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Nie wieder Vorstadt. Über keine Sache waren wir uns als Teenies in unserer Trabantenhölle so einig. Nie wieder kleine Reihenhäuser mit Flachdächern und Hausnummern, die in total lustigen Farben angemalt sind. Nie wieder verkehrsberuhigte Spielstraßen, Tempo-go-Bodenschwellen, Wohnwege mit abgezirkelten Beeten. Nie wieder Carports mit diesen Beton-Sechsecken auf dem Boden, zwischen denen das Gras wohl kontrolliert durchwachsen kann. Nie wieder Samstagabende, an denen es nichts zu tun gibt, als anderen Gelangweilten dabei zuzusehen, wie sie Wohnweglaternen austreten. Wenn wir groß sind, leben wir in der Stadt, das war völlig klar, und zwar in einer verdammt großen Stadt, in einem Moloch. Wo täglich Hunderte von Morden passieren, der Verkehr alles andere als beruhigt ist, und Straßengangs vor deiner Haustür mit 100 Sachen langbrettern, während sie mit ihren Uzis den Bürgersteig bestreichen. Und selbstverständlich würden wir nicht im Reihenhaus leben, sondern in einem abgefuckten Loft, zu dem ein abgefuckter Industrieaufzug hochfährt. Und auf dem Weg nach oben würde man ein Fotomodell, nun ja, man würde es mit ihr treiben, genau - treiben. Es war damals wie mit den Eskimos und Schnee, nur umgekehrt: Womit man nichts zu tun hatte, dafür kannte man auch keine Worte. Schließlich hatten wir damals nur eine einzige Frau regelmäßig nackt gesehen - und zwar die in der Fernsehreklame für Fa-Duschgel. Wie dem auch sei, die Kleine müsste jedenfalls aussehen wie die Models aus dem Video zu »Addicted to Love« von Robert Palmer, Gott hab ihn selig. Nicht irgendein Mädchen aus der Vorstadt mit Nasenring aus Phosphor. Aber zurück zum Loft. Viele Sachen gäb's da oben nicht, nur einen Hamilton Beach Mixer für die Cocktails und so ein Gestell an der Decke, wo man sich mit den Füßen reinhängen und Bauchübungen machen kann - wie Richard Gere in »American Gigolo«, Möbel und Lampen hätten wir keine, und wenn, dann wären sie noch vom Vormieter übrig und mit Laken abgedeckt, genau wie seine sterblichen Überreste vor der Tür, nachdem ihn eine Gang vor der Tür niedergemäht hat. Die einzige Lichtquelle in unserem Loft wäre ein riesiger Ventilator, durch den von hinten fahles Licht scheint und der quälend langsam die schwüle Luft durchquirlt. Yeah, unser Leben wäre von Ridley Scott inszeniert. Hauptsache, nie wieder Vorstadt. Ich parke mein Auto direkt vor Nicks Haus. Es war gar nicht leicht zu finden, hier draußen, zwanzig Lichtjahre vom nächsten Milchkaffee zum Mitnehmen entfernt. Der Bungalow liegt am Ende einer verkehrsberuhigten Spielstraße, eine knallrote »6« aus Plastik hängt neben der Tür, und der Carport ist nur wenige Schritte entfernt. Gottseidank ist von hier aus der Boden nicht zu erkennen. Wie heißt das nochmal, wenn die Geiseln sich mit den Entführern zusammenrotten? Stockholm-Syndrom? Oder war es Helsinki?

»Hi«, trällert Sabina, als sie mir die Tür öffnet. Sollte die nicht weg sein?

»Ich bin auch gleich weg«, sagt sie. Bitch, kannst wohl Gedanken lesen? Auch erfreut, dich zu sehen.

»Hi«, sage ich und trete mir die Füße an der Matte ab.

»Bed & Breakfast« steht drauf, immerhin - ein Relikt durfte Nick aus seinem altem Medienbunker mitnehmen. Warum konnte ich Sabina nochmal nicht leiden? Achja, genau, seit sie am Start ist, steht Nick unter ihrer Befehlsgewalt - und nicht mehr unter meiner, so war das. Ist natürlich albern, weil ich reichlich Zeit gehabt habe, mich daran zu gewöhnen. Die zwei hocken schließlich schon seit der Mittelstufe aufeinander - bis auf das halbe Jahr, in dem sie laut Nick »eine Pause« gemacht haben. Aber seit Nickybaby einen gut bezahlten Job hat, fährt die kleine Goldgräberin wieder voll auf ihn ab. Alles heile Welt jetzt, Heirat nicht ausgeschlossen. Lustig, dabei wären Sabina und ich fast mal zusammen gewesen, damals in der Mittelstufe. Auf irgendeiner Kirmes wurde hinter der Frittenbude sogar geknutscht, soweit ich weiß. Sie hat das natürlich immer bestritten und sich quasi zum Beweis kurz darauf an Nick rangehängt. Seitdem pflegen wir eine leichte Abneigung, für die wir - das muss man sagen -langsam etwas zu alt werden. Ich schaue ihr nach, wie sie vor mir den Flur entlangläuft. Sabina ist nicht die Größte, vielleicht 1,65,und wie viele Mädels von dem Format hat sie jahrelang gegen Pummeligkeit gekämpft. Seit Kurzem scheint sie das Problem im Griff zu haben und kriegt langsam - auch dass muss man zugeben - eine richtig gute Figur: schlank und trotzdem wie eine echte Frau. Der schwarze Rocksaum rutscht bei jedem Schritt von der rechten zur linken Kniekehle, dazu platschen ihre kleine nackten Füße leise auf den Laminatboden. Ihre Fußnägel glänzen dunkelrot, sie muss sie gerade lackiert haben. Im Flur steht noch der Geruch der Entfernerpads. Sabina dreht sich halb um und pustet eine blonde Haarsträhne aus der Stirn .

»Und, alles klar?«

Wow, ihr schwarzes Top spannt ja ziemlich, so von der Seite gesehen. War das schon immer so?

