LEVEL 29
Wenn ein einfallsloser Regisseur seinem Publikum klarmachen will, dass die folgende Handlung in Los Angeles spielt, schneidet er ein bisschen Archivmaterial vom Theme Building am Flughafen rein. In »Ein Colt für alle Fälle« zum Beispiel war das gang und gäbe. Also immer, bevor Colt Seavers nach einem Auswärtseinsatz in seinen asozialen Monstertruck steigt, flimmern ein paar Sekunden lang verkratzte Bilder von diesem UFO-Gebäude über den Schirm. In den Luftbildaufnahmen sieht es immer aus, als würde das elegante Gebäude auf seinen vier Stahlbetonbeinen schweben, aber in Wirklichkeit steht es auf einer dunkel angestrichenen Säule. Alles nur Hollywood. Gebaut wurde es in den frühen Sechzigern, als der Airport zum Jet Age Terminal aufgerüstet werden sollte, zu in Beton gegossenem Optimismus. Die Architekten planten wohl, eine Wasserstelle für das Jetset einzurichten, einen Platz, an dem Peter Sellers einen letzten Drink nimmt, bevor er mit Claudia Cardinale in die italienischen Alpen aufbricht oder so. Herausgekommen ist ein Ort, an dem man ständig das Gefühl hatte, in einer von Panton designten Vagina zu sitzen: Die Gäste versinken in Sitzecken aus blauem Leder, von oben glimmt eine blaue Deckenbeleuchtung runter, und weit und breit gibt es keine scharfe Kante zu sehen. An der Wand hinter unserem Sitzplatz prangt ein abstraktes Gemälde, das sicher von irgendetwas Astromäßigem inspiriert war; es sieht wie eines dieser Psychobilder aus, bei denen man sagen muss, was einem dazu einfällt. Anfangs pflegte der Laden sogar einen internationalen Anspruch: Das Personal trug nachgemachte Trachten verschiedener Länder und reichte globale Klassiker wie »Schweinschnitzel from Austria«.
Dass sich ein solches Relikt bis ins Netzzeitalter gehalten hatte, erschien uns jedes Jahr aufs Neue wie ein Wunder. Ende der Neunziger holte die Geschichte den Ort dann doch ein, und es passierte das Schlimmste, was passieren konnte: Der Laden wurde renoviert, und zwar von der Walt Disney Corporation. Die Inszenierungsprofis schmirgelten die verbliebene Patina der echten Jetset-Ära gründlich ab und ersetzten das alte Theme Building, jetzt seelenlos in Encounter umbenannt, durch eine erlebnisgastronomische Karikatur seiner selbst - wie sich Hänschen halt die Sixties vorstellt. Zwischen den Tischen scheinen seitdem etwas zu grelle Lava-Lampen, die Typografie auf der Menükarte ist etwas zu geschwungen und der Lounge-Soundtrack zu berechnend retro. Zu allem Überfluss wurde nach dem 11. September 2001 das großartige Aussichtsdeck geschlossen, sodass potenzielle Terroristen mit ihren russischen Raketenwerfern jetzt wieder auf das ungefähr zwei Meter entfernte Parkhausdach ausweichen müssen. Wir verleihen unser Abscheu dadurch Ausdruck, dass wir ermüdungsfrei jedes Jahr wieder hierherkommen. Stewardess in a mini-skirt Hippie in a leather shirt Starlet on her way to Naples - Rome College kids are tryin'to get back home. Selbst Disney kann nichts daran ändern, dass viele Jahre vergangen sind, seit Leanne Scott diese Zeilen über den L.A. International Airport sang. Immerhin: Eine Zeile stimmt noch, und zwar die letzte mit den Studenten, denn das Encounter ist die meiste Zeit von dem bevölkert, was Amis abschätzig Eurotrash nennen: Zwanzigjährige aus der Alten Welt, die jenseits des Atlantik ihre erste Kreditkarte Probe fahren wollen, jeden halbwegs modernen Club bevölkern, alle Frauen mit Wangenkuss begrüßen und unangenehm durch gute Kleidung auffallen. Damen und Herren von Welt dagegen kehren im Encounter schon lange nicht mehr ein - falls es die überhaupt noch gibt. Vor ein paar Jahren haben wir hier oben mal lange darüber diskutiert, wer heutzutage noch als Mann von Welt durchgeht. Nick schlug George Clooney vor. Von der reinen Faktenlage spricht in der Tat einiges für ihn: Trägt oft Smoking, hat eine Villa am Corner See, fällt nicht durch unangenehm zur Schau gestellte Gefühle auf. Aber irgendwas stimmt noch nicht. Nach einigem Überlegen sind wir - als echter Eurotrash - zu dem Schluss gekommen, dass Amerikaner per se keine Weltmänner sein können.
