LEVEL 36
Es ist offiziell: Ich lebe in einem Computer-Adventure.
YOU HAVE BEEN TELEPORTED TO A MASSIVE RADAR INSTALLATION IN GREENLAND
YOU ARE IN A ROOM
A CAMERA WATCHES.
YOU HAVE: COMPASS, LEATHERMAN
>LOOKUP
Mein Kopf fühlt sich an als wäre ein Klavier draufgefallen. Ich taste meine Stirn ab. Ganz klar, da ist ein Schnitt! Das muss bestimmt genäht werden, und dann bleibt eine hässliche Narbe zurück. Vielleicht können es die Ärzte ja auch kleben, das soll ja mittlerweile ganz gut gehen. Obwohl: Welche Ärzte? In Kanger gibt es ja überhaupt kein Krankenhaus. Das heißt, ich muss mich mit der offenen Wunde fünfeinhalb Stunden ins Flugzeug nach Kopenhagen setzen und die Sache da nähen lassen, vorausgesetzt, ich schaffe es rechtzeitig zurück zum Treffpunkt mit Herrn Andersson. Ich krieche auf alle Vieren bis zur nächsten Wand und stemme mich mit meinen zitternden Beinen hoch. Jetzt fängt die Wunde an der Stirn richtig an zu pochen. Shit. Ich schau mich um, versuche, irgendetwas zu erkennen. Durch einen kleinen Spalt unterhalb der Tür schiebt sich ein dünner Balken Sonnenlicht herein und taucht den Raum in ein fahles Licht. Eigentlich wäre das der Ort für typische Egoshooter-Architektur, das Verlassene-Fabrik/Militärbasis-Klischee halt, mit verrosteten Rohrleitungen und gelb schwarz-gestreiften Warnbalken an jedem Treppenabsatz. Doch der schmale Korridor strahlt etwas Freundliches aus, eher wie die Tiefgarage eines Eigenheimkomplexes, wie bei mir zuhause: Die Betonwände sind bis zur Hüft-höhe dunkelgrau gestrichen, darüber ist alles ordentlich weiß getüncht. Bis auf eine Überwachungskamera unter der Decke deutet nichts auf die Anwesenheit von Menschen hin. Der Raum hat zwei Türen: die eine, durch die ich gekommen bin, und eine zweite Stahltür, die weiter ins Innere der Basis zu führen scheint. Über ihr hängen sogar zwei batteriebetriebene Notscheinwerfer, wie sie auch in amerikanischen Hotelfluren angebracht sind. Auf eine lächerliche Art ist es beruhigend zu wissen, dass sich die Datacorp an Bauvorschriften hält. Nicht, dass das die Lage ändert. Draußen vor der Tür donnern immer noch die Turbinen einer Drohne, die mich verfolgt. Manchmal werden sie kurz leiser, um dann wieder anzuschwellen; das UAV scheint um den Eingang herumzukreisen. Es gibt also nur eine Option - die Flucht nach vorne. Ich taste mich quer durch den Raum bis zur Tür, die weiter ins Innere der Basis führt, und versuche, die Klinke so sachte herunterzudrücken, wie es nur irgendwie geht, als ob der Drücker mit 100000 Volt aufgeladen ist. Das ist natürlich total irrational, denn wenn sich hinter ihr zum Beispiel eine Menschenfalle verbirgt, würde die ja zuschnappen, egal, wie stark die Klinke gedrückt wird. Zentimeter für Zentimeter knarrt die Klinke weiter runter. Bsss! Ein Türsummer! Ich reiße meine Hand blitzschnell zurück. Datacorp is watching, natürlich, die Kamera, man erwartet mich. Bevor mein Mut-Akku wieder aufgeladen ist und ich mich traue, die Klinke erneut anzufassen verstummt der Summer auch schon. Peinlich, ich stehe immer noch vor der geschlossenen Tür. Wie zwei Leute, die versuchen, sich in der Fußgängerzone aus dem Weg zu gehen und immer zur gleichen Seite ausweichen. Also mache ich wieder einen Schritt zurück und strecke die Hand noch einmal demonstrativ zur Klinke aus, damit Mr.X am Kontrollmonitor es garantiert sieht. Wieder ertönt der Summer, ich drücke hastig die Tür auf, stürze voran und stehe - vor einer weiteren Tür. Im Sicherheitsjargon heißt so was, glaube ich, Personenvereinzelungs-Schleuse; der hintere Ausgang geht erst auf, wenn die Eingangstür geschlossen wurde, damit nicht mehr als ein Besucher gleichzeitig rein kann. Mit einem lauten »sschlock« schließt sich die Stahltür hinter mir und sperrt den Lärm der Drohne endgültig aus. Übrig bleibt jetzt nur das Sirren der Neonröhre an der Decke und ein dumpfes Brummen, das von allen Seiten gleichzeitig zu kommen scheint, so, als wäre der Raum von Dieselgeneratoren umgeben. Klarer Fall, ein Taos Hum - noch so eine von Nicks Theorien: Extrem tiefes Geräusch, Frequenz unter 50 Hertz, trat erstmals in der Gegend um Taos/New Mexico auf, mittlerweile auch in Stuttgart zu hören. Von Verschwörungstheoretikern als Indiz für subterrane Geheimanlagen interpretiert, von Wissenschaftlern als Symptom einer Ohrenkrankheit gedeutet. Schätze, die Freaks haben recht. Um nicht wieder als Angsthase dazustehen, drücke ich die Klinke der Ausgangstür jetzt schnell und mit voller Kraft runter. Diesmal gibt es keinen Summer, und ich verlasse die Personenschleuse. Dahinter wartet eine Enttäuschung: Der Gang endet nicht an einem Aufzug, der in ein geheimes Untergeschoss fährt und/ oder mit Falltür ins Piranhabecken ausgestattet ist. Nein, Dr. No käme hier nicht auf seine Kosten. Stattdessen stehe ich in einem engen Treppenhaus, das drei oder vier Stockwerke in die Tiefe führt und genauso gut der Eingang zur Rathaus-Garage in der City sein könnte. Die Stufen sind nicht aus Beton, sondern aus Eisengittern, so dass man den ganzen Weg runter bis zum Boden schauen kann - das wäre nichts für Nick, den Höhenkranken. Eine weitere Videokamera stiert von der Decke herunter; die überlassen wirklich nichts dem Zufall. Vorsichtig taste ich mich die Treppe herunter. Da die einzige Neonröhre oben am Eingang hängt, wird es mit jedem Absatz etwas dunkler, und das freundliche Parkhaus verwandelt sich in ein dunkles Verlies. Ganz unten am Ende der Stufen kann man den Boden nur noch erahnen. Was, wenn jetzt das Licht ganz ausgeht? Eine Schweißperle läuft in den Schnitt an meiner Stirn. Es brennt. Nur noch ein paar Stufen. Klonk, klonk, klonk, ich knicke mit dem rechten Bein um. Mit dem linken kracht mein ganzes Gewicht auf das Gitter; das Scheppern hallt den ganzen Betonschlauch hoch. Ob die auch Ton an der Kamera haben? Die letzte Stufe, endlich wieder fester Boden. Obwohl ich den Ausgang vor mir kaum noch erkennen kann, renne ich darauf zu. Nur noch eine Klinke, nur noch raus hier. Flutlicht, die Netzhaut schmerzt. Ich bleibe mit geschlossenen Augen stehen. Jetzt bloß nicht nach vorne kippen, wer weiß, was da kommt. Scheinwerfer, dafür brauchen sie also die Generatoren, das frisst natürlich Strom. Woher wohl der Sprit kommt? Beim Aufstieg zur Station konnte ich keine Landebahn