»Jau, alles klar«, antworte ich brav. Die Einrichtung zieht vorbei. Vom Studentenstil früherer Tage ist nicht mehr viel übrig. Da musste sich der gute Nick aber von vielen seiner Lieblingsteile verabschieden. Mitten im Wohnzimmer steht ein Esstisch mit weißen Plastikstühlen drum herum, die aussehen, als hätte man sie auf der »Mondbasis Alpha Eins« mitgehen lassen. Daneben Bücherregale mit quadratischen Fächern, in denen ordentlich arrangiert einige Kunstbücher lehnen. Die können unmöglich von Nick sein, der liest - wenn überhaupt - nur Handbücher. Sabina dreht sich nochmal um. Nochmal wow. Dann bemerkt sie Johns Laptop unter meinem Arm.

»Soll ich dir das abnehmen?«

Was ist, wenn sie ihn fallen lässt? Das Teil ist schließlich superschwer. Unsinn. Vielleicht ist es langsam echt Zeit, mit dem Teeniescheiß aufzuhören.

»Ja, danke.«

Ich reiche ihr zügig den Rechner rüber. Sie lächelt und legt ihn extra vorsichtig in eines der Regale. Ihre Fingernägel hat sie auch lackiert, dunkelrot.

»Nick ist unten im Garten«, sagt sie und fängt richtig an zu strahlen, viel netter, als es ihr peinlicher Gast verdient hätte. Dann streckt sie die Hand rüber.

»Ich sage schon mal tschüss, dann muss ich euch gleich nicht nochmal stören.«

Ich gebe ihr die Hand und versuche, sie nicht allzu lange zu schütteln.

»Ja, tschüss dann.«

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Durch die halb offene Terrassentür zieht es kühl rein. Die Luft riecht, wie sie am Ende eines langen Frühsommertages in der Vorstadt riecht: nach Geranien, Grillanzünder und frisch gesprengtem Rasen. Noch ein Blick zurück, nochmal Sabina anschauen; doch sie ist schon wieder weg. In einem Zimmer klirren Gläser oder Parfümfläschchen. Ich gehe hinaus auf die Terrasse. Der Himmel ist dunkelblau, nur hinter dem Hausdach glüht er noch orange nach. Ein Schwarm Mücken spielt in den letzten Sonnenstrahlen, irgendwo lachen Kinder. Von Nick ist nichts zu sehen.

»Alter?«

»Bin hier drüben!«, kommt es dumpf aus dem Garten. Ich laufe über die hellbraun geflieste Terrasse und steige drei Stufen zur Rasenfläche runter. Der Garten ist überraschend groß und zieht sich hinten um das ganze Haus herum. Da, wo das Gras aufhört, markieren hohe Tannen die Grenze zum nächsten Grundstück, sodass man das Gefühl hat, auf einer Waldlichtung zu stehen. Um die Ecke erwartet mich Nick mit einer schönen Überraschung. Er hat Gemütlichkeit installiert! Am Rand des Rasens, eingeschlossen zwischen großen Büschen, hat er nebeneinander zwei Holzliegestühle Marke Traumschiff aufgeklappt, dazwischen stehen Bierflaschen und - oh Mann - ein Teelicht. Das dürfte wohl Sabinas Beitrag sein; ich kann ihr Gemecker fast hören: »Ihr könnt doch nicht so im Dunkeln sitzen.«

Nick steht zur Begrüßung auf.

»Cool, dass de gekommen bist.«

Ich schlage zum Bikergruß ein.

»Kein Therna.«

Er lächelt breit - und noch breiter, als ich eine Packung Quaxi Fröschli aus meiner Jackentasche fische.

»Sehr schön«, lobt er. Wie in der guten alten Zeit. Wir lassen uns in die Stühle fallen und prosten uns mit zwei Coronas zu, die fertig geöffnet im taunassen Gras auf uns gewartet haben. Dann ist Nick am Retrozug. Er greift unter seinen Lehnstuhl und zieht einen kleinen Radiorekorder hervor. Aber nicht irgendeinen Radiorekorder, sondern den Radiorekorder: einen Fisher PH855L in Metallic-Rot. Den Ghettoblaster, der gut und gerne fünfzehn Jahre lang den Soundtrack zu unserem Leben geliefert hat. Mit hochgezogener Spock-Augenbraue betätigt er die verchromte Play-Taste.

»Bereit, den Flux-Kompensator zu starten?«

»Auf jeden Palll«

Drums please. Wir müssen beide fett grinsen. Ohne auf die Kassette zu gucken, ist klar, was mit schwarzem Edding draufgekritzelt ist: Chillout '94· Und schon zischt die Zeitmaschine ab. Wir sitzen nicht mehr vor einem Bungalow in der Vorstadt, sondern auf der Wiese vor der Uni, mit genau diesem Ghettoblaster. Und aus seinen schäbigen Boxen klirrt der einzige und ewige und ultimative Sommerhit: »Summertime« von DJ Jazzy Jeff and the Fresh Prince. Here it is the groove slightly transformed just a bit of a break from the norm Okay, an sich undenkbar, einem Saubermann wie Will Smith eine Chance zu geben, zumal, wenn man so hart drauf ist wie wir damals. Verdammt hart also. Außer NWA und 2Pac kam uns nichts in den Ghettoblaster, und 2Pac auch nur, bis er »Dear Mama« rausbrachte und damit zu einer Art Ghetto-Heintje verkam. Solche Gefühlsduseleien passten nicht in unser Leben, das sich - zumindest in unseren Gedanken - eher in South Central als im Süden einer kleinen Stadt in Deutschland abspielte. Think of the summers of the past adjust the bass and let the alpine blast Doch, doch, wir waren zumindest verbal richtig heftig drauf, kannten die Texte von den ganzen bösen Jungs auswendig. Und was könnte schon härter sein, als Reime vom »AK-47«, dem »Drive-By« oder »187«- dem Polizeicode für Mord - aus dem offenen Autofenster plärren zu lassen, während man über die Autobahn gondelt, um bei Muttern in der Vorstadt die Wäsche abzuliefern? Leanin'Lo the side but you can't speed through two miles an hour so everybody sees you Ha, viel schneller fuhr Nicks alter Opel Kadett ohnehin nicht. Wenn wir nicht gerade cruisten, hingen wir jedenfalls in diesem Park ab, egal, ob Semesterferien waren oder nicht. Die Nachmittage waren lang, Nicks Sonnenbrände schlimm und Frauen weit entfernt. Jeder dieser wunderbaren Tage endete mit dem gleichen Ritual: Wir tranken ein Gatorade, warfen »Summertime« rein und pfiffen auf unsere Street Credibility, weil ohnehin niemand in der Nähe war, der sie hätte würdigen könnte. Währenddessen gingen hinter dem archäologischen Institut die Sonne und unsere Jobchancen unter . ...and this is the Fresh Prince's new definition of Summer Madness. Viel zu schnell ist der erste Song vorbei und das erste Corona fast leer. Ich stelle die Flasche im Gras ab.