»Die bleiben irgendwie immer der Quarterback in ihrer Highschool-Footballmannschaft«, meinte Nick zu Recht. Meine Theorie: Der Weltmann der Sechzigerjahre wurde durch den Global Player ersetzt, eine durch und durch nutzenorientierte, spaßfreie Version des weit gereisten Lebemannes. Der lernt nicht mehr malaiisch, um im Raffles-Hotel in Singapur einen Mint Julep bestellen zu können, sondern um das nächste Management-Audit zu überstehen. Von so einer unbeschwerten Verbitterung sind wir heute Abend weit entfernt. Jeder für sich stiert den startenden Jumbojets hinterher, deren Triebwerke in der Nacht glimmen wie eine Kippe, die der Vordermann auf dem Highway aus dem Fenster geschnippt hat. Unsere Blicke folgen ihnen, wie sie grollend im schwarzen Nichts verschwinden, auf ihrem Weg nach ...Wohin eigentlich? Heißt die Maschine Chemnitz und durchstößt in elf Stunden den grauen deutschen Hochnebel, oder steuert der Clipper den Flughafen von Ulan-Bator an, in dessen Halle - so hört man - noch acht analoge Uhren mit verschiedenen Zeitzonen nebeneinanderhängen? Wo liegt da noch der Unterschied? Alles scheint egal zu sein. Wir sprechen lange Zeit nichts, viel länger als jemals auf der Straße. Ich fühle mich so angespannt wie auf dem Zahnarztstuhl in den letzten Sekunden, bevor die Tür aufgeht und der weiße Kittel reinweht. Schließlich schaue ich doch zu Nick rüber. Er tut so, als habe er es nicht gemerkt, dreht sich nicht einmal um. In den Winkeln seiner Augen spiegeln sich Flutlichter des Vorfeldes. Je länger ich ihn fixiere, desto mehr scheinen sie zu tanzen. Ich drehe mich ihm zuliebe schnell wieder um; solche Situationen sind einfach nicht meine Stärke, die widersprechen zu sehr der Keine-Extreme-Regel. Ich muss an den Tag denken, als Nicks Großvater starb. Irgendwann Mitte der Neunziger war das. Wir hatten gerade eine Woche in der Bretagne verbracht, an der Steilküste gesessen, Kronenbourg aus Viertelliter-Fläschchen getrunken und wahrscheinlich einhundertmal »Dub be good tome« von Beats International gehört, das Ding mit der Mundharmonika aus »Spiel mir das Lied vom Tod«, Auf der Rückfahrt verreckte Nicks Opel Kadett im bretonischen Nirgendwo. Wir mussten auf einem Supermarktparkplatz in Rennes übernachten und den nächsten Vormittag in einer französischen Autowerkstätte verbringen, wo ich alle Mechaniker mit dem aus dem Langenscheidt zusammengestückelten Satz »Nous sommes terriblement pressés« zu Tode nervte. Schließlich haben sie das Radlager, oder was auch immer kaputt war, doch hingekriegt, und wir sind noch die tausend Kilometer bis nach Hause gefahren. Als wir schließlich vor Nicks Bude standen, war es zwei Uhr nachts. Mit halb geschlossenen Augenlidern schleppten wir unsere Seesäcke und zwei 48er-Packs Kronenbourg die Treppe hoch. Ich war schon wieder auf dem Sprung, da drückte Nick im Vorbeigehen auf seinen Anrufbeantworter. Es war nur eine Nachricht drauf, von seiner Mutter: »Du, der Gerd ist tot«, krächzte ihre belegte Stimme aus dem Kasten. Ich sehe Nick noch heute vor mir, wie er da in seinem schimmeligen Flur stand, unter der blanken 60-Watt-Birne, völlig erstarrt und mit knallroten Augen. In diesem Moment hätte ich gerne irgendwas Passendes gesagt, aber wie üblich fiel mir nichts ein. Alles, was ich hinbekommen habe, war, ihm kurz den Arm um die Schulter zu legen und auf den Rücken zu klopfen. So eine typische Männerumarmung halt, mechanisch, knapp, den Kopf streng zur Seite gewandt.