entdecken, dabei wurde bei jeder Dew-Station eigentlich eine angelegt. Dann haben sie den Diesel also per Lkw aus Kanger hierher gebracht. Ich öffne die Augen einen Spalt breit. Aus dem grellen Lichtmeer tauchen schwarze Umrisse auf; es sind die haushohen Ständer, auf denen die Scheinwerfer montiert sind. Ein Schritt nach vorne, ein vertrautes Klonk. Mein Fuß steht auf einem Metallgitter, unter dem es zehn Meter in die Tiefe geht, diesmal ohne Treppe, Luftlinie. Hilflos stampfe ich leicht mit dem Fuß auf, um zu prüfen, ob das Gitter hält. Erst dann traue ich mich, hochzugucken. Der Ausblick ist gigantisch: Vor mir liegt ein gewaltiger Hangar, mindestens so groß wie drei Schulsport-hallen nebeneinander. Flutlichtbatterien in den Ecken leuchten jeden Quadratzentimeter brutal aus, so wie bei einem Rohbau, in den die Handwerker noch keine Lampen eingebaut haben. Auch hier scheint vor Kurzem aufgeräumt worden zu sein. Der Betonboden sieht wie frisch gegossen aus, nichts steht rum. Die Halle ist völlig leer, bis auf den Mann, der sich breitbeinig genau in der Mitte aufgebaut hat. Er hat die Hände vor der Brust verschränkt und scheint zu lächeln. Ich muss an die Worte des bösen Elvin Atombender aus Impossible Mission denken: »Stay a while - stay forever!«
Nicks dazu passendes Trivial-Bröckchen: »In der Version für den Atari steckte ja ein Bug, sodass die Mission im wahrsten Sinne des Wortes unmöglich war ...«
Die Gedanken retten sich auf vertrautes Geek-Territorium. Plötzlich übertönt eine Stimme das Summen der Generatoren: »Welcome to Datacorp, Kee .«
Der Mann in der Mitte der Halle gibt seine Duellpose auf, schüttelt ein wenig die Beine aus und macht eine einladende Handbewegung. Mit zitternden Beinen steige ich die Gittertreppe hinunter, mit der rechten Hand das Geländer fest umklammert. Jetzt nicht nach unten sehen, sondern möglichst souverän meinen Gegenspieler fixieren. Mit jedem Meter wandert der Schatten auf dem Gesicht des Unbekannten höher und entzaubert, was aus der Ferne nur eine düstere Silhouette war. Er strahlt Autorität aus, wirkt aber gleichzeitig ziemlich ungefährlich, wie einer dieser Geschäftsleute, die Economy fliegen und nach ein paar Gin Tonic mit ihrem Jahresbonus angeben. Irgendwas mit Hightech, würde ich tippen, wahrscheinlich von der Westküste. Der Hosenbund seines Brooks-Brothers-Anzugs sitzt wie bei allen Amerikanern etwas zu hoch, was selbst den schneidigsten Geschäftsmann aussehen lässt, als ob er zu seiner Erstkommunion geht. Der Unbekannte hat den obersten Knopf seines hellblauen Oxford-Hemdes geöffnet. Casual Friday bei der Datacorp. Auch die Haare sind typisch amerikanisch: kurz und brav, mit strengem Scheitel und irgendwie helmartig - wie die Frisur deutscher TV-Reporter in Washington, nachdem sie das erste Mal bei einem einheimischen Friseur waren. Von hier aus schätze ich ihn auf einsneunzig. er ist schlank, und unter dem Hemd zeichnen sich leicht die Brustmuskeln ab. Aerobes plus anaerobes Training wahrscheinlich; dreimal die Woche Kraftraum. danach jeweils eine Stunde aufs Laufband. Trotzdem wirkt der Mann nicht übertrieben sportlich; seine Gesichtszüge sind sanft, das für US-Manager obligatorische Schrankkinn fehlt; er könnte sogar eine Brille tragen. Der große Unbekannte präsentiert weiter die volle Breitseite seiner perfekten weißen Zähne, als ob er spürt, dass mein Herz - oder meine Blase - bei der kleinsten überraschenden Bewegung aussetzt. Seine Augen wandern im Raum umher, so, als suche er einen Notausgang aus der beklemmenden Gegenüberstellung. Als ich auf zehn Meter ran bin, wird sein Lächeln lockerer: »The time is the near future«, verkündet er, mit einer dramatischen Pause hinter »time«, Meine Mundwinkel ziehen sich unweigerlich nach oben, und ich gebe den Versuch auf, irgendwie cool rüberzukommen. Die ersten Zeilen aus dem Intro von Raid over Moscow . Mit einem Mal sind alle Fragen beantwortet - oder zumindest die erste, der Rest wird sich ergeben. Der Punktestand: Nick - null, ich - eins. Yes,yes, yes. Ein Rausch breitet sich aus, wie ich ihn seit meinem letzten Schultag nicht mehr gespürt habe: der Drang, total auszurasten, gemischt mit unendlicher Müdigkeit. Das Bedürfnis zu jubeln, aber gleichzeitig zu schwach zu sein, auch nur die Hand zur Faust zu ballen. Genau deshalb lässt man nach einer schweren Prüfung niemals richtig die Sau raus, egal, wie fest man es sich vorgenommen hat. Unglaublich, alles war real, nichts Fantasie. Aber wie lange? Schon immer? Jeder Junge kennt diesen Traum, denn jeder hat ihn mal geträumt, irgendwann zwischen fünf und dreizehn: Es ist der Traum von der übermächtigen Geheimorganisation. Was sie tut, weiß niemand so genau. Nur so viel ist sicher: Es ist geheim, und wer zu viel weiß, lebt nicht lange genug, um noch jemandem davon zu erzählen. Denn sie ist überall und hat unbegrenzte Mittel: Sie schießt Satelliten in den Orbit, mit denen sie dich auf Schritt auf Tritt überwachen kann, auch auf dem Weg zum Turnunterricht. Ihre Agenten rasen in Lockheed Blackbirds um den Globus, mit 3500 Stukis die schnellste Maschine in jedem Quartett, und sie schießen mit Strahlenwaffe oder Uzis. Die Organisation verfügt selbstverständlich über Antigravitationsmaschinen, Laser-Abhörgeräte, Tarnvorrichtungen und all die anderen Sachen, von denen »P.M.« schreibt. Kurzum: Diese dunklen Mächte können uns jederzeit einkassieren. Und wenn es so weit kommt, dann werden sie hoffentlich bei den Idioten aus der c anfangen. Klar gibt es diese Geheimorganisation, ganz sicher! Irgendwann hat man mit den Kumpels auf dem Schulweg so häufig über diese Welt hinter der Welt geredet, dass man anfängt, an sie zu glauben. Plötzlich sind die Anzeichen überall: Das heruntergekommene Lagerhaus an der Bahnstrecke - sieht das nicht aus wie ein geheimer Stützpunkt? Geht der alleinstehende Mann von gegenüber nicht etwas häufig spazieren? Wette, der leert auf dem Weg einen toten Briefkasten. Und der dicke Siegelring, den die Mathelehrerin trägt, muss ja irgendein Erkennungszeichen sein. Witzig, wie man damals drauf war. Aber was ist, wenn heute, zwei Jahrzehnte und die ersten Krähenfüße später, plötzlich jemand kommt und dir sagt, dass alles wahr ist? Als ich auf drei Meter an den Unbekannten herangekommen bin, streckt er seine Hand aus.