»Ahh!«

»Ah«, echot Nick. Nach einer kurzen Denkpause dreht er sich um.

»Sag mal. warum haben wir damals eigentlich immer Frisbee gespielt?«

Gute Frage.

»Weiß nicht. Vielleicht weil das bei den Jungs in den Musikvideos immer so unbeschwert aussah.«

Für Nicks Geschmack eine deutlich zu poetische Erklärung.

»... oder weil es vielleicht einfach Spaß machte«, knurrt er. Doch keiner von uns hat noch genug Energie für weitere Diskussionen, und so greifen wir synchron zu unseren Coronas und genießen den Abend. Als nächster Song kommt »LetMe Ride« von Dr. Dre, dann »On a Sunday Afternoon« von LSOB und zum Schluss, quasi für die Old School, »High Rollers« von Ice-T. Während wir darüber nachdenken, was aus dem Mädel auf dem Plattencover von Ice-T geworden ist, verblasst auch noch das letzte Orange am Himmel. Im Busch neben uns fängt eine Grille zu zirpen an - ziemlich schwächlich und mit vielen Pausen, aber der Sommer hat ja gerade erst angefangen. Und über allem liegt das friedliche Rauschen der nahen Autobahn. Da sitzen wir also in unseren Lehnstühlen, die letzte Mannschaft, auf dem letzten Außenposten. Gleich hinter dem Gartenzaun lauert die Zukunft. Wenn wir viel Glück haben, können wir sie noch für die Länge eines Songs aufhalten, bevor sie uns mit Petabyte-Rechnern, Chinesen und dem ersten Pflegefall in der Familie überrollt. Wir treiben in einer Nussschale durch die Dunkelheit zwei verdammt müde Wohlstands-Homies.

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»Ist dein Handy an?«

Nicks Stimme reißt mich hoch. Bin ich echt eingeschlafen?

»Nein, wieso? Das liegt noch im Auto.«

Nick hält mir den Rekorder direkt vors Gesicht.

»Meins auch nicht. Und jetzt hör mal!«, befiehlt er. Die Boxen schweigen.

»Was?«

»Jetzt wart doch mal! «

Tiefe Falten graben sich zwischen seine Augenbrauen. Da! Stimmt, da ist was im Lautsprecher. Das typische Signal eines Handys, das sich gerade bei einem nahen Funkmast meldet; der Verstärker des Ghettoblasters muss es aufgeschnappt haben. Krrrrrr, tick-t-tick, tick-t-tick, tick-t-tick. Sicherheitshalber taste ich die Taschen meiner Jeansjacke ab. Definitiv, das Handy liegt im Auto.

»Woher kommt das, wenn unsere Handys aus sind?«

»Das frage ich dich! «

Nick klingt jetzt richtig wütend. Ohne Vorwarnung fällt er auf die Knie und fängt an, mit dem Teelicht in der Hand den Boden abzuleuchten. Was brennt zuerst an - sein Zeigefinger oder der Busch, unter dem er herkriecht? Dazu murmelt er ständig »Wo ist es?«

Wirkt fast ein bisschen irre, der Gute. Vielleicht stresst ihn das ganze Erwachsenenspielen doch mehr, als er sich anmerken lässt. Ein Witzchen wird ihn entspannen.

»Wer weiß es? Die Klasse? Bueller? Bueller? Bueller? «

Nick reagiert nicht. Er ist mit seinem Teelicht unter einem Busch mit diesen dicken, wachsigen Blättern angekommen. Normalerweise würde er mich wenigstens irgendwie anpflaumen. Aber dieses eisige Schweigen ... Vielleicht ist es doch was Wichtiges? Ich beschließe, ihn ernst zu nehmen.

»Was suchst du denn?«

»Eine GPS-Wanze.«

Er steht kurz auf, um den Rücken durchzudrücken, dann taucht er wieder ab.

»Was?«,frage ich seine Klempnerspalte. Ohne sich umzudrehen doziert Nick ins Unterholz hinein: »So eine Art Handy mit besonders empfindlichem Mikrofon; hat eine eigene Telefonnummer und so. Wird einfach am Zielort deponiert. Und wenn sie wissen wollen, was an dieser Stelle gesprochen wird, rufen sie einfach die Wanze an und hören schön mit. Sendet auf 800, 900 und 1 800 Megahertz, kriegst du in Hongkong für ein paar Dollar an jeder Ecke.«

Woher er die Zeit nimmt, bei dem ganzen Geheimkram immer auf dem neuesten Stand zu bleiben? Wenn es um seinen Spionage-Militär-Verschwörungs-Kram geht, ist ihm kein Abo zu teuer, das war schon zu Schulzeiten so. Statt der Bravo lagen in seinem Jugendzimmer immer Zeitschriften wie Jane's Defence Weekly und natürlich auch M.P. rum, Meister Plattmachers rasantes Magazin. Im Studium wuchs sich das zu richtigen Wahnvorstellungen aus, vor allem, weil es dann das Netz gab und er sich mit anderen, noch viel durchgeknallteren Spinnern in den USA austauschen konnte. Damals war er eine Zeit lang sogar felsenfest davon überzeugt, dass ihn die National Security Agency auf dem Kieker hätte. Ich dachte, die NSA-Paranoia hätte sich gegeben, seit er einen richtigen Arbeitsplatz, Lebensmittelpunkt und -partner hat. Aber dieses »sie« klingt ziemlich nach dem alten Geheim-Nick. Na gut, damit »sie« uns nicht kriegen, werde ich ihm mal helfen. Immer noch etwas schlaftrunken knie ich mich neben ihn ins Gras und fange - eher pro forma - an zu suchen.

