtliche Beweisfotos - und davon gab's in diesem Fall ziemlich viele - digital auf Videokassetten gespeichert waren.«
»Fotodateien auf Videokassetten? Woher kamen die Bilder? Ich wusste nicht, dass die damals schon Digitalkameras hatten ...«
»Ja, war wohl die erste Generation. Leider waren die Festplatten der PCs damals mit ein paar Bildern schon voll, und deshalb haben die Ermittler die Daten auf VHS-Kassetten runtergespielt. Alpha Microsystems hieß der Hersteller des Systems, glaube ich. Völlig krass, wenn du die Daten-Tapes in einen normalen Rekorder steckst, kannst du die Bits als weiße Punkte erkennen.«
»Wie bei Videodat!«
Nick schaut etwas verwirrt, fängt sich aber wieder.
»Äh, so in der Art. Na, jedenfalls konnte keiner mehr die Fotodateien von den Bändern runterholen, weil der passende Rekorder und all das andere Equipment in der Zwischenzeit verschwunden war. Wir mussten also bei null anfangen und das ganze System neu aufbauen: Videorekorder, Interface-Karte, Software, PC aus den Achtzigern mit acht Megahertz - all die modernen Kisten waren zu schnell!«
Ein Kombi mit Anhänger, auf dem ein Unfallwagen verzurrt ist, kriecht den Berg vor uns rauf und kommt bedrohlich schnell näher. Erst in letzter Sekunde reißt Nick unsere Kiste auf die mittlere Spur rüber, ohne zu blinken oder sich umzugucken.
»Mann, ey!«
Vorwurfsvoll starrt er beim Überholen den Fahrer des Kombis an, der ihn überhaupt nicht beachtet. Vielleicht kommt er runter, wenn er weitererzählen darf?
»Und, was war drauf auf den Fotos?«
»Das war ja die Gemeinheit«, Nick rutscht auf dem Sitz hin und her, »wir durften nur das System aufbauen. Als es ans Auslesen ging, hieß es bye-bye Datacorp.«
»Mies«, sekundiere ich. Wir biegen auf die Märklin-Meile ein, dieses Stück Autobahn, wo die Landschaft am Rand für ein paar Minuten wie auf einer Modelleisenbahnanlage aussieht. Schloss auf dem Berg, kleines Örtchen mit Kirchturm, Autobahnmeisterei - kaufen Sie jetzt das ganze Set von Faller! Zwei Kilometer schönes Germany. Ist in dreißig Jahren wahrscheinlich der einzige Landkreis, der noch existiert - weil ständig Horden von chinesischen Touristen anreisen, um die Märklin-Meile zu knipsen und Souvenir-Bierseidel zu kaufen. Nick hat sich langsam warmgeredet und schiebt gleich die nächste Story hinterher.
»Aber noch viel krasser war, dass bei uns im Team so ein Typ dabei war, der noch nie im Leben einen VHS-Rekorder bedient hat. Weißt du, so'n College-Überflieger. Der kannte nichts anderes als DVDs! Kein Wunder, bei dem stand im Perso vorne beim Geburtsjahrzehnt eine Neun. Eine Neun!«
Allerdings krass. Schon eine Acht kam einem ja jahrelang bizarr jung vor. Verständlich, dass Nick mit dem Typen ein Problem hatte. Wenn man so junge Leute trifft, fühlt man sich gleichzeitig unterlegen und überlegen. Unterlegen, weil die halt so jung sind, und überlegen, weil man ja die Erfahrung hat. Ja, genau, die Erfahrung. Angesichts der dicken Luft im Wagen entscheide ich mich für Überlegenheit und lege einen Opa-Klassiker auf: »Was die alles verpasst haben!«
Nick schaut wohlwollend rüber: bei dem Stichwort steigt er mehr als gerne ein.
»Allerdings. Es ist doch so: Die erste Hälfte der Siebziger war der perfekte Moment, um als Geek geboren zu werden: Man konnte Star Wars im Kino sehen ...» »... und wenn man sich mit einem schwarz angesprühtem Feuerwehrhelm als Darth Vader verkleidete, hieß das noch Karneval und nicht Cosplay!«
Einhelliges Lachen im Oldiemobil. Dann bastelt Nick weiter am perfekten Nostalgorithmus.