»I think we can continue in German«, erklärt er, während er meine schlaffe Hand auf-und niederpumpt, »ich hoffe, Sie verstehen mich«, Sein Deutsch klingt tadellos, irgendwie norddeutsch, ganz ohne diese Äppelwoi-Note, die sich viele Amerikaner während ihrer Army-Zeit in Frankfurt einfangen. Ich habe noch nicht ganz geschaltet und haspele dumm herum, von der Drohne, und ob die nicht wahnsinnig gefährlich sei. Der Mann mit dem Scheitel lacht laut auf.
»Kee , Datacorp is not in the business of killing people! Aber kommen Sie: Wir haben viel zu besprechen.«
Mit wehendem Sakko strebt der Mann dem Ausgang entgegen, ich folge ihm wie eine Marionette an ausgeleierten Schnüren. Ich muss schlimm aussehen, mit der zerrissenen Hose und der blutverschmierten Stirn. Doch John, mit diesem Namen hatte er sich im nächsten Satz vorgestellt, tut so, als habe er es nicht bemerkt, und marschiert, ohne zur Seite zu blicken, voran. Wir verlassen den Hangar durch eine massive Stahltür. Die Schwelle ist mit diesen rutschfesten Metallplatten verkleidet, die Architekten während der Achtzigerjahre gerne auch in ihren Eigentumswohnungen verlegt haben. Mein Gastgeber blickt kurz zurück in die Halle, dann lächelt er ein wenig verlegen.
»Sorry about that, aber ich habe einfach ein Faible für dramatische Auftritte.«
Wir passieren das Schott und stehen in einem kleinen Vorhof. Ah, doch noch ein Industrieklischee: Gelb-schwarze Streifen markieren auf dem Boden den Bereich, wo das Tor aufschwingt; im Vorbeigehen kann ich einen Blick auf die Seitenverkleidung der Tür werfen. Vier armdicke Bolzen ragen heraus, wie bei einem Tresor. Wie viele Kilo Dynamit dieses Monster wohl vertragen kann?
»Allright«, sagt John zu sich selbst und sprintet los. Wir biegen in den ersten Gang ein. Ich werfe einen kurzen Blick zurück und habe das Gefühl, zwischen zwei Spiegeln zu stehen - in beide Richtungen erstreckt sich der Korridor in die Unendlichkeit. Selbst mit Mühe kann ich das Ende der Gänge nicht erkennen, wie bei den Bildern, die man im Kunstunterricht malen musste, um die Fluchtpunktperspektive zu üben. An den Wänden schlängeln sich dicke Kabelbäume entlang, ganz oben die Leitungen für Strom und Netzwerke, darunter Wasserrohre, logisch, so geht bei einem Leck nichts kaputt. Alle zehn Meter hängt eine Doppelneonröhre, die den Gang in grelles Licht taucht; immer zwischen zwei Lampen gibt es einen toten Punkt, wo kein Licht hinkommt und man sofort das Gefühl hat, als würde der Permafrost förmlich durch die Wand kriechen, so kalt ist es. Wie kann John hier ohne Parka auskommen? Wie schon oben in der alten Dew-Station sieht es auch hier unten sehr gepflegt aus, nirgendwo blättert Farbe ab, nagt der Rost an einem Handlauf. Trotzdem wirkt der Bunker ein wenig angestaubt, wie die Wohnung eines alten Menschen. Durch die ganze Anlage weht das Flair der Sechzigerjahre, als hätte man das Kreiswehrersatzamt Köln-West unter die Erde verlegt und zwanzig Jahre nicht betreten. Vor allem die Details verraten das Alter der Anlage: An den Wänden hängen alte Drehschalter, die Telefone haben noch Wählscheiben, und in manchen Ecken stehen - shocking! - sogar Aschenbecher. Hier könnte nicht nur die Data Corporation, sondern auch die RAND Corporation residieren. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Herman Kahn den Flur entlangeilen, während sein Hirn wieder und wieder die Szenarien des thermonuklearen Holocaust durchspielt. Kein Zweifel, wir wandern durch eine Gruft, die gebaut wurde, um auszuharren, bis sich der radioaktive Fallout auf der Oberfläche gelegt hat. John scheint es wirklich eilig zu haben, denn er marschiert los, als ginge es darum, in zwanzig Minuten den nächsten Businesstermin zu erreichen - oder schon mal sein Lauftraining zu absolvieren. Mir fällt es schwer, mit ihm Schritt zu halten, vor allem jetzt, nachdem die extreme Spannung abgefallen ist und keine Endorphine mehr den Schmerz in den Beinen betäuben. Jetzt etwas essen, was Richtiges. Dass ich heute die längste Distanz seit den Bundesjugendspielen '90 gelaufen bin, scheint den Datacorp-Mann nicht im Geringsten zu stören, jedenfalls redet er in schnellem Stakkato auf mich ein, als ob wir uns gerade bei einer Konferenz in die Arme gelaufen wären.
»Haben Sie schon einmal von Xerox PARC oder den Bell Laboratories gehört?«
Um nicht zu zeigen, wie sehr mir der Atem ausgeht, nicke ich nur.
»Diese Institute waren einmal Leuchttürme der internationalen Forschungslandschaft, klingende Namen, die für revolutionäre Erfindungen standen wie den Transistor. Heute sind sie bedeutungslos geworden. Und warum?«
Diesmal wartet John nicht mein Nicken ab.