»Wie sieht das Teil denn aus?«

Nick macht mit Daumen und Zeigefinger ein »O«, in das ein Kronkorken passen könnte.

»So groß ungefähr, aus Plastik.«

Da er das Teelicht hat, bleibt mir nur das Tasten. Widerlich, dieses Naturding, zwischen den feuchten Blättern stecken mit Sicherheit Dutzende von Tausendfüßlern, Nacktschnecken oder sonst was. Dr. Jones, das ist kein Popcorn unter unseren Füßen! Manchmal kann diese Freunde-in-der-Not-Sache echt lästig werden. Zum Glück muss ich nicht lange Mithilfe vortäuschen. Mit einem triumphierenden »Ha« zieht Nick etwas aus dem Gebüsch. Sollte das echt eine Wanze sein? Hektisch friemelt Mr. Supergeheim einen Rosenast ab, der sich in seinem Pullover verfangen hat und ihn daran hindert, aufzustehen. Schließlich präsentiert er stolz seinen Fund: ein Teil, das von jedem x-beliebigen Rasenmäher abgefallen sein könnte. Nick hat echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich beuge mich ein bisschen vor und schaue zu, wie er das schwarze Plastikklötzchen vor dem Teelicht hin-und herdreht. Okay, an einem Gartengerät würde vielleicht mehr Dreck hängen, doch davon abgesehen ist es - ein Plastikklötzchen eben. Auf einmal tickt Nick völlig aus. Ohne Vorwarnung schmeißt er das Teil ins Gras und tritt mit voller Kraft drauf, als ob er es töten will. Sein Fuß donnert ein paar Mal auf den Boden, dann kracht Plastik und das Teelicht geht aus. Ist das noch Nick? Ich habe noch nie gesehen, dass er derart rohe Gewalt angewendet hat. Eigentlich habe ich noch nie gesehen, dass er überhaupt mal Gewalt angewendet hat, außer gegen den Joystick bei Decathlon. Gegen Nick ist der Dalai Lama ein Hooligan. Dann drückt er auf die Beleuchtung seiner Digitaluhr und sagt laut und mechanisch die Zeit an.

»Null Uhr zwei und fünfundfünfzig Sekunden.«

Die Show ist vorbei. Er dreht er sich um, und das Rascheln seiner Füße im Gras verschwindet Richtung Haus. Erst jetzt bin ich richtig wach. Und zum ersten Mal, seit ich denken kann, habe ich vor Nick Angst. Ohne hinzusehen raffe ich vom Boden alles zusammen, was von dem Kästchen übrig geblieben ist.

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Klar, hat er ab und zu seine Wutausbrüche. Den letzten zum Beispiel kurz vor Weihnachten. Das war wirklich eine idiotische Geschichte, von der ich nie und nimmer gedacht hätte, dass sie irgendjemanden aufregen könnte. Die Sache lief so ab: Andie hatte mal wieder angerufen, um sich die Langeweile in ihrer Bürozelle zu vertreiben. Wir sprachen so über dies und das und landeten schließlich bei unserer Studienzeit. Ihre Geschichten drehten sich um Kappa-Delta-Alpha-Studi-Verbindungspartys, die allesamt so was von »awesome« waren. Langeweile in einer nie da gewesenen Dimension. Ich hab dann auch ein paar Episoden raus gekramt, zum Beispiel, dass Nick sich jahrelang seinen Frühstückstoast auf einem Bügeleisen gemacht hat. Eine völlig harmlose Geschichte also. Andie hat sich total weggeschmissen vor Lachen. Am nächsten Tag jedenfalls ruft Nick an und schreit mich ohne Vorwarnung zusammen. Wie ich so was rumerzählen könne, das gehe in der Firma niemanden was an, und überhaupt sei das total »unprofessionell« von mir. Noch bevor ich irgendwas sagen konnte, hatte er auch schon wieder aufgelegt. Eine ganz seltsame Sache. Bis heute verstehe ich nicht, was er wollte. Dürfen die nicht wissen, dass er ein Mensch ist? Doch heute ist er nicht wütend, eher verwirrt. Wie ein Irrer stolpert Nick durch die Dunkelheit, ich immer hinter ihm her, mit den Splittern des Kästchens in der Hand. In schweren Zügen saugt er die Nachtluft ein. Kein Wort, keine Reaktion. Er steckt wieder mal im Zombie-Modus fest. Wenn man ihn da nicht rausholt, macht er noch irgendeinen Quatsch.

»Hey, wart mal!«

Keine Antwort.

»Hallo? Erde an Niklas. «

Das saß. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Immerhin, sein von ihm so gehasster richtiger Vorname kann ihn noch stoppen. Es gibt also Hoffnung, dass er nicht völlig durchgedreht ist.

»Was?«, pflaumt er rüber.

»Was war das denn eben bitte?«

Wir sind mittlerweile auf der Terrasse angekommen. Die Halogen-Flut aus dem Wohnzimmer schwappt bis hierher und strahlt uns wie auf dem Fußballplatz von hinten an. Nick reibt sich die Augen.

»Ach, weißt du ...«

Krach! Im Haus fliegt eine Tür zu. Wir drehen uns gleichzeitig um. Vor dem Haus heult ein Motor auf.

»Sabina?«, frage ich. Nick guckt auf die Uhr.

»Ist schon seit Ewigkeiten weg.«

Shit. Einbrecher. Also weg, aber wohin? Am besten in den Garten, genau, zu den Tannen, dann über den Zaun zu den Nachbarn und die Bullen rufen. Ausgerechnet heute liegt das Handy im Auto! Ich renne los. Wird so ein Freak aus dem Merkur-Sektor sein, mit schwarzer Wollmütze über dem Gesicht, der alles tut für einen Schnaps. So ein »Täter« eben, wie sie Ede Zimmermann früher immer präsentierte. Vielleicht auch pervers. Dann müssen wir für den die Seife aufheben, während er die ganze Zeit auf Bayerisch vor sich hinröchelt: »Ih will nur main Sposs, ih will nur main Sposs.«

Gott, waren die Schauspieler bei »Aktenzeichen XY...ungelöst« schlecht. Vielleicht hat er auch eine Waffe. Nein, niemand hat in Deutschland eine Waffe, das ist ja das einzig Gute hier, außer diesen Schützenfreaks. Das Motorengeräusch vor der Tür ist in der Ferne verschwunden. Scheiß-Ast, Scheiß-Natur! Die Tannennadeln knirschen zwischen den Zähnen, aber ausspucken geht jetzt nicht, zu laut. Wo bleibt Nick bloß? Mann, wegen ihm kriegen die uns noch. Am besten runter auf den Boden und dann hinter den Baumstamm. Über die Spitzen der Grashalme hinweg kann ich Nick erkennen. Er steht immer noch bewegungslos auf der Terrasse, wie auf Droge. Ja - was jetzt? Vielleicht muss er nur irgendwie aufgeweckt werden.

