#35 T-2: 11:26
»Es reibt sich die Haut mit der Lotion ein!«, kreischt Nick und biegt sich vor Lachen. Natürlich ein Zitat aus »Schweigen der Lämmer«, wie so oft. Was er sagen will, ist: Alter, mal wieder ein Motelzimmer, in der auch der freundliche Serienmörder von nebenan absteigen könnte. Er hat recht. Das ganze Motelzimmer ist mit diesem Billigholz ausgekleidet, mit dem früher Nicks Vater auch den Partykeller zugepflastert hat, um für etwas Gemütlichkeit zu sorgen. Die Holzvertäfelungen verfolgen uns echt auf dieser Dienstreise. Dazu ein kackbrauner Teppich mit einem Flor, der so hoch ist, dass die Zehen fast drin verschwinden. Komplettiert wird die Schändungsromantik durch ein paar gerahmte Aquarelle von Büffelherden über unseren Betten. Wir tun dem Motel natürlich schreiendes Unrecht an, denn es ist eigentlich ganz nett: Jedes Doppelzimmer ist in so einem kleinen pseudobayerischen Blockhäuschen untergebracht, das zwischen den Highway und einen kleinen Bach gequetscht wurde. Im Namen des Motels steht der Zusatz »Chalet“, wie immer, wenn der Ami in Alpenromantik investiert hat. Nick haut sich aufs Bett und fängt sofort an, an seinem neuen Spielzeug, Moms Game Boy, rumzudengeln. Läppische zwanzig Kracher waren nötig, um sie davon zu trennen, dafür hat sie uns sogar noch dieses seltsame, quietschgelbe Kameramodul dazugeschenkt. Das hatte Nintendo irgendwann in den Neunzigern rausgebracht. Wird ganz normal wie ein Spiel oben in den Game Boy reingesteckt und schießt Fotos in absolut grottenschlechter Auflösung - mit vier Graustufen. Für die ganz harten Fans gab's noch einen Drucker dazu, der die Werke auf einen Streifen Thermopapier bannte, der ungefähr so breit war wie ein Kassenbon. Eben nur was für Freaks. Freaks wie Nick. Seit gut zwanzig Minuten hat er einen Riesenspaß dabei, mit der Kamera seinen Fuß zu knipsen. Dabei liegt genau dasselbe Teil schon seit Jahren bei ihm zuhause, und nicht nur das, er benutzt die Kamera sogar noch, obwohl wir schon das 21. Jahrhundert haben und es weiß Gott bessere Dokumentationstechnologien gibt. Aber nein, er schießt immer noch Fotos mit 0,01 Megapixeln. Vermutlich von Sabinas Möpsen. Egal, er hat jedenfalls seine Gadget-Dosis gekriegt, und damit steigt seine Stimmung enorm, und meine irgendwie auch. Unsere Laune wird fast ein bisschen zu gut. Langsam fängt der Kopf nämlich wieder an, sich die Dinge zurechtzubiegen, die unangenehmen Daten auszublenden. Die Entführung in die Botschaft? Ein Missverständnis. Der Hubschrauber am Flughafen? Vielleicht doch nur ein Zufall.
»Apropos ...«, setzt Nick an, ohne seinen Blick vom Display loszueisen. Apropos »apropos«: Anders als bei anderen Leuten bedeutet dieses Wort beim Beifahrer nicht, dass jetzt irgendwas kommt, das mit dem davor Gesagten zu tun hat. Nein, es signalisiert einfach nur, dass er jetzt über ein Thema seiner Wahl einen Vortrag absondern wird.
»... apropos Telefon. Das ist ja auch so eine von den Sachen, die kannste im Film nicht mehr bringen. Du weißt schon, diese klassische Comedy-Handlung: Ein Typ steigt bei seiner Freundin ein, um seine eigene Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu löschen. Neeeee, das geht ja nicht mehr. Da müsste er heute in das Datenzentrum von AT&T in Roanoke, Virginia, einbrechen, um an den Server mit der Voicemail ranzukommen - und das wäre ja dann wieder ein ganzer Film für sich!«
Okay, jetzt mal eins nach dem anderen. Also, das Thema lautet: Filmplots, die heute technikbedingt nicht mehr funktionieren. Alles klar, ich steige ein.
»Was auch nicht mehr geht, ist der alte Dreh .Sie trifft ihn und weiß nicht, dass er Milliardär/Schauspieler/Massenmörder ist', so wie bei Bejore Sunset, wo Julie Delpy keine Ahnung davon hat, dass ihr Schwarm mittlerweile ein berühmter Schriftsteller ist - obwohl sie seinen Namen weiß! Mit ungefähr einem Blick ins Netz hätte sie das schon rauskriegen können, oder?«
Ich bin ziemlich stolz auf meine Einlassung, doch Nick verzieht das Gesicht .
»Stimmt. Aber so 'n reinrassiger Frauen-Scheiß gilt eigentlich nicht als Beispiel.«
Er legt sich aufs Bett und starrt am Game Boy vorbei an die -natürlich getäfelte -Decke.
»Überhaupt Film ... «
Noch so eines von seinen Füllworten. Genau wie »apropos« läutet »überhaupt« bei ihm eine neue Runde fröhliches Assoziieren ein.
»... überhaupt, kennst du das Ende von The Beach, da, wo DiCaprio am Schluss mit dem ganzen anderen Backpacker-Gesocks im Internetcafe sitzt und seinen, haha, Hotmail-Account checkt? Da ist mir das erste Mal klar geworden, dass es das alte Reisen, wie wir es immer durchgezogen haben, nicht mehr gibt.«
»Verstehe ich nicht.«
»Naja, wenn die Kids heute Urlaub machen, dann haben sie ständig ihr Telefon an, sodass jeder ihrer total supi Freunde in jeder Nanosekunde genau weiß, wo sie sind und ob sie sich gerade die Socken zusammenrollen.«
»Kann ja auch praktisch sei...«
Ich kriege wie üblich keine Chance, meine Attacke gegen seine Retro-Windmühlen zu Ende zu reiten.
»Damals, da hieß es: Tschüss, Taschentuch winken an den Landungsbrücken, wir sehen uns in drei Wochen«, giftet er dazwischen, »zuhause anrufen? Keine Chance, weil es entweder mordsmäßig teuer war oder die Schlange vor der Zelle einmal ums Hotel ging. Also: Die einzige Möglichkeit, in der Zwischenzeit was zu posten«, Ekelblick, »war, eine Postkarte in den Briefkasten zu schmeißen.«
Er legt den Game Boy zur Seite und dreht sich zu mir rum.
»Weißt du, was der Unterschied zwischen dem Reisen heute und dem früher ist?«
Wie üblich wartet er nicht auf mein rhetorisches »Neee«.
»Der Unterschied ist: Früher warst du echt weg!«
Stimmt. Eigentlich so wie wir jetzt.