»Penn dich erstmal aus, Alter«, habe ich noch gestammelt, bevor ich raus in den Flur bin. Ich denke, das war auch in seinem Sinn, um das Gesicht zu wahren. So, wie es aussieht, haben wir mal wieder so einen Punkt erreicht. Wir sind am Ende der Straße angekommen, an diesem Schild, hinter dem jeder Highway unweigerlich stirbt. Am Rand des Asphalts stehen dann diese breiten weiß-rot gestreiften Balken und daneben ein Schild, das anzeigt, zu welchen Orten es links und rechts geht, falls es eine T-Kreuzung ist. Oft haben wir in all den Jahren erlebt, wie dieses Schild mitten in der Nacht im Licht unserer Scheinwerfer auftauchte. Und meist haben wir gelacht, da weder der Name des Kaffs rechts noch der des linken Örtchens auf unserer Karte stand. Irgendwie sind wir trotzdem weitergefahren. Heute Abend muss einer an der Kreuzung aussteigen, und das wird Nick sein. Er hat für sich schon vor langer Zeit entschieden, dass dies unser letzter gemeinsamer Trip sein würde, und insgeheim habe ich das längst gewusst. Aber es war halt noch ein Leben übrig, eine Mark, und bevor die nicht vergeigt ist, schmeißt man keine nach oder fährt vom Hit-Markt nach Hause. Ungerührt kauert mein Begleiter in seiner blauen Ledergalaxie. Als er sich schließlich zu mir umdreht, steht alles in seinen Augen. Weitere Fragen sind eigentlich überflüssig; trotzdem muss ich mich vergewissern.
»Um halb elf geht der Flug nach Kopenhagen und von da weiter nach Grönland. Du kommst nicht mit, oder?«
Nick zieht die Unterlippe leicht nach innen, auf diese »Tja«- Art und schüttelt leicht den Kopf. Dann faltet er die Hände und legt sie auf den Tisch vor mir, als wenn er im Beichtstuhl sitzt. Bevor er zu seiner Antwort ansetzt, atmet er noch einmal schwer durch und bläst die Luft zwischen den Zähnen durch.
»Weißt du, ich habe die Tage noch mal mit Sabina telefoniert, und wir haben uns überlegt, dass ...«
Wie ein Song, den der Radio-DJ vor der Werbung ausblendet, verschwindet der Rest seines Satzes in der Ferne. Ich bin nicht einmal überrascht, auch nicht eifersüchtig oder so, weil ich weiß, dass das nicht das Geringste mit uns zu tun hat. Nick hat sich ganz einfach entschlossen, nicht mehr Beifahrer sein zu wollen. Die letzten Jahre habe ich mich oft gefragt, warum er diesen Punkt nicht schon viel früher erreicht hat. Ich bin irgendwie stolz auf ihn. Für ihn heißt es Game Over, er schafft den Absprung noch, ist rechtzeitig zu Mutters Mittagessen zuhause. Aber für mich ist es zu spät. Unweigerlich muss ich lächeln. Nick merkt es und bricht etwas verstört seine Entschuldung ab: »Was?«, sagt er und wirft die Stirn wieder auf diese Jungsart in Falten.
»Nichts«, sage ich, »macht mal. Meinen Segen habt ihr.«
Nick grinst, als ob er den Endgegner geschafft hat, und kriegt sogar ein wenig rote Wangen. Doch der Gefühlsausbruch dauert nur wenige Augenblicke, dann schaut er auch schon wieder verlegen auf seine Uhr.
»Hör mal, die Maschine nach Frankfurt geht ...«
Ich bin fest entschlossen, es ihm einfach zu machen: »Jap, ich weiß. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Hau ab, ich mach das hier.«
Wir stehen gleichzeitig auf. In Zeitlupe schieben wir unsere Stühle nach hinten, während aus den Boxen »Moon River« zirpt. Wenn schon Mancini, warum nicht jetzt »Two for the Road«? Ich fühle mich wie an dem Tag, an dem der Herbst immer anfängt. Ab jetzt geht der Abschied ganz schnell. Nick haut mir mit der Faust auf den Rücken: »Hol den Highscore für uns, okay?«
»Werde ich machen.«
Da ich merke, wie meine Stimme bricht, lasse ich das obligatorische »Alter« weg. Bevor die Kontrolle zurückkommt, hat Nick schon seine Rechnertasche geschnappt. Das Letzte, was ich von ihm sehe, ist der Rücken seiner Jeansjacke. wie er Richtung Fahrstuhl verschwindet.