»Und gerade als man aus der Dinosaurier-Phase raus war, kam der C64 - genau in dem Moment, wo man als Junge anfängt, auf Details abzufahren. Wir hatten noch die Chance, einen Computer komplett zu verstehen, bis in die letzte Ecke der Zeropage!«
Nett von ihm, »wir« zu sagen, doch leider nicht wahr. In Wirklichkeit hat nur er den Cevi durchschaut, im Vergleich dazu waren alle anderen Leute höchstens ambitionierte Anwender. Aber bei seiner Rede vom perfekten Geek-Jahrzehnt vergisst Nick immer die andere Seite: Wir wurden ja nicht nur am Morgen der digitalen Revolution geboren, sondern auch am Abend der analogen Ära, wir konnten das Beste aus beiden Welten genießen.
»Wir durften noch flippern, dieses geile Terminator-Il-Teil zum Beispiel.«
Nick drückt sein Kinn auf den Hals runter, um besonders tief sprechen zu können.
»Silent alarm deactivated!«
»Ja, genau ...«
Wir nicken zufrieden vor uns hin. Wieder so ein Satz, den der Typ vom Jahrgang Neun niemals verstehen würde; ein geheimes Erkennungszeichen unserer Bande! Dann schaltet Nick auf nachdenklich zurück: »Und viel von dem Kram, den wir nur aus Sciencefiction-Filmen kannten, ist während unserer Lebenszeit ja Wirklichkeit geworden. Kirks Kommunikator oder die Bildtelefone aus 2001 - alles schon Alltag. In den Labors arbeiten sie schon daran, Computer mit Gedanken zu steuern - Firefox lässt grüßen, und Quantenteleportation funktioniert auch schon. Mal im Ernst: Wann hattest du zum letzten Mal das Gefühl, etwas könnte technisch völlig unmöglich sein?«
»Beim Raketenrucksack! Auf den warte ich immer noch, jetzt zum Beispiel, damit wären wir in zehn Minuten am Flughafen. War schon geil, als der Typ damit bei der Olympia-Eröffnungsfeier in L.A. reingeflogen kam ...«
Der ultimative Stunt!
»Hm«, sagt Nick und konzentriert sich wieder so gut er kann auf die Straße, also nicht sehr gut. Warum verstehen wir uns nur noch, wenn wir über Zeugs reden, das vor zwanzig Jahren war?
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»Nein, danke!«
Unglaublich, wie hart er diese Kreditkarten-Hyäne abgefertigt hat! Ohne auch nur einen Zentimeter vom Kurs abzuweichen oder abzubremsen. Respekt. Selbst der Typ kann es kaum fassen. Verdutzt bleibt er kurz stehen, um sich von Nicks Abfuhr zu erholen. Wie alle Amex-Aufreißer trägt er einen blauen Anzug, und wie alle anderen sieht er damit aus, als sei er auf dem Weg zu seiner Erstkommunion. Früher sind wir dieser Sorte lieber aus dem Weg gegangen, haben einen großen Bogen um die Stände gemacht. Nick scheint seine Liebe zur Konfrontation entdeckt zu haben. Viel gebracht hat es nicht. Kaum dass wir vorbei sind, stürzen sich die Kreditkarten -Hyänen auf ihre nächste Beute - eine Gruppe von Anzugträgern hinter uns. Aus gleich drei Kehlen gleichzeitig ertönt ihr Angriffsgeschrei »Darf ich Ihnen ...«.
Unser Flugsteig liegt im alten Teil des Flughafens, und das bedeutet, wir müssen uns erst mal durch ein stahlverstärktes Aquarium kämpfen, das der Betreiber in den Neunzigern aus dem Boden gestampft hat - das Terminal D, mit »D« wie Discount. Was aber nicht schlecht sein muss, nein, nein. Denn es ist Vorsaison, und das bedeutet, der Flughafen ist fest in der Hand von Rentnern, Geschäftsleuten und - hier wird's interessant - Paaren mit kleinen Kindern. Jawohl: Es herrscht MILF-Alarm, und zwar allerhöchste Stufe, MILF-CON ONE, sozusagen. Im Augenwinkel tauchen die gesträhnten Horden auf: Junge Mütter, die ihre Urlaubskleidung schon vor Abflug angelegt haben. Sie klackern auf hohen Sandalen durch die Halle, sind mit reichlich Schmuck behängt und stecken in Klamotten mit Tigermuster. Das »D« im Terminal steht halt nicht für dezent. Ein stattliches Exemplar mit knallenger Jeans kreuzt unseren Kurs. An der Hand zieht sie ein kleines Mädchen hinter sich her: »Nein Lea, dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr! «
Ihr Dekolletee quillt aus der weißen Leinentunika raus, und neben ihren Mundwinkeln ziehen sich so ganz kleine Falten runter, die dem an sich jungen Gesicht eine Spur von Härte geben. Warum ist das auf einmal interessant? Passt das Hirn den Geschmack vorauseilend an? Nick hat für so was natürlich keinen Blick. Unberührt marschiert er durch das Pailletten-Paradies weiter Richtung Terminal A, mit »A« für Atombunker. Von hier aus ist die Familie schon anno '77 nach Korsika abgeflogen, in den Sommerurlaub, FKK natürlich. Seitdem hat sich hier nicht viel getan. Der graue Waschbeton an der Decke wird jedes Jahr ein bisschen grauer, und aus den Belüftungsrohren, die wie Jet-Düsen aus der Wand ragen, dröhnt es ein bisschen lauter. Nur dieser schwarze Gummifußboden mit den Noppen drauf hält sich erstaunlich gut, trotz der Millionen von Kofferwägelchen, die mit einem nervtötenden »Rrrrrrrr« drübergerebelt sind.