»Ssst.«

Wie arm muss das aussehen: Ein Typ, Mitte Dreißig, liegt in einem Beet und zischt vor sich hin. Wie damals beim Luke-Skywalker- gegen-die-Sandleute-Spielen in der Kiesgrube. Es hilft nichts. Ich muss zurück und ihn holen.

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Völlig idiotisch, es so drauf ankommen zu lassen. Das passt gar nicht zu ihm - und erst recht nicht zu uns. Wir sind Angsthasen, das war schon immer so. Der Gefahr ins Auge sehen, das überließen wir den Jungs, die regelmäßig zum Direx rein mussten. Wir pflegen das Leben mit gesundem Sicherheitsabstand. Wozu dieses unnötige Heldenposing? Es hilft nicht, also wieder den ganzen Weg zurückkriechen. Den Rasen, die vier Stufen, die Terrasse. Als genug Licht vom Wohnzimmer rüberleuchtet, schaue ich kurz in meine Hand. Wirklich grüne Platinensplitter. Sie haben sich in die Haut gegraben und mit ihren Kanten dunkelrote Punkte hinterlassen. Ich packe Nick an seinem Pullover und reiße ihn zurück ins Dunkel.

»Mann, lass uns abhauen!«

Er schiebt meine Hand wie eine lästige Fliege weg und redet in voller Lautstärke weiter, als ob nichts wäre.

»Hattest du irgendwas dabei - außer den Quaxis?«

»Komm schon, das sind garantiert Einbrecher und die ...«

»Hattest du was dabei?«

Seine Stimme klingt auf einmal so fremd und kalt, als ob sich jemand seine Haut übergezogen hätte und ihn nur als Tarnung benutzt. Und dieser jemand erwartet jetzt eine Antwort.

»Okay, ja, einen Rechner. John hat ihn mir vorgestern ...«

»Wo ist er jetzt?«, fährt Nick dazwischen. Ich zeige auf das hell erleuchtete Wohnzimmer.

»Sabina hat ihn drinnen ins weiße Regal da gelegt.«

Wortlos marschiert Nick los. Ich versuche nochmal, ihn am Kragen zu packen, doch er reißt sich wieder los und geht rein - einfach so, als ob er sich nur ein neues Corona aus dem Kühlschrank holen wollte. Bitteschön. Ich lasse ihn ziehen und bleibe vor der Fensterfront stehen. Er macht einen großen Schritt über die Schwelle der Terrassentür und steht im Wohnzimmer. Mit einem Ruck zieht er den Rechner aus dem Regal. Wie ein Fachmann, der er ja wirklich ist, dreht er das Teil hin und her. Vorderseite, Rückseite, dann fährt er mit dem Finger über die Anschlüsse hinten. Langsam fängt die Dunkelheit im Rücken an, unangenehm zu werden, so als ob einen lange, schwarze Finger ganz sachte am Nacken streicheln. Was soll's, Also auch rein. Als es schon zu spät ist, merke ich, dass meine Lehmfüße fette braune Ränder auf dem hellgrauen Teppichboden hinterlassen. Das wird die Versöhnung mit Sabina noch weiter rauszögern. Nick hat seine Diagnose abgeschlossen. Und was er gesehen hat, gefällt ihm überhaupt nicht.

»Warum schleppst du hier 'nen NSA-Rechner an?«

»NSA?«

»National Security Agency, die ganz bösen Jungs, geheimer als die CIA. Du wissen«, er klingt echt genervt.

»Ich weiß, wer die ...«

»Wir müssen hier weg«, stellt er kalt fest und klemmt sich den Rechner unter dem Arm.

»Warum?«

»Weil sie nochmal herkommen werden, um das Teil zu holen.«

Da war es wieder, das paranoide »sie« aller Tinfoil-Hats dieser Welt. Alle Leute, die denken, dass 1949 in Roswell wirklich die Aliens gelandet sind, dass der Untersberg in Bayern in Wirklichkeit ein verstecktes Zeitportal ist, und dass die Mondlandung in der Wüste von Nevada gefaked wurde. Halt! Nein, das stimmt so nicht mehr. Denn laut Nick gilt in der Szene derzeit die Dark-Mission-Theorie, nach der amerikanische Astronauten auf dem Mond eine Basis von Außerirdischen entdeckt haben. Und das wurde dann vertuscht. Demnach müssen sie ja zumindest oben gewesen sein. Oder haben sie die Basis bei den geheimen Dreharbeiten in Nevada entdeckt? Egal, jedenfalls wurde heftig vertuscht. Zum Beweis musste ich mir sehr lange ein paar Bilder angucken, die wie fünfzehn Mal gefaxt aussahen und auf denen man ganz deutlich einen schwarzen Fleck neben einem weißen Fleck erkennen konnte. Früher habe ich dieses Geheimgewäsch von Nick immer als nette Marotte abgetan. Es stellte keine Gefahr da, denn wir hingen ständig aufeinander und ich wusste immer, was er tat, was er las und woher sein vermeintliches Geheimwissen stammte, nämlich von irgendwelchen Spinnern in irgendwelchen Spinnerforen. Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste, also. Das hat sich in den letzten zwei Jahren geändert. In der Zeit sind wir uns nur ein paar Mal über den Weg gelaufen, und was dazwischen passiert ist, darüber hat er nie was erzählt. Sei »confidential «, das Ganze, hieß es dann, und dabei hat er versucht, locker mit dem Auge zu zwinkern. Weiß Gott, was die Databorgs in der Zwischenzeit mit ihm gemacht haben. Er ist jedenfalls nicht mehr derselbe, das steht fest. Allein wie er eben die Wanze plattgemacht hat - wie ein Fremder. Der alte Nick hätte das niemals getan. Er hätte sich unter keinen Umständen die Chance entgehen lassen, das Ding aufzuschrauben, ein neues Betriebssystem zu installieren und dann bis in alle Ewigkeit auf Kosten der Abhörer zu telefonieren oder so ähnlich. Könnte es sein, dass er ausnahmsweise mal keinen Schwachsinn redet? Dass sich wirklich jemand für diesen Rechner interessiert - und zurückkommt? Fest steht, dass das Teil nicht mehr mit zurück ins Dorint reist. Nick ist kurz in sein Zimmer gegangen und kommt mit einem Arm voller Klamotten und einer Kulturvortäuschungstasche zurück; in der Achselhöhle klemmt sein Rechner. Radler auf dem Balkon trinken ist für das kommende Wochenende wohl gestrichen. Gottseidank liegen noch mein Dienstrechner. Pass und Wechselklamotten im Kofferraum - Datacorp-Vorschrift, ausnahmsweise mal sinnvoll.