»Die Antwort lautet: Weil diese Labors zu einem Konzern gehörten und untrennbar mit seinem Schicksal verbunden waren. Das heißt, für die Forscher reichte es nicht aus, nur brillant zu forschen, sondern sie konnten ihre Arbeit nur fortsetzen, wenn es Werbung und Verkauf auch gelang, die guten Ideen in gute Produkte umzumünzen; dann floss das Geld weiter. Doch wie Sie wissen, funktionierte das leider nicht immer.«
Wohin geht dieser Vortrag, diese Reise? Was soll das alles -Raid over Moscow , der Lochstreifen, der GPS-Tracker unter der Motorhaube? John atmet - ganz Sportler - tief durch die Nase ein und bläst die Luft langsam zum Mund raus, bevor er weiterdoziert.
»Aber die großen Labs bekamen Mitte der Siebzigerjahre noch an einer anderen Front Probleme: Die Macht der Megakonzerne begann zu bröckeln. Scheinbar unverwundbare Konglomerate, die von Sprengstoff bis zu Nylonstrümpfen alles herstellten und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken waren, gerieten ins Schwanken, wurden von Kleinen überholt oder von Corporate Raiders aufgekauft und Stück für Stück demontiert. Spätestens Anfang der Achtziger musste auch dem letzten Firmenforscher klar werden, dass sein Arbeitsplatz nie wieder so sicher sein würde wie in den Aufbaujahren nach dem Krieg.«
An einer Kreuzung stoppt mein Reiseführer, um einen Lageplan zu studieren, der in einem adretten Holzrahmen an der Wand hängt. Auf den ersten Blick wirkt das Diagramm wie ein Schaltplan aus der Zeit, als es noch Kondensatoren und Transistoren gab. Dicke Striche ziehen sich kreuz und quer über das Papier, verbinden Quadrate, zweigen ab, werden dünner oder münden in andere Striche. Nur der Hauptkorridor, auf dem wir anscheinend unterwegs sind, sticht als dickste Linie ein wenig aus dem Chaos heraus. Von ihm zweigen viele kleine Striche nach oben und unten ab, die mit Worten wie Composite Bldq ., Storage Tank und Maintenance beschriftet sind. Dazwischen stehen reichlich unverständliche Abkürzungen und Nummern. Da John anscheinend auch ein bisschen Zeit zur Orientierung braucht, bleiben mir einige Sekunden, um mich kurz umzuschauen. Hier unten scheint alles eine Nummer zu haben. An jedem Kabel, jeder Steckdose und jedem Entlüftungsschacht pappt eine kleine bronzefarbene Plakette mit schwarzer Gravur - diese Art von Schildchen, wie Rentner sie gerne nehmen, um sich gegen Werbepost abzuschirmen oder vor ihrem Schäferhund zu warnen. Selbst der Lichtschalter neben dem Lageplan hat eine Nummer: 53281,0-53281,1. Nach etwa einer halben Minute nimmt John wieder Fahrt auf. Anders als ich scheint er den Faden seiner Geschichte noch nicht verloren zu haben, denn ohne weitere Erklärungen setzt er seine Geschichte fort.
»Das Gleiche galt natürlich noch mehr für staatliche Labors. Spätestens nachdem die letzten Apollo-Astronauten im Dezember 1972 von ihrer Mondmission zurückgekehrt waren, hatte die Ära des Big Government ihr Ende erreicht, das musste wohl jeder einsehen. Amerika hatte das Space Race gewonnen, und die Bürger der westlichen Welt wandten sich wieder ihren Problemen auf der Erde zu, Ölkrise, Rezession und so weiter. Für ideologische Kleinkriege im Orbit wollte keiner mehr Geld ausgeben, und staatliche Organisationen wie die NASA fielen in eine tiefe Krise, von der sie sich, wie wir heute wissen, nie wieder erholen würden. In dieser Situation trafen sich am 1. Januar 1973 elf Wissenschaftler an einem geheimen Ort. Die brillantesten Köpfe ihrer Generation, von den besten Adressen - Lawrence Livermore Lab, CERN in der Schweiz, Lockheed Skunkworks und so weiter. Sie beschlossen, eine Organisation zu gründen, die nur ein Ziel verfolgte: Wissen zu produzieren, unabhängig von Firmen oder Staaten. Sie sollte ausschließlich forschen und eben nicht der Börse oder Planungskommissionen Rechenschaft ablegen müssen. «
Langsam dämmert mir, in welche Richtung die Reise geht.
»Woher kam das Geld? «, frage ich. Ohne zur Seite zu blicken, quittiert John meinen Einwurf mit einem kurzen Kopfnicken.
»Jedes Mitglied der so genannten Majestic Eleven brachte eine Reihe lukrativer Patente mit, die auf Jahrzehnte hin finanzielle Unabhängigkeit garantierten. Im Laufe der Zeit kam natürlich neue Intellectual Property hinzu, und das Kapital stieg durch Zinsen ständig an. Geld war so innerhalb weniger Jahre kein begrenzender Faktor mehr. Das System funktionierte aber nur deshalb, weil die Gründer über all die Jahre ihrem Prinzip treu blieben: Sie produzierten Wissen und boten es auf dem freien Markt an - nicht mehr und nicht weniger. In keinem Fall erlagen sie der Versuchung, die Forschungsergebnisse selbst als Produkt zu vermarkten, obwohl hier und da sicher Millionengewinne möglich gewesen wären. Doch das Überleben ging vor.«
Ohne Vorwarnung biegt John in einen Quergang ab. Er ist viel breiter als der Korridor, auf dem wir gekommen sind, vielleicht drei oder vier Meter, und auf Kniehöhe ziehen sich Leitplanken die Wand entlang. Bremsspuren auf dem Betonboden machen mir Hoffnung, dass wir unsere Reise vielleicht bald in einem Elektrowägelchen fortsetzen, wie es sie am Flughafen gibt. Doch die Expedition geht in unvermindertem Tempo zu Fuß unter den Neonlampen hindurch weiter. Hell, dunkel, hell, dunkel. Ich muss an lange Rückfahrten aus dem Urlaub mit den Eltern denken, nachts, im alten Ascona durch Belgien. Meine Schwester und ich liegen unangeschnallt auf der Rückbank, die Füße auf dem warmen Getriebetunnel, vorne schlürft der Motor zufrieden sein verbleites Benzin. Orange, schwarz, orange, schwarz. Um nicht einzuschlafen, fangen wir an, die vorbeiziehenden Straßenlaternen zu zählen, kommen aber nicht weiter als bis siebzig und wachen erst wieder auf, als Vater an der Grenze anhalten muss. Das war immer einer dieser Momente, in denen alles gut ist und für die man den Eltern später danken will, aber nie die richtigen Worte findet. „Wo sind wir hier?«, frage ich.