»Ist das eine elektrische Schreibmaschine?«, fragt der Mann an der Sicherheitskontrolle, als Nick den Grid vorsichtig aufs Laufband legt. Überraschenderweise widersteht der Beifahrer der Versuchung, die Welt ein bisschen klüger zu machen, und drückt nur ein knappes »Ja, so in der Art« heraus. Dann schubsen uns die nachfolgenden Menschen ohne Gürtel in der Hose in den Wartebereich rein. Kurzer Scan: Glück gehabt, alle halten sich an die Zweier-Regel. Das ist eine der wenigen Sachen, die auf der ganzen Welt gelten: Jeder Reisende - Perverse mal ausgenommen -, der in einen Warteraum reinkommt, setzt sich so hin, dass mindestens zwei Sitze links und rechts neben seinem Platz frei bleiben. Man muss die Arme ausstrecken können, ohne Gefahr zu laufen, einen anderen Reisenden dabei zu berühren. Wie an der Rinne halt. Erst wenn wirklich alle Plätze mit Sicherheitsabstand weg sind, darf man die Zweier-Regel brechen. Dann wird's ziemlich ungemütlich. Ist hier auf dem Flug nach KUL, wie auf der Bordkarte steht, aber kein Problem. Kuala Lumpur scheint nicht gerade ein Touristenmagnet zu sein. Obwohl die Maschine in einer halben Stunde abheben soll, ist die Lounge noch gähnend leer, und wir können uns auf die Sitzbank direkt am Fenster fallen lassen - natürlich mit der gebotenen Pufferzone zwischen uns; die Zweier-Regel gilt selbstverständlich auch für Freunde und Blutsverwandte. Über der Startbahn bricht gerade die goldene Stunde an, wie es in Hollywood heißt - die Tageszeit, zu der alles schön aussieht und man selbst abgehalfterte Schauspieler ohne kiloweise Schminke auftreten lassen kann. Das Licht schafft es, selbst das hässliche Terminal A zu verzaubern: Die abgerundeten roten Plastikpaneele an der Außenwand wirken warm und freundlich, wie ein herzlicher Gruß aus der längst vergangenen Jetset-Ära. Unsere Mitreisenden lassen sich problemlos in kleine Schubladen packen, sodass man nicht weiter über sie nachdenken muss. Nichtnachdenken müssen - wieder eine der Sachen, die von Jahr für Jahr wichtiger werden. Jedenfalls spielen alle ihr Klischee routiniert: Das freundliche Paar um die Sechzig schweigt sich an; Halbbrillen hocken auf ihren Nasen und beide haben einen aufgeschlagenen Reiseführer im Schoß abgelegt. Ein paar Geschäftsleute, die aussehen, als würden sie aus Thailand oder von den Philippinen kommen, gestikulieren und lachen laut. Ein stämmiger Schnauzbartträger mit Bluthochdruck lutscht in Zeitlupe an seinem Schokoeis. Er sieht genau aus wie einer, der in Malaysia Walzen, Druckventile oder Kugellager verkauft - Zeugs halt, das der Rest der Welt wie durch ein Wunder noch nicht so gut hinkriegt wie wir. Nur er fällt auf: der Typ auf der Bank gegenüber. Er muss direkt hinter uns durch die Sicherheitskontrolle gegangen sein, denn er hat sich fast gleichzeitig mit uns hingesetzt. Objektiv gesehen sticht er nicht wirklich aus der Masse hervor: ein Typ mit blauem Sakko und grauer Flanellhose, sieht ein bisschen nach Busfahrer aus. Er gehört zu dieser Art von Mann, die schon so alt wie der eigene Vater aussehen, obwohl sie wahrscheinlich nur ein paar Jahre älter als man selbst sind. Liegt bei ihm vor allem an der Frisur: Statt die wachsende Lichtung auf dem Kopf hinzunehmen oder einfach alles raspelkurz zu rasieren, hat er