LEVEL 32

Zehn Uhr, Abend in Kanger. Die Sonne ist hinter den Hügeln verschwunden, und das ganze Tal um die Landebahn herum scheint zu glühen. Bis morgen Früh wird dieses dunkelrote Dämmerlicht jetzt pausenlos durch mein Fenster schimmern. Ewiger Sonnenuntergang, nichts für Melancholiker. Ich reiße eine Dose Tuborg Classic auf, das Standardbier in Grönland, Schon komisch, dass es ausgerechnet an diesem Ort nur das Bier unserer Jugend zu kaufen gibt. Ich klopfe mit dem Fingernagel wie schon Hunderte Male zuvor kurz auf den Deckel, bevor ich die Dose aufreiße und wie immer darüber nachdenke, ob diese Aktion irgend etwas bringt. Der erste Schluck sprudelt in den Mund und schmeckt sofort vertraut. Nach Kirmes auf dem Dorf, nach Fritten mit Jägersoße, nach Teenie-Geknutsche mit Fisherman's Friend in der Backentasche. Damals, da flogen Nick und ich wirklich hoch: Wir hielten den Highscore bei Operation Thunderbolt, hatten fast zeitgleich Alpha-Mädels aus der Stufe unter uns erobert, fuhren eigene Wagen. Und die Leute riefen bei uns am Samstagnachmittag an, wenn sie wissen wollten, was abends abgehen würde der ultimative Beweis dafür, Chef zu sein. Natürlich ahnten wir in diesem Frühsommer 1991 nicht, dass ab sofort nichts mehr ab-, sondern vieles nur noch abwärtsgehen würde. Das Wissen hätte aber ohnehin keinen Unterschied gemacht. Ich schaue mir auf der Seite der Dose den durstigen Mann an, der als Poster jahrelang in Nicks Bude hing, und trinke das Tuborg mit einem Zug halbleer; das mit dem Training hat gestern irgendwie nicht hingehauen, ist aber jetzt eh egal. Was hatte uns nur das Genick gebrochen? War die sorgfältig aufgebaute Mühelosigkeit schließlich in Gleichgültigkeit umgeschlagen? Oder hatten wir im blinden Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten einfach nur verpasst, uns für eine zu entscheiden? Mensch, wir hatten doch Potenzial , das war unsere Zeit! Acht Jahre zuvor hatte sich der Chaos Computer Club selbst 135000 D-Mark per BTX überwiesen, dann kam Windows 1.0, der KGB-Hack und so weiter. Nicht, dass wir mit all diesen Sachen irgendwas zu tun hatten, aber die Schlagzeilen verkündeten in unseren Ohren nur eines: Jetzt seid ihr dran. Warum auch nicht? Uns gehorchte das neue Medium aufs Wort, wir kannten die Tricks und Kniffe, hatten uns die Maschine untertan gemacht. Auf den Jahrgang Wirtschaftswunder musste das wie Magie wirken. Und auch wenn wir uns das Label niemals angeheftet hätten, waren wir diese Computerkids, über die das Establishment einerseits nur die Köpfe schüttelte, die es andererseits aber bewunderte. Eigentlich hätte uns die Zukunft zugestanden. Boom, mit einem ohrenbetäubenden Knall haut eine Boeing auf der Landebahn die Schubumkehr rein. Okay - Materialcheck. Meine spärliche Abenteuerausrüstung liegt ausgebreitet auf dem Bett: Timberland-Stiefel, die Klassiker aus gelbem Leder, überstehen unverwüstlich jeden Aufstieg, solange er nicht steiler ist als die Treppe zwischen der Bibliothek und dem Seminar der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Außerdem zwei Flanellhemden von Wal-Mart, übereinander fast so warm wie ein Pullover. Darüber eine Cordjacke. innen leicht gefüttert und - mein Zugeständnis an Grönland - ein Regencape zum Zusammenfalten, soeben gekauft im Flughafen. Greenland I sagt zwar für morgen gutes Wetter voraus, aber sicher ist sicher. Dann noch der Kleinkram: Kamera, Leatherman und, ebenfalls gerade erstanden, ein kleiner Wanderkompass. Mein Blick schweift über das erbärmliche Häufchen. Keine Frage, meiner Karriere als tragische Randnotiz im Kangerlussuaq Daily steht nichts mehr im Weg, oder wie die Dorfzeitung hier auch heißen mag, in der Kurzberichte über vermisste Touristen stehen. Gerne würde ich mir jetzt schwarze Streifen unter die Augen malen, den Raketenwerfer schultern und das Jagdmesser in die Wadenhalterung stecken, wie es die Stallones und Schwarzeneggers früher immer gemacht haben - zum Klang dramatischer Paukenschläge aus dem Hintergrund. Doch das einzige Geräusch sind die nie verstummenden Jet-Turbinen. Ich sehe Nick geradezu vor mir, wie er in seiner Spack-Manier die linke Augenbraue hochzieht, als wolle er sagen: Damit willst du zum Rand des Polareises wandern? Alter, bist du irre ... Und wofür das Ganze überhaupt? Auf der Suche nach einer Rechtfertigung gehe ich die ganze Geschichte noch einmal von vorne durch, völlig nüchtern betrachtet: Die verschlüsselte Botschaft in Raid over Moscow - wahrscheinlich ein Crackerscherz. Das Gleiche gilt für die Cartridge aus Alamogordo, obwohl es schon merkwürdig ist, dass die gleichen Jungs zwei Spiele knacken, die zeitlich so weit auseinanderliegen, und dass das E. T.-Modul anscheinend ein Original war. Gab es bei Atari einen Maulwurf, der Code in Neuware eingeschleust hat? Aber gut, Nick, bis dahin könnte alles vielleicht ein Zufall gewesen sein. Doch dann werden die Ereignisse zunehmend auffällig: das real existierende Büro der Datacorp in Sunnyvale, der strategisch platzierte Karton, die unbeobachtete Sekunde, der GPS-Tracker unter unserer Haube? Hier fängt Ihre logische Erklärung aber gewaltig an zu bröckeln, Agent Scully. Und schließlich der ultimative Beweis, der rauchende Colt in der Hand des Täters: die geheime Landestelle in Moonlander. Bis zu diesem Punkt hätte ein Skeptiker noch argumentieren können, dass die Herren von der Datacorp in aller Eile wohl einen ihrer Umzugskartons vergessen haben, in dem halt noch ein altes Papiertape lag. Aber nur bis dahin. Die Smoking Gun liegt nämlich darin, wie das Programm die Koordinaten der verborgenen Basis angegeben hat: 67 Grad 5,48 Minuten Nord - fünf Komma vier acht Minuten. Bis in die Achtzigerjahre wurden geografische Positionen eigentlich immer in glatten Minutenzahlen angegeben und - wenn nötig - zusätzlich Angaben in Sekunden gemacht; die Minuten mit Nachkommastelle aufzulisten ist dagegen typisch für eine moderne Satellitennavigation. Doch das amerikanische Navstar-System, Vater von GPS, wurde erst 1995 offiziell aktiviert, also zu einem Zeitpunkt, als Floppys und Festplatten längst Lochstreifen ersetzt hatten. Das wiederum bedeutet, irgendjemand hat das vermeintlich alte Band in den Neunzigerjahren hergestellt. Aber wer sollte so ein vermeintliches Relikt faken, und vor allem warum? Irgendwie will die Autosuggestion nicht richtig wirken. Eine zweite Dose Tuborg wird die aufsteigenden Zweifel schon runterspülen. Nein, ich bewege mich mit Sicherheit in einem Szenario wie bei Hacker II : Wie viele Spiele und Filme der Achtzigerjahre begann auch dieses mit einer fiktiven Datenfernübertragung, die sich Buchstabe für Buchstabe auf dem Monitor aufbaute - begleitet vom obligatorischen Piepen. 