»Haben Sie schon einmal von Operation Iceworm gehört?«, erwidert John. Natürlich hatte ich, das war Teil meiner 10-Dollar- Recherche am Hotelrechner. Die Geschichte gehört wohl zu den bizarrsten, die der Kalte Krieg geschrieben hat. Die Amerikaner hatten während der Fünfzigerjahre unter dem Codewort Operation Iceworm ein absolut fantastisches Projekt geplant: Sie wollten Grönland, kurz gesagt, untertunneln. Während sie noch an der Dew-Line bauten, merkten die US-Militärstrategen nämlich, dass eine gute Verteidigung allein nicht ausreichen würde. Im Fall eines Erstschlags hätten die Amerikaner damals - lange Zeit vor Interkontinentalraketen und Missile Command - mit leeren Händen dagestanden: Ihre Atomraketen konnten vom heimischen Boden aus Russland nicht erreichen, und näher am Erzfeind konnten sie keine Atomwaffen stationieren, weil die Europäer noch dagegen waren. Deshalb entwickelten die Ingenieure der Army einen abenteuerlichen Plan: Sie wollten unter der Eiskappe Grönlands ein dichtes Netz von Tunneln bauen und hier Hunderte von Raketen stationieren. Um im Fall eines Angriffs möglichst wenig Sprengköpfe zu verlieren, plante man, die Flugkörper ständig auf Eisenbahnschienen hin-und herzubewegen. Von speziellen Abschussstationen aus hätten die Amis so ein Großteil des russischen Hoheitsgebietes nuklear bombardieren können. Den Strom sollte natürlich - wie konnte es im Atomic Age anders sein - ein Atomreaktor liefern.
»Die USA wollten einen Teil Grönlands untertunneln«, taste ich mich vor.
»Richtig«, bestätigt John und rattert weiter, »das Projekt wurde damals ernsthaft erwogen. Die Techniker hatten ausgerechnet, dass die Tunnel zehn bis zwanzig Meter tief unter dem Eis liegen müssen, um dem Druck eines direkten Nuklearangriffs zu widerstehen. Als Test bohrten Schweizer Spezialisten probeweise eine Art Stadt ins Eis. Die fertige Untergrundbasis hatte fast die Fläche einer Kleinstadt. Schließlich aber stoppte die Army die Bauarbeiten, weil es zu aufwändig war, die Installation zu klimatisieren und die Tunnelwände ständig zu begradigen.«
»Die Operation wurde also nie zu Ende gebracht?«
»Korrekt«, sagt John und peilt mich im Gehen kurz mit seinen fast schwarzen Augen an. Jetzt weiß ich's. Er sieht aus wie ein Astronaut, genau wie ein Astronaut.
»Zu Ende wurde die Operation nicht gebracht. Nach einigen Unfällen im Testcamp entschied das Strategic Air Command, das Projekt einzustellen; die wenigen fertigen Tunnel unterhalb des Eises stürzten im Laufe der Zeit ein. Doch bis heute kennen nur einige wenige Personen den wahren Status der Operation Iceworm: Einige Teile der Installationen sind nämlich nach wie vor in Betrieb. Die unterirdischen Versorgungsrouten zum Eis hin zum Beispiel stehen noch ...«
»...Black Ridge Il«, falle ich dazwischen.
»Richtig.«
John grinst, so, als sei er mit seiner Wahl zufrieden.
»Ein perfekter Standort für ein Unternehmen unserer Größe: unauffällig, großzügig, vier Flugstunden von New York und London entfernt, über die Polarroute zehn nach Tokio. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.«
Ein Unternehmen, das in einem Militärkomplex residiert? Nick hat mir mal erzählt, dass in Amerika Privatleute seit einiger Zeit alte Titan-Atomraketensilos kaufen können; doch die waren viel kleiner, höchstens so groß wie drei Einfamilienhäuser zusammen. Aber diese unterirdische Stadt? Ich kriege wieder einen Panikschub, in die Fänge der CIA oder NSA oder wem auch immer geraten zu sein.
»Welche Rolle spielt das Militär hier?«
»Welches? Das amerikanische?«, antwortet John etwas genervt, so, als ob er die Frage jeden Tag hört.
»Lassen Sie es mich so sagen: Wir werden von vielen Regierungen unterstützt, auch von der amerikanischen. Eine solche Immobilie können Sie eben nicht beim Makler um die Ecke bekommen. Doch was wir hier tun, ist allein unsere Sache, die US-Regierung hat hier keinen Einfluss. Unsere Organisation legt Wert darauf, unabhängig zu sein.«
»Sie meinen die Datacorp?«
Ein kleines Lächeln huscht über das Gesicht meines Gastgebers.
»Nicht nur, aber gedulden Sie sich.«
Wir biegen abermals ab, nur dass der nächste Korridor wieder ganz anders aussieht, viel moderner. Das Flair von Kaltem Krieg ist verflogen: Statt auf blankem Beton laufen wir jetzt über weiße Bodenplatten aus einer Art Kunststoff, und die über Putz verlegten Leitungen sind verschwunden, zusammen mit den Drehschaltern und Telefonen. Dafür schlängeln sich jetzt breite Lüftungsrohre die Decke entlang, aus denen es laut zischt. Statt nach Kellermuff riecht es jetzt wie in einem Lager für fabrikneue Rechner, die gerade aus ihrer Styroporverpackung geschält wurden. John muss fast schreien, um gegen den Lärm der Lüftungsrohre anzukommen.
»Die Datacorp wurde ursprünglich gegründet, um Informationssysteme für die Organisation aufzubauen. Das bedeutete damals: Mainframes einrichten, Rechenzentren bauen und warten. Dabei kämpften unsere Experten von Anfang an mit einem großen Problem: Während der Aufbauzeit hatten wir viel Infrastruktur von der US-Regierung übernommen, auch die alten Rechnersysteme und Netze - aber kein passendes Personal. Das führte dazu, dass schon kleine Unregelmäßigkeiten wahnsinnige Downtime verursachten, ganz einfach deshalb, weil sich niemand mit der Technik auskannte und Experten nur schwer zu finden waren.«
Ich muss mich kurz hinter John einfädeln, da eine Batterie von gefährlich aussehenden Gasflaschen die Hälfte der Flures einnimmt und den Weg blockiert.
»Sorry«, entschuldigt sich mein Gastgeber, während er sich an den Behältern vorbeischlängelt, »Argon für unser Löschsystem. Damit werden hier alle Räume geflutet, sobald irgendwo ein Kabel anschmort. Senkt den Sauerstoffpegel in ein paar Sekunden um die Hälfte - tödlich für jedes Feuer, ungefährlich für Menschen, angeblich.«
Ein breites Grinsen. Im Herunterspielen von Gefahren sind die hier ungeschlagen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass die Drohne nur eine Art fliegende Überwachungskamera war. Ein fliegendes Auge; ich muss dringend mal checken, ob mein Zeitgefühl noch in Ordnung ist. Nachdem wir die dunklen Bomben passiert haben, nimmt John wieder den Faden auf.