die verbleibenden Haare an der Seite einmal quer über die Platte rübergekämmt. Mit diesem Tarnlook sieht er locker wie Fünfzig aus. Doch was wirklich auffällt, ist, dass er ohne Gepäck reist. Keine Rechnertasche steht zwischen seinen Beinen, kein Aktenkoffer, nicht mal eine Duty-free-Tüte. Nichts. Er hat seine Bordkarte einfach so in die Seitentasche seines Sakkos gestopft, aus der sie jetzt gefährlich weit raus baumelt. Seine ganze Erscheinung wirkt so, als hätte er bei einem dieser Radio-Gewinnspiele mitgemacht, wo der Sieger eine Reise gewinnt, die er sofort antreten muss. Sie haben sechzig Minuten Zeit, zum Flughafen zu kommen! Da muss man den Schreibtischplatz im Einwohnermeldeamt eben mal schnell räumen. Und er interessiert sich für den Grid. Immer wenn er glaubt, dass keiner von uns hinsieht, fixiert er den schwarzen Kasten auf dem Platz neben Nick. Zack! Und schon wieder kreuzen sich unsere Blicke. Seine grauen Augen liegen in tiefen Höhlen, die Wangen wirken teigig wie bei einer Wasserleiche, dafür ist er perfekt rasiert. Er starrt mich so leer an wie die Linse einer Überwachungskamera. In seinem Gesicht steht nichts, kein Gespanntsein auf den Urlaub, kein Genervtsein von der langen Dienstreise, keine Vorfreude auf zuhause. Nichts. Was will der? Hält er uns für Stricher auf dem Weg zum erotischen Abenteuerurlaub? Oder er ist so ein Air Marshall, der nur mitfliegt, um Terroristen abzuschrecken? Nick fragen geht nicht, dafür sitzt der Typ zu nah dran. Die Gummisohle unter dem schwarzen Lederschuh des Busfahrers stößt fast mit der Spitze seiner Vans zusammen. Also abwarten.
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Immerhin - diese eine Kumpelsitte hat sich Nick noch bewahrt: Die Coolen aus der letzten Bank bleiben so lange sitzen, bis alle eingestiegen sind. Oder vielleicht ist er auch deshalb nicht aufgestanden, weil er gleich noch per Telefon ein letztes Bussi an Sabinchen schicken will. Jedenfalls kauert der Beifahrer ungerührt über seinem Dienstrechner, obwohl die Einsteigeschlange schon auf drei Passagiere abgeschmolzen ist. Die Kartenabreißerin lässt ihren Blick über die leeren Sitzreihen schweifen und schaut schon etwas streng rüber; der Schnäuzer hat die Verpackungsfolie von seinem Eis einfach liegen lassen. Sei kein Schmutzfink, sagt der Autobahnfink. Nur noch drei Menschen sitzen in der Wartelounge: Nick, ich und der Busfahrer. Ich sammele meine Reisetasche mit den neuen TShirts ein, die wir vor dem Einchecken noch schnell gekauft haben, und stoße Nick an.
»Lass mal aufstehen.«
Er schreckt hoch, als hätte man ihn mitten in der Nacht geweckt.
»Ja, hm, klar.«
Mit dem schwarzen Pfund Magnesium unterm Arm trottet er hinter mir her zum Ende der Schlange. Jetzt bloß nicht umdrehen, bloß nicht auffallen. Außer Nick ist im Augenwinkel keine Bewegung zu erkennen; der graue Fleck Mensch hinten auf der Sitzbank rührt sich nicht. Warum steht der Typ nicht auf? Ritsch, Pass zeigen, guten Flug, »Danke«, sage ich.
»Danke«, sagt Nick. Dann tauchen wir auch schon in das Halbdunkel des Fingers ab, an dessen Ende sich wie immer die Schlange von eben nochmal zum großen Wiedersehen trifft. Ein letzter Blick zurück um die Ecke. Der Busfahrer -Typ ist weg. Nicht hinter uns eingestiegen, sondern einfach weg.
