LEVEL 35

Wenn die Drohne nicht wäre, könnte es immer noch ein perfekter Tag sein, der beste vielleicht seit vielen Jahren. Über dem Hubschrauberlandeplatz flimmert die Luft, und alle paar Minuten, wenn der Wind sich dreht und den Turbinenlärm wegtreibt, hört man die Blechwände der Baracken unter der ungewohnten Hitze knistern. Wie ein Kadaver in der Wüste liegt die Radarstation da: abgefressen, ausgeblichen und gleichzeitig friedlich, jedenfalls bis vor zehn Minuten. Seltsam. Ein halbes Leben lang haben Nick und ich am Feuerknopf gesessen, gejagt von Space Invaders, Blinky, Pinky , mutierten Space Marines oder was auch immer. Und genau genommen haben wir all die Jahre nichts anderes trainiert, als den Feind zu ignorieren, weil das der einzige Weg war, den nächsten Level zu schaffen. Wer einen Blick auf den Endboss verschwendete, statt nur an den nächsten Schuss oder Tritt zu denken, kam aus dem Flow und war im Prinzip schon ausgezählt. Für die Realität hat das Training nichts gebracht: Ich kaure hinter meinem Betonklotz und habe Angst, richtig Angst. Wie '91 auf dem Open Air in Schüttdorf, als der Asi sein Springmesser rausgeholt hat und ich weggerannt bin. Nur dass wegrennen hier nicht funktioniert. Links abzubiegen war eine schlechte Idee. Jetzt sitze ich in der Falle: Hinter mir geht es den Berg runter, und dahinter kommt bis Kangerlussuaq nur Gras, braun und platt wie der Aschenplatz unserer Schule. Runterzuklettern kommt nicht in Frage, da erwischt mich die Drohne sofort. Der Streifen da am Horizont - dass muss die Piste sein, an der mich Âke vorhin abgesetzt hat. Unerreichbar weit weg. Daneben kriechen zwei schwarze Punkte über die endlose Ebene, Moschusochsen wahrscheinlich. Von hier oben wirken sie wie Ameisen; wenigstens stimmt mein Sicherheitsabstand. Auf der anderen Seite sieht es besser aus. Diese kleinen Metallbrücken zwischen den Baracken könnten das Ding aufhalten. Aber wohin dann? Ganz hinten am Ende der Anlage glänzt was, ein alter Schuppen mit Solarzellen auf dem Dach, das heißt: neu gebaut. Plus, die Tür ist nicht mit Brettern vernagelt, anders als bei den anderen Baracken. Aber um da hinzukommen, muss ich quer über die große Straße, am Feind vorbei. Kalt ist es hier, im Schatten. Mein Cape liegt immer noch drüben bei den Antennen, genau wie die Wasserflasche, also außer Reichweite. Die Drohne summt jetzt wieder lauter. Zuerst dachte ich, das wäre ein Düsenjäger, der hier oben in der Tundra den Tiefflug übt, und hätte fast noch gewunken. Erst als das Ding schon an der ersten Baracke war, bin ich losgerannt, viel zu spät. Seltsam, selbst auf die paar Meter war nichts zu erkennen, außer einem Flimmern in der Luft. Ich kann Nicks Vortrag förmlich hören: »Chamäleon UAV - Unmanned Aerial Vehicle - mit Tarnvorrichtung, hat die Air Force längst.«

Als Verweigerer weiß er über Militärzeug natürlich bestens Bescheid. Unbemannter Aufklärer, gekapselte Rotoren, schwebt über dem Boden. Den Tarneffekt erzeugen Displays auf der Außenhaut, die von Rundumkameras gefüttert werden. Eine Art fliegender Monitor, der das anzeigt, was hinter der Drohne zu sehen wäre. Lässt die Drohne durchsichtig aussehen - wie den Predator -, solange sie sich nicht schnell bewegt. Nur der aufgewirbelte Staub verrät ihre Position. Gegenmaßnahmen, Nick? Und bitte schnell. Die Turbinen brüllen immer lauter. Jetzt steuert das UAV wahrscheinlich die große Gasse runter, auf mein Versteck zu, als ob es weiß, wo ich bin. Klar, Computerlogik, letzte registrierte Position des Ziels einnehmen. In ein paar Sekunden wird es um die Ecke rauschen, die Zeit läuft ab. Trotzdem kann ich nichts davon ernst nehmen. Es passt einfach nicht. Ein Angsthase, schon vorgemerkt für den Herzanfall im Seniorenstift - verschollen am Ende der WeIt? Undenkbar. Und was, wenn doch? Sabina würde nur ein Paar ihrer fabelhaften schwarzen Slingpumps anziehen, vielleicht sogar für den Anlass die Flecken auf der Innenseite abwischen, und Nick mitleidig anschauen. Er hätte eine schlecht gebundene Krawatte an, da ihm jetzt ja niemand mehr mit dem Knoten helfen könnte. Der würde sich echt Vorwürfe machen; dass er mich ausgerechnet auf dem letzten Kreuzzug allein gelassen hat. Dabei war es allein meine Schwachsinnsidee, hierherzufahren. Aber für einen guten Menschen wie Nick spielt das keine Rolle. Er wird sich einreden, an allem schuld zu sein. Allein für ihn muss ich hier wieder wegkommen. Ich renne los. Die Timberlands rutschen weg, ich falle, reiße mir die Handflächen auf. Scheiß City-Slicker-Ausrüstung. Dauert bestimmt wieder Wochen, bis das heilt. Eine, zwei, drei schwarze Baracken huschen vorbei, dann reißt die Deckung ab. Grelle Sonne von rechts. Im Augenwinkel ein Flimmern; die Drohne kann nur noch Meter entfernt sein. Jetzt hat sie mich registriert, die Steuerservos wimmern auf. Weiter, schnell weiter. Ich habe wieder den Schatten einer Baracke erreicht, von hinten wird es stiller. Wahrscheinlich braucht die Drohne ein bisschen, um abzubiegen. Oder sie hat die Peilung verloren. Die Hütte kommt näher. Sieht wirklich neu aus. Über dreißig Jahre, nachdem die Station stillgelegt wurde? Wer hat die Spur hierher gelegt? Und mit wem hat Nick am Pool telefoniert? Nein, es war nur der Wind. Die Triebwerke röhren genauso laut wie vorher, vielleicht sogar noch lauter; die Maschine hat mich gewittert und muss jetzt direkt hinter mir sein. Blick über die Schulter - mein Plan ist gescheitert: Die Drohne rast über die Dächer hinweg und überfliegt ganz locker die Metallbrücken. Blick nach unten: Die Staubfahne der Rotoren erreicht meine Füße. Nur noch zwei Meter. Meine Fingerspitzen berühren die Tür, jetzt durch. Schmerz in der Stirn. Dunkelheit.


Extraleben - Trilogie
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