»Der Datacorp blieb also nichts anderes übrig, als einige Veteranen aus dem Regierungsapparat, die mit den alten Systemen noch vertraut waren, aus ihrem Ruhestand zu holen. Nachdem wir so die Probleme gelöst hatten, fiel uns auf, dass sich viele Corporations und Agencies mit ähnlichen Sorgen herumschlugen. «
Agencies?
»Der Millennium Bug«, werfe ich ein, um ein wenig Kompetenz vorzutäuschen. John schreitet unbeeindruckt voran; an dieser Stelle hatte er wohl mehr erwartet.
»Sicher. Aber das war nur die Spitze des Eisbergs. Von den meisten Legacy-Problemen liest man nichts in der Zeitung. Es ist eben schlecht fürs Image, wenn alle Welt erfährt, dass die eigenen Rechner im Grunde genommen Antiquitäten sind. Trotzdem passieren fast täglich Unfälle, weil Systeme völlig veraltet sind, vor allem bei den Banken. Im Juni 2006 zum Beispiel brach an der Börse in Tokio der gesamte Anleihemarkt zusammen, weil das elektronische Handelssystem aus den Achtzigerjahren streikte. Wir mussten damals unsere Spezialisten mit einem Helikopter auf dem Dach eines Handelshauses in der City absetzen, weil der Auftrag so dringend war.«
Die Geschichte scheint John richtig zu begeistern. Er bleibt sogar kurzfristig stehen, um mit der Hand eine Geste zu machen, die ich als landenden Hubschrauber deute. Dann doziert er weiter.
»Wo Sie gerade Y2K erwähnen: Viel größere Probleme macht uns immer noch der Dotcom-Boom: Damals haben nämlich Tausende von kleinen Firmen innerhalb weniger Jahre umfangreiche Netzwerke aufgebaut - und sind kurz danach pleitegegangen. Seit diesen Tagen steckt das Netz voller Router und Switches, für die es keine Updates mehr gibt und oft auch keine Dokumentation - perfekte Einfalltore für Aggressoren jeder Art.«
Aggressoren - ein schönes Wort. Das hätte uns als Jungs gefallen. John fährt fort: »Ab und zu werden wir auch von den Strafverfolgungsbehörden angesprochen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Fall Kampusch: Das österreichische Mädchen wurde 1998 gekidnappt und von einem Irren acht Jahre lang in einem Kellerverlies gefangen gehalten, irgendwo in der Nähe von Wien. An dem Tag, als ihr die Flucht gelang, warf sich ihr Kidnapper vor eine Straßenbahn. Damit war der Fall natürlich abgeschlossen, doch die Polizei wollte auch die Details klären, zum Beispiel, warum das Versteck mitten in einem Wohngebiet so lange geheim bleiben konnte. Dabei stieß man auf ein Problem: Der Täter hatte alle Informationen auf einem Commodore 64 gespeichert - und mit dem kannte sich keiner der Computerforensiker aus. Wir haben einen unserer Experten für ein paar Tage an die Wiener Polizei ausgeliehen, um die Sache aufzuklären, inoffiziell natürlich.«
Natürlich. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie der Experte stundenlang über Textomat Plus gehangen hat, nur um ein paar alte Einkaufslisten auszugraben. Langsam finde ich, John könnte zum Punkt kommen, doch er macht keine Anstalten, seine Geschichte abzukürzen, sondern dröselt immer mehr Details auf. Anders als bei Nick traue ich mich nicht zu drängeln, schließlich spreche ich hier mit einem richtigen Erwachsenen.
»Anyway. Da die Nachfrage so groß war, entschied sich die Datacorp, eine Business-Unit abzuspalten, die sich auf Probleme mit alten Computersystemen spezialisiert und auch im Auftrag Dritter arbeitet - eine Rapid Reaction Force, so eine Art von Feuerwehr.«
Okay, Rapid Reaction Business Unit. Ich finde, dass es langsam Zeit für die große Masterfrage ist. Nach all den Strapazen ist das nicht zu viel verlangt. Ich reiße mich also zusammen und versuche, nicht völlig naiv zu klingen: »Was habe ich damit zu tun? Und warum der ganze Aufwand mit Raid over Moscow ?«
John bleibt stehen, um sich kurz umzudrehen. Erst jetzt scheint ihm einzufallen, mit wem er überhaupt redet, und vor allem, warum; für einen Moment sieht er überhaupt nicht wie der durchtrainierte Astronaut aus, sondern eher wie ein verwirrter Forscher. Ich bemerke eine kleine Schweißperle unterhalb seines Kehlkopfes, die sich löst und langsam in Richtung Hemdkragen kullert. Immerhin - er ist auch nur ein Mensch.
»Yeah, right, die Sache hat uns selbst überrascht«, er schüttelt den Kopf etwas entschuldigend, »wie Sie sich denken können, haben die Majestic Eleven längst die Organisation verlassen, und beim Übergang auf die nächste Generation gingen - sagen wir mal-einige Informationen verloren. Als wir von Ihrem Interesse an unserem Unternehmen .hörten, waren wir zunächst selbst überrascht, schließlich hatten wir unser Office in Iowa schon vor Jahren geschlossen. Ich ging der Sache nach und fand heraus, dass die Datacorp Anfang der Achtzigerjahre eine ziemlich ungewöhnliche Rekrutierungsstrategie verfolgte: Um an die jungen Talente der Hacker-oder Cracker-Szene heranzukommen, wurden verborgene Nachrichten in den damals populären Videospielen und Bulletin Board Systems gestreut. Das Ganze war eine Art - wie sagt man auf Deutsch - Paperchase?«
»Schnitzeljagd?«
»Genau«, nickt John zufrieden, »es wurde eine digitale Spur gelegt, die zu Walter Day von Twin Galaxies führte; er war so nett, mit uns damals zusammenzuarbeiten. Doch auf Dauer stellte es sich als zu aufwändig heraus, die Spielehersteller zur Geheimhaltung zu verpflichten - zumal als Privatfirma -, und die Datacorp stoppte das Projekt. Damit, dass zwanzig Jahre später jemand die Botschaften entdecken würde, hatte wohl niemand gerechnet.«
»Das Tape mit Moonlander ?«
Stolz wie ein Kind, das seine Sandburg vorzeigen darf, dreht sich John zu mir um und grinst: »Sagen wir mal so: Seit wir vor sechs Monaten Ihre Suche nach Mister Days Adresse registriert haben, waren Sie nie mehr allein.«
Natürlich, sonst würde er nicht meinen geheimen Log-in-Namen kennen. Selbstbewusst lässt der Mann ohne Nachnamen seine Geheimdienstmuskeln spielen: »Ab Kansas City folgten Sie dann jede Sekunde einem genau vorgegebenen Weg; das Tape war nur ein kleines Stück im Puzzle, genau wie Ihr kleines Autoproblem in Iowa.«
Vor und hinter »Autoproblem« malt er mit dem Zeige-und Mittelfinger auf diese amerikanische Art zwei Anführungszeichen in die Luft. „Wir haben das Projekt einfach aufleben lassen. Das passte auch ganz gut, weil wir derzeit wieder Talente suchen und Sie anscheinend über ein erstaunliches Wissen um Vintage Systems verfügen.«
Ich bin verlegen.