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Hinter jeder Ecke Verfolger vermuten darf in unserem Duo mit null Fäusten nur Nick. Darauf hat er ein Monopol; nein, besser, er würde sagen, es sei seine Kernkompetenz. Jedenfalls lässt sich der alte Verschwörenöter in diesem Punkt nicht die Butter vom Brot nehmen, erst recht nicht von einem dahergelaufenen Data Retrieval Specialist. Dass ich zur Abwechslung auch mal einen von ihnen gesichtet habe, passt ihm gar nicht. Deshalb mauert er erst mal: »Vielleicht hat der Typ was vergessen und musste nochmal zurück. Oder er arbeitet bei der Airline und hat überprüft, ob die Abreißlady auch wirklich alle Pässe überprüft.«
Manchmal benimmt er sich wirklich kindisch.
»Schwachsinn, der hatte eine Bordkarte dabei. Habe ich selbst gesehen, die hing aus seiner Tasche. Ich sag dir: Der wollte nur sichergehen, dass wir einsteigen und den Grid auch wirklich mitnehmen! Oder gucken, ob er uns ihn vorher irgendwie abknöpfen kann.«
Da ich im Grunde genommen zugebe, dass er mit seiner Theorie von ihnen Recht hatte, kann er seinen Antikurs natürlich nicht lange durchhalten. Und zack, schon lenkt er ein.
»Wie dem auch sei. Vielleicht glaubst du mir jetzt ja endlich, dass wir bei diesem Fall nicht die Einzigen sind, die ...«
Es folgen weitere Sätze, die unter der Überschrift SIEHSTE stehen. Während er sich noch beweihräuchert, schnalle ich mich nochmal ab, hole den Grid aus dem Gepäckfach und schiebe ihn unter meinen Sitz. Wer weiß. Arbeiten können wir mit der Kiste hier im Flugzeug ohnehin nicht - der Compass 1101 hat keinen Akku. Das dürfte in der Werbung schwierig zu verkaufen gewesen sein. Arbeiten Sie, wo und wann Sie wollen - Sternchentext, nur mit der Lupe zu erkennen: aber nicht weiter als 50 Zentimeter von der nächsten Steckdose entfernt. Nach und nach kommt Nick zum Ende: »... wir sollten das Teil jedenfalls nicht mehr aus den Augen lassen. Selbst dir dürfte ja wohl jetzt klar sein, dass wir keine Sekunde mehr unbeobachtet sind.«
Manchmal ist er wirklich schwer zu ertragen. Die Stewardess dimmt die Kabinenbeleuchtung runter, damit der Bildschirm an der Decke besser zu erkennen ist, über den die Weltkarte flimmert. Immer wieder malt der 386er den roten Bogen von der Mitte nach ganz rechts, von Europa nach Asien. Ein weiteres Legacy-System, das brav seinen Dienst tut; hoffentlich ist es das einzige an Bord. Sechstausend Meilen, fünfzehn Stunden, ein Zwischenstopp. Wir heben in der Dämmerung ab, dann rast am Fenster im Zeitraffer ein Tag vorbei, und wenn wir in Kuala Lumpur unser Gepäck holen, geht auch schon fast die Sonne wieder unter. Vor uns liegt ein verdammt langer, dunkler Tunnel. Das lästige Warten darauf. dass die Maschine von der Parkposition weggeschoben wird, beginnt. Der schneidige Captain, dessen Bariton fast bis in Barry-White-Sphären runterreicht. hat schon bei seiner Klarmacher-Ansage durchblicken lassen, dass es noch ein bisschen dauern kann. Es sei »noch einiger Verkehr vor uns«.
Eines Tages, wenn wir wirklich gar nichts mehr zu verlieren haben, werden wir uns einen Edding krallen, zur Cockpit-Tür schleichen und vor CREW ONLY ein kleines S kritzeln. Nachdem wir gierig die Gratis-Minitüte Salzbrezeln runtergeschlungen und mit dem Gratis-Tomatensaft nachgespült haben, bricht Stille aus. Sie ist von der unangenehmen Sorte, wie wenn man mit entfernten Verwandten in einem Zugabteil eingesperrt ist. Wenn wir erst mal ein paar Tage unterwegs sind, wird sich das gottseidank legen, dann ist Stille der Default. Jetzt allerdings muss irgendwie noch Konversation getrieben werden.
»Sag mal, warum benutzt Irving eigentlich so einen alten Hobel? Der hätte doch sicher genug Geld, um sich einen modernen Rechner zu leisten«, frage ich an. Nick fischt mit dem kleinen Finger ein paar letzte Salzkrümel aus der Packung. Schmatz.