»Machen wir eine längere Reise«

Nick schaut mich kühl an.

»Wer weiß?«Er scheint es zu wissen.

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Auf der verkehrsberuhigten Straße vor Nicks Bungalow ist es noch ein bisschen ruhiger als bei meiner Ankunft. Alle Papis sind mittlerweile wieder zuhause eingetrudelt, und aus den Carports ragen die Hecks ihrer grauen Kombis und Vans. Die Luft fühlt sich kalt und feucht an, wahrscheinlich von den ganzen Rasensprengern. Nick schließt das Haus ab, und wir laufen zügig einen Wohnweg runter. An jeder zweiten Tür geht das Licht an, aufgestachelt von einem Bewegungsmelder, den Ede Zimmermann sicher dringend empfohlen hätte. Da Sabina mit seinem Wagen weg ist, müssen wir meine Kiste nehmen, was natürlich keinen wirklichen Unterschied macht. Denn wir fahren beide jetzt einen Dienstwagen, jawohl. und den tauscht der Datacorp Flottenservice - warum auch immer - alle paar Wochen aus. Diesmal ist es ein ...Ja, was eigentlich? Ich muss auf das Lenkrad gucken, um mich an die Marke zu erinnern. Spielt eh keine Rolle, die Kisten sind alle gleich. Wenn du Glück hast, ist es ein E5erA6,in einer schlechten Woche musst du halt mit einem C3erA4 rumkutschieren. Saugen dir alle gleich die Seele raus. Die Kisten haben ohnehin keine Chance gegen den geilsten Wagen dieser Welt - deinen ersten eigenen. Dieses Wrack, mit dem du zehn Semester lang in Symbiose gelebt hat. In dem du gepennt und geheult hast, in dem die geilsten Tankepartys stiegen, mit dem du um drei Uhr morgens bei MickyD einen Cheeseburger geholt hast. Auf dessen Motorhaube du mit dieser aufgeschlossenen Theologiestudentin gefummelt hast - nicht weil es so gut war, sondern um den Kumpels am nächsten Tag ganz zufällig den Schenkelabdruck zeigen zu können. Nein, dieses Auto kommt nicht zurück, es bricht nicht - wie Christine - eines Nachts vom Hof des Autoverwerters aus, um wieder vor deiner Tür zu parken, als ob nichts gewesen wäre. Nein, deine heilige Schüssel hat ihre letzte Reise längst hinter sich, und alle Wagen, die nach ihr kommen, sind nur noch Fortbewegungsmittel. Wir sind doch schließlich erwachsen. Da erwartet man von einem Auto nur noch, dass es sicher ankommt - und im Fall von Nick einen geldwerten Vorteil. Nachdem der Beifahrer Johns Laptop umständlich auf dem Boden hinter seinem Sitz verstaut hat, kramt er aus seinem Krempelberg ein weiteres Kästchen raus und versucht, es mit dem Zigarettenanzünder zu verbinden, der niemals eine Zigarette angezündet hat und niemals wird. Seine Hände zittern ein bisschen.

»Was ist das wieder?«

Nick nestelt weiter am Kabel rum.

»GPS-Jammer. Stört im Umkreis von ein paar Metern alle Satellitenfrequenzen. Für den Fall, dass deine Kiste verwanzt wurde.«

»Was? Wer würde so was denn tun? Einfach einen Sender unter die Motorhaube stecken, der die Position des Wagens unbemerkt an eine Zentrale funkt ...«

Da - er muss kurz den Mundwinkel hochziehen! Immerhin, er hat die Sache damals in L.A. noch nicht vergessen. Dann verschwindet das Lächeln auch schon wieder, und Business-Nick ergreift wieder das Kommando. Klick, er rastet den Stecker ein und drückt einen Schalter.

»So, ab jetzt sind wir unsichtbar. Ist dein Handy wirklich aus?«

Ich schaue nochmal brav aufs Display.