»Nun ja, ich bin nicht der Experte ...«
Für solche deutschen Bescheidenheiten scheint John keine Zeit zu haben. Ruppig fährt er mir auf Englisch ins Wort.
»Well, you are here, aren't you?«
Aber schon in diesem Moment merkt er, dass er sich im Ton vergriffen hat, und schiebt ein versöhnendes »Sorry« hinterher. Schließlich stehen wir vor einer weiteren Stahltür. die sich von all den anderen nicht wirklich unterscheidet. Auch sie trägt nur eine Nummer: 760.7339969 »Wir sind da«, sagt John stolz und drückt die Klinke herunter. Über drei kleine Eisentreppen betreten wir den Raum. Endlich warm, endlich wieder in der Gegenwart angekommen. Nach der ganzen beklemmenden Bunker-Architektur ist es eine Erlösung, sich an einem Platz aufzuhalten zu dürfen, der genauso gut ein Konferenzraum in der Redaktion sein könnte. Wir stehen in einer flachen Halle, die aussieht wie das Space-Hilton aus »2001«: weiße Bodenplatten. weiß verkleidete Säulen, sogar die Decke wirkt frisch gestrichen. Fehlt nur noch ein kleiner Teller mit Bahlsen Selection Konferenzkeksen. Nach den Lichtschaltern zu urteilen, ist dieser Raum erst vor wenigen Jahren gebaut worden - anscheinend ein Colocation Center, wie es die großen Firmen nutzen, um ihre Server unterzustellen. Nick und ich haben vor Jahren mal eins besucht. Wir stehen in der Zelle , dem Herz des Rechenzentrums, ein feuer - und bombensicherer Käfig aus Stahlelementen, die nur zusammengeschoben und nicht verschraubt sind, sozusagen ein Raum im Raum. Nur dass hier nicht die üblichen grauen Serverschränke stehen, sondern Tische, und zwar mindestens zwanzig Reihen hintereinander. Unfassbar. Ich mache ein paar Schritte nach vorne, während sich John grinsend und mit verschränkten Armen an den Rahmen der Eingangstür lehnt. Was für ein Anblick: Der flache Raum ist auf der ganzen Länge mit alten Rechnern vollgestellt, jeder von ihnen schön ordentlich auf seinem Tisch aufgebaut; teilweise steht sogar ein weißer Tulip-Chair davor, als ob gleich die Datentypistin aus ihrer Mittagspause zurückkommt. Ich stolpere auf die ersten Reihen zu: Die rechte Hälfte des Raumes scheint für Großrechner reserviert zu sein, links stehen die Mikrocomputer. Wie ein Zombie der Interzone scanne ich die Tische nach bekannten Farben ab, zu mehr bin ich jetzt nicht fähig. Meine Augen streifen die blaue Frontplatte des Altair, das Schwarz eines Schneider Heimcomputers, das Lila einer Silicon Graphics Onyx; haben sie damit nicht die Effekte bei »Starship Troopers« gerechnet? All die Traummaschinen, die wir nur aus Büchern kennen, stehen vor mir nebeneinander aufgereiht und warten darauf, eingeschaltet zu werden. Aber irgendwie habe ich gar keine Lust, sie einzuschalten. Dieses Retroparadies, für das ich zuhause alles gegeben hätte, interessiert mich nicht mehr. Ich muss an Weihnachten 1980 denken, das Jahr, in dem ich mir Luke Skywalkers X-Wing-Jäger gewünscht hatte: Auf dem Schulhof war »Krieg der Sterne« immer noch das Topthema, und wir Jungs vergruben uns in jeder großen Pause in die Kataloge der Firma Kenner, die das Spielzeug zum Film lieferte. In Gedanken malte ich mir immer wieder aus, an welcher Stelle des Raumschiffs ich welchen roten Aufkleber anbringen würde, um am Abend der Bescherung bloß keine wertvolle Spielzeit zu verschwenden. Schließlich kam der große Abend, ich sagte mein Gedicht auf, riss das erstbeste Paket auf und hielt das geliebte Stück Plastik in der Hand. Es war das absolute Glück. Aber gerade als ich die Flügel in XPosition gebracht hatte, um zum Angriff auf den Todesstern anzusetzen, unterbrach mich mein Vater.
»Willst du nicht auch die anderen Geschenke aufmachen?«
Widerwillig legte ich also meinen Schatz weg, friemelte das nächste Paket auf und fand darin - Darth Vaders TIE-Fighter! Unfassbar, mit Sicherheit das zweitcoolste Raumschiff des Films! Niemals hätte ich es gewagt, mir neben dem X-Wing auch das noch zu wünschen; insgeheim hatte ich Lord Vaders Jäger natürlich schon für den kommenden Geburtstag vorgemerkt, aber beides zusammen? Undenkbar. Da saß ich also und wusste nicht, auf welches Raumschiff ich meine Begeisterung als Erstes loslassen sollte. In diesem Moment passierte etwas Seltsames: Keines der Raumschiffe war mehr interessant, als ob sie die Macht auf einmal verlassen hätte. Ich holte mir eine Marzipankartoffel aus dem bunten Teller und schaute zu, wie meine Schwester ihren Ballettkalender auspackte. Ich drehe mich um und frage John.
»Ein Museum?«
Er lacht.
»Auch.«
Betont gemächlich verlässt er seinen Aussichtspunkt neben der Tür und schlendert zu mir rüber.
»Aber eigentlich ist das unser Rechenzentrum.«
Ohne anzuhalten, geht er an mir vorbei zu einem der Tische und hebt dort einen kleinen Gegenstand auf. Da er mir dabei den Rücken zuwendet, kann ich nicht erkennen, was es ist, und als John zu mir zurückkommt, umklammert er das Ding so fest mit seiner Hand, dass ich wieder nichts sehen kann.
»Wie Sie wissen, lassen sich die meisten Legacy-Probleme heutzutage an Emulatoren lösen.«
Er zeigt zum PDP-8 herüber.
»Die Simulation dieses guten Stücks zum Beispiel frisst auf einem modernen Rechner weniger als ein Prozent der Prozessorleistung. Die Handbücher sind digitalisiert, die Laufwerke virtualisiert, es gibt eigentlich keinen Grund, ein solches Monster aufzubewahren. Oder sagen wir: fast keinen Grund. Doch wir haben festgestellt, dass wir bei unserer Arbeit häufig einen Punkt erreichen, wo es ohne die Original-Hardware nicht mehr weitergeht.«
Endlich öffnet er die Hand und streckt mir ein kleines Plastikkästchen entgegen. Es ist so groß wie eine Streichholzschachtel, und an der Vorderseite hängt ein Stück Tape heraus, wie bei einer Musikkassette.