»Sicherheit durch Seltenheit.«
Schmatz.
»Heißt?«
»Siehst du doch: Dadurch, dass er so eine antike Kiste wie den Grid benutzt, kommt keiner an seine Daten ran. Selbst wir - die Profis, haha - haben ewig gebraucht. Daran kannste sehen, was ultimative Sicherheit ist - auf einem Rechner zu arbeiten, der so alt ist, dass ihn niemand mehr kennt.«
Stimmt. Diese Taktik wenden ja angeblich mehr Leute an, als man denkt. So kursieren immer wieder Gerüchte, dass das britische Verteidigungsministerium auf seinen Servern angestaubte Betriebssysteme wie Mac OS 9 oder frühe Versionen von Sun Solaris laufen lässt. Ein genialer Schachzug, schließlich reichen für das einfache Netzzeug die alten Systeme locker aus. Plus: Die meisten Skript-Kiddies haben von diesen IT-Antiquitäten noch nie was gehört und werden sich nicht die Mühe machen, ein Einbruchstool für ein System zu schreiben, dass weltweit vielleicht noch ein paar hundert Mal am Netz hängt. Retrotech gleich billige Sicherheit eben.
»Das heißt, wenn man nur lange genug wartet, wird jedes System irgendwann feuerfest.«
Mein Copilot schaut kurz zur Decke und nickt langsam, während er meine sicherlich kindische Schlussfolgerung überprüft.
»Am Ende des Tages schon - vorausgesetzt, es existiert keine Sicherheitslücke, die sich unentdeckt von den alten auf die neuen Systeme vererbt hat.«
Plötzlich geht ein Ruck durch die Maschine und MC Kranich greift wieder zum Mikro. Ladies and gentleman, the tower has cleared us for takeoff. Unsere Reise durch zweieinhalb Tage Dunkelheit kann beginnen.
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Hey, ignorance is bliss! Berger war der Coolste, oder besser gesagt: der Berger. Wer zu den ganz Großen gehört, verdient einen Artikel. Wie er wirklich hieß, weiß ich bis heute nicht und will es auch eigentlich nicht wissen, weil das den Nimbus töten würde. Der Berger, das war so einer, wie es ihn in jeder Oberstufe gibt - einer dieser Typen, die über den Dingen stehen. Sie sind so cool, so unabhängig, so erwachsen im guten Sinn, dass es einem den Atem verschlägt. Geheimnisvolle Figuren eben. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob der Berger überhaupt auf unsere Schule ging. Jedenfalls haben wir nie gesehen, dass er mal hinter einer Schulbank gesessen hat. Überhaupt: Weiter als bis zum Aufenthaltsraum mit dem Kaffeeautomaten ist er ins Schulgebäude anscheinend nie vorgedrungen. Angeblich hatte er einen festen Wohnsitz und Eltern, wobei auch das niemand so richtig bestätigen konnte. Alles, was wir von ihm kannten, waren er und sein Auto: Der Berger fuhr einen alten orangefarbenen MG-das Modell, bei dem oben am Ganghebel noch ein Overdrive-Knopf drauf ist, der, keine Ahnung, die Kiste irgendwie schneller macht. Gedrückt hat er ihn unter Zeugen natürlich nie, das wäre viel zu hektisch, viel zu uncool gewesen. Doch, doch, von Understatement verstand der Berger was, das muss man ihm hoch anrechnen, schließlich ist das gerade für Achtzehnjährige ein Fremdwort, erst recht, wenn sie am Ende der Achtzigerjahre aufwachsen. Der Mann war geradezu das Understatement in Person. Anstatt seinen oberlässigen Wagen auf Hochglanz zu polieren und jeden Morgen damit auf dem Schulparkplatz den Molli zu machen - was er locker gekonnt hätte -, ließ er die Kiste völlig verranzen und stellte sie um die Ecke hinter der Schule ab. Und als vorne die Plastikstoßstange abfiel, band er sie mit Paketschnur wieder dran. Wer ständig auf der Durchreise ist, hat eben keine Zeit für Reparaturen. Ein Mann im ewigen Transit. Doch der absolute Überspleen. sozusagen Understatement im Overdrive, war, dass er immer alleine fuhr. Der Berger hatte nämlich schon einen Beifahrer - ein altes braunes Bücherregal, das den ganzen zweiten Sitz seines Sportwagens belegte. Damit war die Kiste offiziell voll, und immer wenn sich ein Unwissender in Bergers Coolheit sonnen wollte, murmelte der irgendwas von »... Regal. muss ich noch zu ... fahren, sorry«.