»Ja.«

»Dann fahr los.«

»Wohin?«

»Egal, irgendwo hin, wo wir pennen können - und wo man bar zahlen kann.«

War neben dem Autobahnkreuz auf dem Weg hierher nicht ein Billighotel? Ich drücke den Startknopf, und der Sechszylinder gurgelt leise unter den Dämmmatten vor sich hin. Blinker raus, wir wollen ja nicht auffallen. Unser U-Boot gleitet auf Schleichfahrt durch Suburbia - unerkannt, leise und unendlich unauffällig. Wir sind also wieder auf der Straße: ich auf dem Fahrersitz, die rechte Hand am Steuer, die linke, wie Steve McQueen, auf der Türkante oben abgelegt. Daneben sitzt der ewige Beifahrer, den Blick starr nach vorne gerichtet, und denkt über irgendeine Zeropage nach. Wie viele Meilen haben wir so schon runtergerissen? Über 100000, hat Nick Mitte der Neunziger mal ausgerechnet. Mittlerweile sind es sicher doppelt so viele. Seit wir von der Schule runter sind, haben wir unsere Ferien, und davon gab's seitdem viele, zusammen auf amerikanischen Highways verbracht. Auf unseren Forschungsreisen, wie Nick immer sagt. Forschungsreisen deshalb, weil wir uns für jeden dieser Trips eine schwachsinnige Mission ausgedacht haben. Also zum Beispiel: Wir schauen uns die Absturzstelle in Roswell an (Nicks Idee), wir besuchen alle Orte in Kalifornien, wo »Star Wars« gedreht wurde (meine Idee), wir statten der ehemaligen Zentrale von Atari in Milpitas/Kalifornien einen Besuch ab, bevor sie endgültig verrammelt wird (eine Pflichtmission, da waren wir uns einig). Diese Odyssee endete übrigens - wie immer - an einer Mauer mit dem Schild »No Trespassing«, dem wir - wie immer - gehorchten. Eine neue Kultstätte, ein neues Betreten-verboten-Schild. Wir blieben also draußen und forschten auf dem Parkplatz weiter. Viele Relikte gab es da nicht zu entdecken. Daran, dass hinter diesen Mauern Legenden wie Pong oder Breakout geboren wurden, erinnerte nur ein winziges Detail: ein kleines Grab, das wohl die Mitarbeiter angelegt hatten. Okay, Grab ist vielleicht doch etwas hoch gegriffen. Eigentlich war es nur ein weißes Holzkreuz, das in einem Beet direkt vor der Mauer steckte und auf das jemand mit Edding gekrakelt hatte: R.I.P. ATARI GAMES – 1972 - 2003 Exakt zwei Blumen waren davor eingepflanzt; Nick meinte, es seien »Osterglocken«.

Und das war's. Der Beifahrer schoss trotzdem ungefähr 87 Fotos von dem Grab und faselte auf dem Rückweg noch stundenlang davon, wie »ergriffen« er gewesen sei. So richtig durchgezogen haben wir unsere Forschungsmissionen nie, und schon gar nichts ernsthaft erforscht, außer dem Angebot an Warnschildern auf dem US-amerikanischen Markt vielleicht. Darum ging es aber auch nie; wir brauchten nur einen Vorwand, um nebeneinander herstarren zu können, während wir Meile um Meile auf endlosen Blue Highways runterrissen - auf kleinen, schlecht asphaltierten Nebenstraßen, die das Nichts mit dem Nirgendwo verbinden und auf der Straßenkarte blau eingezeichnet sind. Nachdem wir die lästige Ablenkung namens Studium aus unserem Leben entfernt hatten, wurden diese Trips immer wichtiger, vielleicht etwas zu wichtig. Wir fraßen nur noch Miracoli, gingen nicht mehr aus, kauften uns nichts mehr und lebten zwischen Sperrmüll-Möbeln - nur um die Forschungsreisen im Sommer weiter bezahlen zu können. Das war auch einer der Gründe, warum sich Sabina seinerzeit abgeseilt hatte. Es war wie mit allen Dingen, die das gefürchtete T-Label bekommen, mit» T «wie» Tradition«.

Erst macht das Ritual die Dinge einfacher, man freut sich, nicht drüber nachdenken zu müssen, was im Sommerurlaub ansteht. Dann kommen erste Zweifel: Ist diese Voreinstellung wirklich so gut? Vielleicht gibt es ja noch andere interessante Reiseziele? Und schließlich hat einen die Tradition fest im Griff, wird zum lästigen Programmpunkt, wie Haare schneiden lassen oder Auto zum TÜV bringen. Seltsam, wieder zusammen in einem Boat zu sitzen. Fast wie früher. Doch es kann kein Kumpeltrip mehr wie früher werden. Alles ist anders, wir sind anders. Wenn wir heute zusammen in einem Auto sitzen, dann sind wir nur gemeinsam auf einer Dienstreise. Und Nick wird jede Quittung entlang des Weges fein säuberlich falten und ins Handschuhfach legen, für die Reisekostenabrechnung am Ende des Quartals.

$000F

»Selbstverständlich können Sie eine Quittung bekommen, sagen Sie morgen früh einfach meiner Kollegin Bescheid «, trällert die junge Rezeptionistin in unsere müden Gesichter. Sie ist ungefähr fünfzehn Jahre jünger als wir. Mit ihrem blauen Blazer und der fleischfarbenen Strumpfhose sieht sie aus, als hätte sie gerade vom Direx ihr Abiturzeugnis in die Hand gedrückt bekommen.

»Vielen Dank«, sage ich und schnappe mir die Codekarte fürs Zimmer, bevor der Steuersparfuchs neben mir noch mehr peinliche Fragen stellen kann. Die Lage ist schon unangenehm genug. Die Kleine hält uns garantiert für Stricher oder so was: Welche zwei Jungs checken an einem Freitagabend fast ohne Gepäck in so einem Business-Bunker ein? Wir sammeln unseren Kram vom Boden auf und gehen rüber zum Aufzug. Eben sind drei Typen mit grauen Dreiteilern und roten Krawatten reingetorkelt. wahrscheinlich die Nachspielzeit eines sehr dynamischen Verkaufstrainings; seitdem gähnt die Lobby leer vor sich hin, und jeder Tastendruck der Rezeptionistin hallt unangenehm nach. Sogar die Fahrstuhlmusik ist um die Zeit abgestellt. Der Staub in der Luft hat ab jetzt ungefähr noch fünf Stunden Zeit, um sich auf den vertrockneten Blumengestecken niederzulassen, mit denen die pseudogemütlichen Sitzgruppen dekoriert sind; dann kommt die Putzkolonne und wird alles, von der Gipskartondecke bis zum hellgrauen Marmorboden mit den schwarzen Einlegearbeiten, wieder auf Hochglanz polieren. Noch fünf Stunden Ruhe im Hotel zur guten Verkehrsanbindung. Meine Chucks und Nicks Vans quietschen auf dem hellbraunen Fußboden bei jedem Schritt, wie damals beim Basketball in der Schulsporthalle. Ich versuche, von den Zehen zum Fußballen leise abzurollen, damit das Rezeptions-Schneckchen nicht auf unser Schuhwerk aufmerksam wird und uns noch mehr für Stricher hält.

»Glück gehabt - Rechtsabbieger«, murmelt Nick, als wir ins Zimmer reinkommen. Er hat irgendwann mal die Theorie aufgestellt, dass es auf der Welt nur zwei Arten von Hotelzimmern gibt - solche, bei denen die TV-Bank links neben der Tür steht, und man nach rechts abbiegen muss um zu den Betten zu kommen; die nennt er »Rechtsabbieger«.