SINCE YOU HAVE BEEN RECOGNISED AS THE WORLD'S LEADING AUTHORITY ON COMPUTER SECURITY SYSTEMS, THE CENTRALINTELLIGENCEAGENCYWISHES TO ENLISTYOU IN ITS EFFORDSTO COMBATINTERNATIONALTERRORISM. 


Wieder das alte Motiv: Hacker wird vom Staat rekrutiert, um für Volk und Vaterland in die Tasten zu greifen. Bei Hacker II ging es darum, eine russische Geheimbasis zu infiltrieren, und zwar aus der Ferne. Alles, was der Spieler sah, waren die Bilder von vier Überwachungsmonitoren, und eingreifen konnte man nur mithilfe von ferngesteuerten Robotern. Ein beklemmendes Game. Am Schluss entpuppte sich die Nachricht der CIA obendrein als gefälscht, und der vermeintlich patriotische Hacker musste erfahren, dass er in Wirklichkeit für eine dubiose Privatfirma gearbeitet hat, eine Firma wie die Datacorp. So muss es auch bei uns sein: Mithilfe von Moonlander will jemand Nick und mich als Agenten oder was auch immer gewinnen. Und nach bestandener Informatik-Prüfung folgt jetzt das Prüfungsgespräch an Ort und Stelle, in Black Ridge II. Zugegeben: Trotz aller Indizien bleibt ein Rest von Unsicherheit. Was ist, wenn all die Geschichten von Regierungsagenten, Aliens und Softwarekonzernen, die sich über Honeypots und geheime Botschaften an die Elite der Cracker und Zocker ranmachen wollen, nichts als ein großer Selbstbetrug sind, lediglich eine Subroutine in unserem Kopf, mit der wir uns einreden wollen, dass all die Lebensjahre am Joystick, beim Poken und Frickeln eben doch nicht verschwendet waren? Was wäre dann? Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, erwachsen zu werden und der Wahrheit ins Auge zu sehen: Die Welt ist kein „P.M.«- Magazin. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein Wetterballon, der 1947 in Roswell runterkam. Womöglich hatten sich die Marinepiloten von Flug 19 wirklich nur verirrt, als sie zwei Jahre zuvor in jener Gegend spurlos verschwanden, die später als das Bermuda-Dreieck bekannt wurde. Vielleicht liegt kein Nazi-Gold am Grund des Toplitzsees, und der britische Hacker Gary McKinnon hat im Netz der NASA wirklich keine Beweise für Alien - Technologie gefunden. Wahrscheinlich sogar. Alles in allem hat Nick wohl Recht, und es ist höchste Zeit, die Fantasiewelt eines Kids von 1984 hinter sich zu lassen und weiterzuziehen. Aber noch nicht jetzt und nicht hier. Die Vertreibung aus dem Paradies kann noch 24 Stunden warten, bis morgen Abend. Bis morgen Abend, Nick.

Extraleben - Trilogie
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