»Wissen Sie, was das ist?«
Ausnahmsweise erwischt mich John auf dem richtigen Fuß.
»Ein Sinclair Microdrive?«, sage ich vorsichtig.
»Korrekt, 85 Kilobyte Kapazität auf einem Endlosband. Mitte der Achtzigerjahre im Modell QL verwendet. Schnell, aber störanfällig «, ergänzt mein Gastgeber zufrieden. Ich bilde mir ein, dass sich unsere Geekvibes langsam aufeinander einschwingen.
»Wenn sich die alles entscheidende Information auf so einem Ding befindet, hat es sich aus-emuliert. Sie brauchen das passende Laufwerk, am besten am ursprünglichen Rechner. Und das Gleiche gilt für alte 8-Zoll-Disketten von IBM, für 3-Zoller von Joyce, für Lochstreifen.«
John unterbricht kurz und zwinkert kurz mit einem Auge.
»Okay, bei Lochstreifen gibt es auch andere Wege. Aber die meisten Dead Media bleiben tot, solange man nicht das passende Lesegerät findet. Mit dem Rechner selbst ist es das Gleiche: Der beste Emulator tickt eben nur zu 99,9 Prozent so wie das Original. Oft sind die Bugs nicht berücksichtigt, oder die Eigenheiten der Hardware. Welcher Emulator weiß schon, wann auf dem Originalgerät die alten Speicherbausteine überhitzten, und was dann passierte? Nehmen Sie zum Beispiel diesen Knopf.«
John läuft zu einem der riesigen grauen Großrechner, dessen mannshohe Konsole mit Hunderten von Lämpchen und Knöpfen übersät ist, und tippt auf einen gefährlich aussehenden roten Taster; er sieht aus wie ein Notschalter an einer Rolltreppe im Kaufhaus.
»Sehen Sie das hier: Der berühmte BRS, der Big Red Switch. Jeder /360 von IBM hatte so einen Notfallknopf, und niemand wusste genau, was passiert, wenn man ihn drückt. In manchen Forschungsinstituten war es den Mitarbeitern unter Strafe verboten, ihn zu betätigen, es sei denn, Rauch würde aus der Maschine aufsteigen. Wir wissen heute nur, dass der BRS den Strom zum gesamten System abschaltet. Aber wie danach der Speicher aussieht und die Platinen - um das herauszufinden, müssten wir ihn drücken. Bei solchen Fragen hilft Ihnen der beste Emulator nicht weiter.«
Er kehrt zurück in den Mittelgang und gräbt in der Innentasche seines Sakkos herum. Auf einmal scheint seine Zeit abgelaufen zu sein.
»Kee , Sie hatten eine lange Reise und sind sicher müde. Deshalb mache ich es kurz.«
In Wirklichkeit scheint John selbst ein wenig unter Druck zu stehen, allein in der letzten Minute hat er schon zweimal auf seine Uhr gespinkst. Sein Ton schlägt merklich ins Militärische um.
»In Namen der Datacorp mache ich Ihnen dieses Angebot: Sie sind beim nächsten Einsatz der Rapid Recovery Force als Beobachter dabei. Sollte sich Ihr Input als nützlich erweisen, werden Sie festes Mitglied des Teams.«
John hält kurz inne, zeigt mit dem Arm einmal quer durch den Raum.
»Natürlich müssen Sie nicht all das hier kennen.«
Er greift wieder in seine Innentasche.
»Wir haben einige Key Systems ausgewählt, mit denen Sie sich bitte vertraut machen.«
Er reicht mir einen Speicherchip herüber.
»Und, was sagen Sie?«
Ja, was sage ich? Vielen Dank, liebe Jury, dass Sie gerade mich ausgewählt haben; genauso danke ich Nick, ohne den dieses Abenteuer niemals möglich gewesen wäre. Wir waren ein tolles Team. Sie wollen wissen, ob ich mein Loserdasein gegen ein Leben in einem Traum eintauschen will? Ja. Darf ich jetzt nach Hause gehen? Dann dürfte ich endlich schlafen, duschen, fernsehen, all die Dinge tun, die mich bis heute Morgen noch angeekelt haben. Ich sehne mich nach Normalität, einer Pizza an der Bahnhofsbude und einem Kaffee morgens in der Redaktion .
»Okay«, sage ich knapp. John schaut eine Sekunde etwas verstört, als ob er mehr erwartet hätte, fängt sich aber wieder und pumpt wie zur Begrüßung mit hartem Griff meine Hand auf und ab .
»Ja dann: Willkommen bei der Datacorp!«
Der herzliche Moment dauert circa zwei Sekunden, dann hält sich mein zukünftiger Boss den Zeigefinger unter die Nase und scheint kurz nachzudenken. Sein Blick wandert herum, bis er eine Überwachungskamera ausgemacht hat, so, als wolle sicher gehen, dass das, was er gleich sagen wird, auch an höherer Stelle ankommt.
»Für Ihren Rücktransport nach Kangerlussuaq wird gesorgt. Ansonsten werden wir Sie kontaktieren. It's been a pleasure.«
Ein weiteres hektisches Händeschütteln, dann macht John kehrt, und noch bevor ich den Chip in meiner Hand inspizieren kann, hat er die Stahltür bereits hinter sich zugezogen. Erst jetzt fällt mir auf, dass uns auf dem ganzen Weg hierher kein einziger Mensch begegnet ist. Ist ja nur ein Lager, da braucht man wahrscheinlich nicht so viel Personal. Minuten vergehen, und obwohl es viel gäbe, über das es sich lohnen würde nachzudenken, bleibt der Kopf leer. Ein paar Meter entfernt beginnt eine der Neonröhren an der Decke zu flackern. Hoffentlich löst das nicht die Argon-Löschanlage aus. Ich schaue auf meine Uhr, dann wieder auf das Flackern. Ob das ein weiterer Test ist, und die Herren vor den Überwachungsmonitoren warten nur darauf, dass ich wissbegierig über die Exponate ihres Museums herfalle? Da können sie lange warten. Klack. Ich reiße den Kopf herum und sehe, wie sich die Stahltür wieder öffnet. Dahinter kommt das Gesicht von Herrn Andersson zum Vorschein; er lacht und hat immer noch seine Gummistiefel an. Der gehört also auch dazu, wer eigentlich alles noch - am Ende sogar Nick? Jetzt fängt wohl die Paranoia an. Ich werfe einen letzten Blick auf die alten Terminals, dann drehe ich mich um und trotte auf Âke zu. Willkommen bei der Datacorp. Spieler eins, Sie haben soeben ein Bonusleben gewonnen.