In solchen Räumen stimme »das Chi«, meint Nick.

»Total unnatürlich« dagegen findet er es, beim Reinkommen nach links abbiegen zu müssen, weil rechts die Wand und die Fernseh-Anrichte stehen. Er ist wohl in letzter Zeit ein bisschen viel unterwegs gewesen. Wir schmeißen gleich hinter der Schwelle unseren Kram in die Ecke und checken die Aussicht. Ein Hattrick der Seelenlosigkeit: Wir schauen auf den Parkplatz eines a) Spielzeug-Discounters, b) Polstermöbelzentrums und c) Baumarkts. Ich ziehe die aprikosenfarbenen Vorhänge zu und lege mich auf das Bett neben dem Fenster. Nick stellt vorsichtig Johns Rechner auf dem Fernsehmobiliar ab, dann haut er sich auf seine Pritsche - das ist die direkt an der Wand. Ein weiterer Punkt, über den wir nicht mehr reden müssen: Er behauptet, einen steifen Hals zu bekommen, wenn er in der Nähe eines Fensters schläft. Also entscheidet er sich immer für das Bett direkt neben dem Eingang zum Badezimmer - mit maximalem Abstand zum Fenster. Dass die Zimmer hier, hundert Meter neben dem Autobahndreieck, so gut isoliert sind, dass nicht mal Anthrax-Erreger durchs Fenster kämen, spielt keine Rolle. Regel ist Regel. Oder vielleicht will er auch nur nachts schneller auf der Toilette sein; spielt ja mittlerweile auch eine Rolle. Langsam lässt die Aufregung nach. 00:34 steht in grünen Leuchtziffern auf dem Radiowecker. Verdammt spät, Zeit für den Endspurt. Ich drehe mich auf dem Bett so lange rum, bis ich einen Blick in die Mini-Bar unter dem Fernseher werfen kann, ohne aufstehen zu müssen. Zwei Beck's, zwei Bit, diverse Kurze. Ich hole ein Beck's raus und halte es zu Nick rüber.

»Noch'n Absacker?«

Die Frage ist eigentlich rhetorisch, da Nick niemals etwas aus der Mini-Bar trinkt, wenn wir dienstlich unterwegs sind. Absacker lassen sich nämlich nicht als Reisekosten verbuchen. Umso überraschender kommt sein »Ock«, was so viel bedeutet wie »Okay, aber nimm mir um Gottes Willen die Entscheidung ab, was wir trinken«.

Also fische ich ein zweites Beck's aus dem Kühlschrank und reiche es ihm aufgemacht rüber. Wortlos nimmt er den ersten Schluck. Angestoßen wird hier wohl auch nicht mehr. Nick sieht geschafft aus; den furchtlosen Josef Matula in unserem Fall für Zwei zu mimen strengt ihn wohl doch mehr an, als er zugibt. Jetzt würde er gerne sein Handy rausholen und mit Sabina telefonieren, einen dieser Anrufe starten, die mit einem »Ich dich auch« enden und bei denen es mir immer peinlich ist, wenn ich sie mithören muss. Aber dann wüssten sie, wo wir stecken und wären in zehn Minuten hier, sofern es sie überhaupt gibt. Davon ist Nick mehr als jeder andere im Zimmer mit der Nummer 421 überzeugt, und deshalb schluckt er seine Gefühle runter. Er glaubt mit Sicherheit, dass sie unsere Handys abhören. Klar gäbe es Alternativen, doch seinen Dienstrechner rauszukramen und dann übers abgeschottete Datacorp Secure Network, kurz DCSNet genannt, bei Sabina anzurufen, ist ihm anscheinend zu blöd. Vielleicht steigt seine Stimmung, wenn er einen kleinen Vortrag halten darf? Ich hieve vorsichtig den Rechner aufs Bett rüber. Das Gehäuse fühlt sich warm an, wärmer als bei den Aluflundern, mit denen wir sonst rumlaufen. Das Gerät ist nicht nur so groß wie ein Stapel Langspielplatten, sondern mindestens auch so schwer, fünf Kilo oder sogar mehr. Massige Hightech, kein billiger Plastikscheiß wie meine Tandys. Obwohl klar ist, dass das Teil mindestens zwanzig Jahre alt ist, wirkt das Design nicht antiquiert, sondern immer noch futuristisch und kantig wie ein Stealthbomber. Einziger Hinweis auf den Hersteller ist ein kleines Logo, das ins Gehäuse eingeprägt wurde und nach dem Schriftzug der »Next Generation-von Star Trek ausschaut: GRiD-mit kleinem »i«.

An der Seite des Rechners sind zwei Schiebeschalter dran, mit denen sich wohl der Klappmechanismus des Bildschirms entriegeln lässt. Was passiert, wenn ich den jetzt hochschiebe? Geht das Teil dann von selbst an - wie die alten Kaypro-2000-Laptops aus den Achtzigern - und der Rechner initialisiert die Abschusssequenz, startet den Bomben-Countdown oder sonst was? Ich versuche, aus Nick noch was rauszukitzeln.

»Jetzt sag mal-was ist das für 'nen Teil?«

Stöhnen von rechts.

»Aber nur kurz, ich bin echt alle«, murmelt er. Komm schon, komm schon. Du willst es doch auch! Langsam rollt sich Nick ein bisschen auf die Seite. Na, noch ein Stück, und noch ein bisschen. Und zack - angebissen. In gespielter Zeitlupe greift er den Rechner und balanciert ihn auf sein Bett rüber.

»Okay. Wir haben: einen Laptop des US-Herstellers Grid, Modell: Compass 1101, Baujahr: zweiundachtzig.«

Was? Das kann ja wohl noch nicht alles gewesen sein? Wie ein Alkie, der eigentlich mit dem Saufen aufhören will und ein Freibier vor die Nase gestellt bekommen hat, hält Nick den Rechner ein Stück von sich weg. Dann siegt die Neugier und er streckt seine Finger nach dem schwarzen Monolithen aus, der aus einer anderen Welt zu uns runtergefallen ist.

Extraleben - Trilogie
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