Das klingt von heute aus gesehen ziemlich arrogant, war es aber nicht. Wer Berger kannte, nahm ihm das nicht übel. Tief in uns drinnen wussten wir alle, dass es einfach falsch wäre, wenn er nicht alleine in seinem Wagen säße. Die ganze Kinderkacke. um die sich unser Leben damals drehte, ließ der Berger links liegen. Fast geprügelt, fast Ampelrennen gewonnen, fast Mädchen klargemacht - in unseren Angeberstorys mit reichlich Konjunktiven, die wir Montagmorgen rausbliesen, kam er nie vor. Dabei sah er aus wie Pierre Cassa, der Typ, den Sophie Marceau in »La Boum 2« kriegt. Wenn er auch nur eine Minute das verdammte Regal aus seinem Wagen geräumt hätte, wäre sofort ein Mädel reingesprungen, um seine dreams zur reality zu machen. Doch das hätte nicht zu einem Mann gepasst, der nur einen vollen Tank und eine leere Straße braucht. Und deshalb passierte es auch nicht. Kurz vor dem Abi jedenfalls fuhr Berger einmal übers Wochenende nach Berlin, was an sich schon eine lässige Aktion war, da die Fahrt wegen der Warterei an der Grenze damals locker acht Stunden dauern konnte und den meisten von uns deshalb wie eine Weltreise vorkam. Er wolle ein paar Freunde besuchen, hatte er gesagt. Ding-ding-ding, der Kandidat erhält weitere Tausend Coolheits-Punkte, noch neuntausend bis zur Mickey-Rourke-Schallmauer. Wer Menschen außerhalb unserer Trabantenstadt kannte, der verdiente nicht weniger als Ehrfurcht. Der Berger rollte also Freitagnachmittag los und fuhr am nächsten Montagmorgen gähnend wieder auf dem Schulparkplatz vor. Und, wie war's? Im SO36 gewesen, im Linientreu oder gar – haha - im Big Eden? Wie üblich, wenn ihn Unwürdige wie wir ansprachen, blieb er betont freundlich, ließ uns aber gleichzeitig spüren, wie sehr ihn jeder Satz anstrengte.
»Nö, haben Video geguckt.«
Was, das ganze Wochenende?, fragte einer von hinten. Der Berger grinste nur, steckte seinen Autoschlüssel in die Tasche, und dann sagte er diesen unfassbar coolen Satz, in seinem - warum auch immer - perfekten Englisch: »Hey, ignorance is blissl«
Genau, Nichtswissen ist Glück. Scheiß auf Kuala Lumpur, »Käi Ell«,wie hier alle sagen. Scheiß auf Land und Leute. Jetzt einen Big-Mäc essen, BBC World gucken und dann mit der U-Bahn zurück zum Flughafen rasen, ohne auch nur einen einzigen Quadratzentimeter Malaysia mitbekommen zu haben. Wir haben es uns verdient, irgendwo hinzufahren und dort absolut nichts zu erleben, außerhalb des Kopfes. Wir sind alt genug, um ignorant zu sein, oder, Berger? Wir wissen, dass wir nichts wissen wollen. Gott, wie schön ist es, nicht mehr auf dem Schulhof zu sein und bei allem mitreden zu müssen, sondern stattdessen die selektive Ignoranz zu pflegen. Einfach mal über etwas nichts wissen, das ist wahrer Luxus. Teile der Welt einfach ausblenden - die Champions League, Quadfahren oder eben KL. Nick schnarcht auf dem Bett rechts vor sich hin. Vor dem Bauch hält er ein Kissen umklammert und schmatzt ab und zu. Er hat's gut, der funktioniert wie eine Schlafpuppe: Sobald er seinen Körper in die Horizontale bringt, pennt er ein, da kann drum herum passieren, was will. Nur in absoluten Notfällen schraubt er sich zusätzlich ein paar Ohropax rein. Andie hat es echt gut gemeint: Unser Zimmer - ein Rechtsabbieger - liegt im einundzwanzigsten Stock, mit Panorarnablick über die Stadt, kostet sicher ein Vermögen. Das wird unsere Reisekostenrechnung ordentlich aufblasen. Süß, sie hat sich sogar dran erinnert, dass wir am liebsten im Doppelzimmer pennen, so als Reminiszenz an unsere Kumpeltouren. vielleicht spart das wieder ein paar Dollar, und sie hat uns dafür die Aussicht spendiert? Egal. Ich lehne mich mit der Stirn