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Es geht runter in Vaters Höhle: Wir haben das mysteriöse Tape aus Irvings Bude in den Rekorder gelegt und den Ausgang mit meinem Dienstrechner verbunden. Als Erstes werden wir mal eine digitale Kopie ziehen, schön mit 24 Bit und 96 Kilohertz, fast besser als das Original. Nick zeigt mit einer einladenden Handbewegung auf die Play-Taste, so, als wollte er sagen: Bitte sehr, dem Herrn Hardware-Beauftragten gebührt der Vortritt. Danke, gerne. Ich drücke auf Wiedergabe, und der Mini-Lautsprecher des Rekorders rauscht leise vor sich hin, während das Vorspannband durchläuft. Es ist die reinste Therapie, mal wieder. Ohne Technik wären wir längst durchgedreht. Wie oft war dieses Rumgeschraube unser letzter Anker, als alles drum herum unterging? Vorletztes Jahr zum Beispiel, als Nicks Vater starb. Es passierte einfach so - das Herz, raunte jemand auf der Beerdigung rüber. Das hat den Dude echt mitgenommen. Und wie sah seine Trauerarbeit aus? Holte er die Bibel raus, las er nochmal Siddhartha von Hesse oder entdeckte er die Kirche wieder? Nein, er verschanzte sich eine volle Woche lang in seiner Bude, um ein Gerät zu bauen, mit dem er sein Garagentor fernsteuern kann, und zwar so richtig, über eine Distanz von 1000 Kilometern. Mit seinem Apple Newton von 1993· Nun ist es nicht so, dass er mit seinem Dad so richtig dicke war. Überhaupt nicht: Bis auf Weihnachten und Ostern haben sich die zwei überhaupt nicht mehr gesehen, und selbst auf diese Treffen hat sich Nick nicht gerade gefreut. Als ich ihn mal fragte, was da so abläuft, meinte er nur lakonisch.

»Wir gehen mit dem Hund in den Park und reden über Drucker.«

Woher sollte die Freundschaft auch kommen? Sein alter Herr gehörte zu diesen Wirtschaftswunder-Relikten, er war so ein Vater von der Sorte, die sich darauf beschränkt, ab und zu die Hinterköpfe der Kinder zu tätscheln. Ingenieur in der Chemieindustrie. sein halbes Leben in Brasilien oder sonst wo unterwegs. Trotzdem nahm sich Nick seinen Tod, wie fast alles, was mit Menschen zu tun hat, richtig zu Herzen. In der Kirche hat er fast lauter geschluchzt als seine Mom, als der Organist »A Whiter Shade of Pale« verhackstückte. Bei dem Lied haben sich seine Eltern wohl kennen gelernt. Na ja, und danach war er halt weg.

»Sprich doch mal mit ihm«, hatte mich Sabina angefleht. Ganz sicher nicht, kleine Lady! Denn anders als ihr war mir klar, was er in diesem Moment wirklich brauchte: Er musste allein sein mit den Schaltkreisen, und wenn er eine Sache nicht brauchte, dann war es ein Gespräch, mit wem auch immer. Es ist halt alles so schön einfach mit der Technik. LDA#$3E -lädt den Akkumulator mit dem Wert $3E. STA$E842 -legt den Wert im Speicher an der Adresse $E842 ab. Nichts bleibt im Unklaren, es gibt nichts zu diskutieren oder zu interpretieren. Die kleine, reine Welt der Maschine. Klar ist das verschroben, aber auch nicht verschrobener, als sich im Keller eine kleine, perfekte Modellbahn-Landschaft hinzubauen und in den Schlafzimmern der Minihäuser kopulierende Eheleute im Maßstab H0 zu verteilen. Oft war die Technik der letzte Fluchtpunkt. Doch so sehr wie heute haben wir es noch nie genossen, in diese perfekte Welt abtauchen zu können. Wir hocken so dicht am Rekorder, dass unsere Ohren fast das Gehäuse berühren; anders kann man bei dem Lärm hier drinnen ohnehin nichts hören. Doch das bisschen, was wir mitkriegen, reicht. Wir müssen beide schlucken.

»Vier-vier-fünf-acht Komma acht Gigahertz, ist wahrscheinlich nichts«, flüstert Nick. Ein Zitat aus »Contact« - die Szene, in der Jodie Foster zum ersten Mal das Funksignal der Außerirdischen im Äther hört. Ein tiefes, bedrohliches Mahlen, als ob eine gigantische Metallfräse ganze Welten in Stücke zerreibt. Doch lrvings Tape klingt ganz anders, wie ein Bienenstock neben einer Autobahn, irgendwie verstörend. Wir werfen den Spectrum-Analyzer an. Als Erstes fällt auf, dass auf dem linken und dem rechten Kanal total unterschiedliche Signale sind - anders als bei einer normalen Stereo-Musikaufnahme, wo ja aus beiden Boxen normalerweise fast das Gleiche zu hören ist. Das Geräusch aus dem linken Lautsprecher klingt bekannt.

»Das sind Daten«, stelle ich fest. Nick rollt mit den Augen. Hey Beifahrer, gib mir nicht diesen genervten Blick! Das Offensichtliche auszusprechen ist nun mal mein Job! Das Summen erinnert an das Krrrrr, das früher aus den Boxen plärrte, wenn man eine Datenkassette vom Commodore 64 über eine normale Anlage abgespielt hat. Nur dass das Geräusch auf lrvings Tape viel, viel höher klingt, eher wie das Summen eines Bienenstocks. Die Bits hocken näher aneinander, es müssen größere Datenmengen sein. Es wird noch lustig werden, rauszufinden, welcher Rechner und welches Format sich dahinter verbergen, schließlich gab es in den Achtzigern kaum einen Heimcomputer - das Wort ist immer wieder schön -, der seine Daten nicht auf Audiokassetten rein-und rausgeschaufelt hat. Es könnte ein Programm für den Sinclair ZX-81sein, genau wie für den Schneider CPC464 oder einen meiner lieben Tandys. So weit der linke Kanal. Nick kneift die Augen zusammen und dreht das Ohr noch ein bisschen mehr Richtung Gehäuse: »Klar, aber was ist das rechts?«

Der Analyzer zeigt fast nichts oberhalb von 50 Hertz an. Ein dunkles Rauschen, wie eine weit entfernte Autobahn. Könnten runtergestimmte Geräusche sein, wie bei einer 4ser-Single, die mit 33 Umdrehungen abgespielt wird, nur viel extremer. Wenn wir die Aufnahme auf den Rechner überspielt haben, müssen wir alles erst mal mindestens 200 Prozent hoch stimmen. Mit pochenden Nerdherzen lauschen wir dem Rest der Aufnahme. Die Reise in Vaters Höhle verspricht interessant zu werden. Dass heute Vormittag nur dreißig Zentimeter Beton zwischen uns und einer malayischen Schläger-Gang lagen, ist schon dunkle Vergangenheit. Genau wie bei Irvings Tod vor ein paar Wochen legt sich die Technik mit ihren unendlichen Details wie ein Pflaster über die Seele.

Extraleben - Trilogie
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