#12 T-7: 13:23

Er ist es. Ganz klar. Er ist es. Aber warum sitzt er da? Schnell -Screen Recorder an, alles sofort mitschneiden. Doch, er ist es. Die Kamera starrt direkt von oben auf Nick runter, als ob sie wie eine lästige Fliege unter der Decke klebt. Scheiße, ist das kalt. Und warum haben die Studis auf einmal ihre Mucke abgestellt? Natürlich, bin eingeschlafen, es ist schon weit nach zwölf. Das Videobild sieht genauso aus wie auf den Monitoren, die an der Tanke manchmal hinter dem Kassierer stehen - Schwarz/Weiß, total verrauscht mit brutalem Kontrast, der alles zum Linolschnitt macht. Als ob Holger Maas das Band schon fünfmal überspielt hätte. Auf Nicks Stirn spiegelt sich das Neonlicht der Decke; der Lichtpunkt brennt hell wie eine Magnesiumflamme, wie bei Kulenkampff früher, wenn die Kamera aus Versehen einen der Studioscheinwerfer streifte. Der arme Beifahrer, das wird ihm nicht gefallen. Er muss vor einem normalen Rechner sitzen, 21-Zo11-Bildschirm, 08/15-Tastatur, billige Zweiknopf-Maus. Shit, wenn die Cam ein bisschen weiter rechts angebracht wäre, könnte man sehen, was sich auf seinem Bildschirm abspielt. So gähnt mich nur die graue Rückseite des Monitors an. Kein Herstellerlogo drauf, dafür sind die Kabel an der Basis schön ordentlich durch so ein Führungsloch gefädelt. Der Rechner selbst ist nicht zu erkennen, muss neben Nicks Fuß stehen. Etwas an seiner Haltung ist nicht normal. Er hibbelt gar nicht rum wie sonst. Zeit, um sein Hemd zu wechseln, hatte er wohl auch nicht, denn er sitzt immer noch in dem gleichen zerknitterten Brooks-Brothers-Lappen rum, den er schon anhatte, als wir das Flugzeugwrack inspiziert haben. In seinem Gesicht rührt sich kein Muskel. Er presst die Lippen so stark aufeinander, dass sie dünn sind wie Striche. Nur der Adamsapfel zuckt ab und zu nervös seine Kehle rauf. Gleichzeitig hackt er wie wahnsinnig auf die Tastatur ein. Es wirkt fast, als wenn seine Arme ein eigener Organismus wären, der ferngesteuert wird, losgelöst vom restlichen Körper. Scheiße, dieser starre Blick, das ist nicht Nick selbst. Haben die ihm was gegeben? Konzentrieren - was ist auf dem Schirm zu erkennen? Der Schreibtisch scheint fast an der Wand zu kleben, alles wirkt eng wie in einer Abstellkammer. Wand, Boden, Tisch, alles weiß getüncht. Kein Lichtschalter zu sehen, keine Anhaltspunkte. The White Room. Vielleicht ist ja direkt unter der Kamera irgendetwas, das verrät, wo sie Nick eingesperrt haben. Doch das Weitwinkelobjektiv reicht nicht bis dahin, es bleibt ein fetter toter Winkel. Genau! Da muss was sein, Nick hat gerade einen nervösen Blick in den toten Winkel geworfen. Jetzt fummelt er an seiner Uhr rum, dann fängt er wieder nervös zu tippen an. Was macht er da bloß? Der Monitor flackert wie bescheuert, als ob ständig Bomben auf dem Bildschirm detonieren. Lassen sie ihn da Missile Command zocken, oder was? Er guckt wieder rüber, genau auf den Punkt unterhalb der Kamera. Dann ein kurzes Nicken. Er steht auf. Nein, nein, nein, nicht gehen, gib mir doch wenigstens ein Zeichen. Zu spät, er steht auf und läuft nach rechts aus dem Bild. Zack, ein kurzes Flackern, Ende der Übertragung. Jemand hat das Licht ausgeknipst. Er war also nicht allein im Raum. Muss ich jetzt die Bullen anrufen? Aber wie? Wählt man da wirklich die EinsEins-Null? Quatsch, die ist nur für Notfälle und das ist ja wohl keiner. Eine unangenehme Vorstellung. Keiner von uns hat jemals in seinem Leben ernsthaft mit einem Polizisten gesprochen, mal abgesehen vom üblichen »Ich kann Ihnen ein Bußgeld anbieten«-Geplänkel. Wenn ich jetzt bei den Bullen anrufe, dann wäre es ... so offiziell. Eine Entführung. Nein, totaler Stuss, das sind alles nur Hirngespinste! Wahrscheinlich bin ich einfach noch nicht wieder richtig wach. Wenn ich wirklich die Cops anrufe, muss ich zu denen hinfahren, und dann werden sie mir ein paar simple Fragen stellen und sich innerlich kaputtlachen. Hat die vermisste Person in der Vergangenheit schon einmal ohne Vorankündigung ihren Wohnsitz verlassen? Ja. Haben die Entführer Kontakt aufgenommen? Nein. Gibt es eine Lösegeldforderung? Nein. Ich werde dastehen wie ein Irrer. Je mehr ich denen von der Datacorp erzähle, von den vermeintlichen Geheimaufträgen, unserer Begegnung in Grönland, desto vielsagender werden die Blicke sein, die sie sich gegenseitig zuwerfen. Am Ende bleibt einem armen Beamten nichts anderes übrig, als süffisant grinsend ein neues Papier in seine Schreibmaschine einzuspannen und die Vermisstenanzeige aufzunehmen - wie im Fernsehen halt. Und dann müssen sie auch noch bei Sabina anrufen! Sie wird den totalen Zusammenbruch kriegen und weinen, das Kind wird schreien, und alles nur, weil ich als Kind zu lange »Soko 5113« geguckt habe. Ganz ruhig. Was würde der Beifahrer tun? Er würde versuchen, die Sache Sherlock-Holmes-mäßig nüchtern zu durchdenken. Mein lieber Watson, fragen Sie sich doch einfach, was am wahrscheinlichsten ist! Wahrscheinlich ist, dass die Bullen -sollte ich sie wirklich anrufen - sofort die Datacorp kontaktieren. Genauso wahrscheinlich wären wir zehn Minuten später unseren Job los und könnten bis ans Ende der Zeit an irgendeiner Help-Desk-Telefonhotline versauern, um unfähige Sekretärinnen zu fragen, ob sie es mal mit einem Neustart versucht haben. Völlig und total unwahrscheinlich dagegen ist, dass Nick entführt wurde und in einer namenlosen Bürobox darauf wartet, dass ich ihn befreie. Ich starre runter zum Rechner, der immer noch brav die Bilder von der Kamera abruft. Da niemand das Licht im Raum angeschaltet hat, ist bis auf dunkelgraues Bildrauschen nichts zu erkennen. Ganz ruhig. Alles nochmal auf Anfang. Nicks ganzer Auftritt ist im Kasten, der Screen Recorder hat bis auf die ersten paar Sekunden jedes einzelne Videobild aufgezeichnet. Jetzt erst mal reingehen, was Warmes anziehen und die Glotze anmachen. Das beruhigt immer. Vielleicht noch eine Ramen-Suppe warm machen. Und danach werde ich mir jeden einzelnen Frame von Nicks letztem Auftritt nochmal anschauen. Wenn ich wirklich zu den Cops rennen will, muss ich was in der Hand haben.

Extraleben - Trilogie
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