an die Fensterscheibe und starre runter. Am Fuß des Hotelturms schlängelt sich eine vierspurige Autobahn vorbei, auf der ein paar einsame rote Taxis mit weißem Dach Richtung Innenstadt kriechen. So eins hat uns hier vor fünf Stunden halb tot ausgespuckt. Wir scheinen mitten im Stadtpark von Kuala Lumpur zu wohnen. Um uns herum türmt sich ein schwarzes Gebirge auf, aus dem nur die Wipfel der Palmen herausragen - als ob Colonel Trautman das Hotel mitten im Dschungel abgesetzt hätte. Der Park reicht weit in die Stadt hinein, bis zu den Türmen der Innenstadt, die sich in den Nachthimmel strecken. Arrogante Klötze, in denen die Weyland-Yutani oder die Tyrell Corporation residieren könnten. Und als ob die voll erleuchteten Etagen nicht schon auffällig genug wären, werden sie zusätzlich noch mit Scheinwerferbatterien von unten angestrahlt - wie Kathedralen, denen der tropische Dunst einen Heiligenschein verpasst hat. Ein besonderer Ignoranz-Erfolg: Wir haben das einzige Zimmer im Hotel erwischt, von dem aus man die Türme des Ölkonzerns Petronas nicht sehen kann, das Wahrzeichen der Stadt, auf das hier jedermann furchtbar stolz ist. Es sind die größten Zwillingstürme, die man mit Petrodollars kaufen kann, oder so. Hat da nicht mal ein Bond-Film gespielt? Jedenfalls verdeckt von unserem Zimmer aus gesehen ein anderer Wolkenkratzer die Türme. Nur am Glimmen um den Sichtverderber herum ist zu erkennen, dass ein Gigant hinter ihm steht. Ich ziehe mich leise an und schleiche auf den Flur raus. Er ist mit Teppich ausgelegt, wie im Dorint daheim, nur schöner: ein Mosaik aus hell-und dunkelbraunen Rechtecken, das perfekt zum dunklen Holz der Decke passt. Aus den Ritzen glimmt warmes Licht. Der Aufzug kommt. Fast geräuschlos gleitet die Tür auf, und eine Grotte aus Messing lädt zur Fahrt ein. Stumm schwebt der Fahrstuhl runter ins Wellness-Stockwerk. Jetzt irgendwas Gesundes, nach dem ganzen Flugzeugdreck. Der Sportraum sieht wie in allen Hotels auf der Welt aus: etwas zu helle Neonröhren, die guten Geräte mit der Schnecke drauf, am Eingang ein kleiner Berg mit blauen Handtüchern. Keine Überraschungen, gut. Ich steige aufs Laufband und trotte halbherzig los. Lästige KörperVerwaltung. Für so einen Topladen quietscht die Maschine ziemlich laut. Drüben, in der Ecke bei den Gewichten, drückt sich ein weiterer schlafloser Westler rum. Nach seinen blauen Shorts und weißen Tennissocken zu urteilen, muss es ein Amerikaner sein; keine andere Nation der Welt zieht weiße Schlauchsocken wirklich bis in die Kniekehle hoch. Er stemmt mit seinen ziemlich dünnen Armen ein paar für ihn deutlich zu schwere Hanteln hoch, acht Mal auf jeder Seite, dann schlurrt er zum Wasserspender. Von oben aus der Sounddusche tröpfelt ein Lied von Spandau Ballet, das gerade laut genug ist, um das Wimmern des Laufbandes zu übertönen. Tony Hadley war schon ein Cooler; letztens im Fernsehen, da sah er aufgedunsen aus wie der späte Marlon Brando. Und Martin Frey von ABC tritt als Pausenclown bei der Wahl zur Miss Slowakei auf. Sind die dir erwachsen genug, Nick? Ein Glück, dass niemand weiß, was der Berger heute macht. Nachdem sich der Ami sehr bedächtig Wasser in seinen Plastikbecher nachgefüllt hat, greift er ein weiteres Mal zu den Hanteln, setzt sie aber gleich wieder ab und lehnt sich mit der Stirn an ein Gerät. Durch das Dreieck zwischen seinem Ober-und Unterarm hindurch ist sein Profil zu erkennen. Ganz vorsichtig bewegt er die Lippen zum Text, bedacht darauf, bloß keinen lauten Ton von sich zu geben. We made our love on wa-aste-land - and through the barricades Auf der Uhr hinter ihm kriecht der Stundenzeiger Richtung drei.