#10 T-8: 01:15
Um zu unserem Büro zu kommen, muss man erst mal auf einer Privatstraße um das ganze Lagerhaus rumfahren, und als die angelegt wurde, war das breiteste Auto anscheinend ein VW Variant. Jedenfalls bleiben einem auf den letzten Metern zwischen Außenspiegeln und Backsteinmauer vielleicht zwanzig Zentimeter übrig. Dass Nick an dieser Stelle noch keinen Spiegel abgehobelt hat, grenzt an ein Wunder. Um ihm nicht zuvorzukommen, zirkele ich den Dienstwagen im Schritttempo zum Hinterhof rein. Durch das offene Fenster ist das leise Knuspern von ein paar Steinchen zu hören, die im Reifenprofil stecken geblieben sind. Es muss schon den ganzen Vormittag lang Freibadwetter gewesen sein, denn vom Regen der letzten Nacht sind nur noch staubige Umrisse auf dem Asphalt übrig. Auf dem Gelände hätten wir als Jungs früher unseren Spaß gehabt. Es ist eine Mischung aus Müllhalde und Abenteuerspielplatz. An der Mauer im Hinterhof türmen sich überall Klettertürme aus vergammelten Paletten auf, dazwischen stehen rostige Fässer mit wer weiß was für einem Giftzeug rum. Die Firma hat wahrscheinlich schon lange kein Schwimmbad mehr gebaut, sonst wäre uns zumindest mal ein Mitarbeiter über den Weg gelaufen. Bisher haben wir keine Menschenseele gesehen, und auf dem alten Ford Escort mit dem Werbeaufkleber »Eigene Ingenieur-Abteilung«, der im Hof vor sich hingart, wächst schon der Grünspan. Wahrscheinlich macht diese Schwimmbadfirma nur eine Sache nass - und zwar das Geld, das sie wäscht. Ich schließe den Wagen ab und laufe durch die brütende Mittagshitze zur Eingangstür. Im Grunde genommen kann einem Sabina leidtun. Die Kumpelsolidarität in allen Ehren -aber dass sich Nick derart lange abseilt, nur um eine beschissene Spielkonsole aus dem letzten Jahrtausend zu reparieren, grenzt ans Uncoole. Er hätte eben keinen Nachwuchs in die Welt setzen dürfen. Hätte er sich alles mal überlegen sollen, bevor er seinen Eigenheim-Kinder-Bewegungsmelder-vor-dem-Haus-Spießertraum eingestielt hat. Ich krame den Schlüssel aus der Zippo-Tasche meiner Jeans. Bootcut-Schnitt, müsste auch mal dringend durch ein zeitgemäßes Modell ersetzt werden. Aber man kommt ja zu nichts, wenn man ständig dafür üben muss, Raid on Bungeling Bay in unter einer Viertelstunde durchzuzocken. Stimmt, ich brauche den Schlüssel ja gar nicht. Nick ist ja ohnehin noch da. Ich bollere mit der Faust ordentlich an die Tür - für den Fall, dass er gerade wieder eine kleine Sarah-Young-Retrospektive veranstaltet und dazu retronaniert. Komisch, nichts zu hören. Na gut, vielleicht braucht er noch ein paar Sekunden, um die Hose hochzuziehen und so. Kaum zu verstehen, wo er doch Sabina zuhause hat. Seit das Kind da ist, nähert sich ihre Oberweite doch locker der von Frau Young an. Aber irgendwie scheint es einfach besser zu sein, die Dinge als grottenschlechte VHS-Kopie zu konsumieren. Ist wahrscheinlich wie mit dem Netzradio früher per Realplayer: Wenn die Datenrate nur schlecht genug war, klang jedes Stück irgendwie geheimnisvoll und gut. Komm schon, kleiner Schlagmann, mach mit! Ich haue nochmal gegen die Tür.
»Alter?«
Nichts von drinnen zu hören. Vielleicht hat er auch das legendäre Debüt von Sibylle Rauch rausgekramt, ihren ersten Hardcore-Streifen nach dem ganzen »Eis am Stiel«-Geplänkel. Das Teil wurde auf dem Schulhof ja sehnsüchtig erwartet. Holger Maas, Scheidungskind und mit Unterhaltungselektronik reich gesegnet, hatte das Video natürlich sofort da und schmiss seine Kopiermaschine an: zwei Videorekorder zusammengekoppelt, sogar mit Kopierverstärker dazwischen. Damit konnte er an einem Nachmittag Kopien für die halbe Stufe ziehen. Als besonderen Service für seine Kunden hat er während des Überspielens immer die uninteressanten Sachen vorgespult Handlung, Dialoge, Vorspann und so weiter. Und da alles analog ablief, war das Vorgespulte auch auf der Kopie vorgespult drauf, das hieß, die uninteressante Füllmasse bis zur nächsten Penetration rauschte im Zeitraffer vorbei. Haben viele damals so gemacht. Allerdings ging die Sache schwer nach hinten los, wenn der Kopiermeister einen anderen Geschmack als man selbst hatte. Nick zum Beispiel bekam mal ein geniales Frühwerk von Celeste und Rocco Siffredi rein, bei dem der Typ an der Fernbedienung alle Blaseszenen vorgespult hatte. Hallo? Wie pervers kann man bitteschön sein? Ich probiers nochmal, diesmal richtig laut: »Alter?«
Nee, jetzt ist's echt gut. Ich drücke die Klinke runter und trete gleichzeitig mit dem Fuß unten gegen den Rahmen - anders kriegt man das Teil nicht bewegt. Krach! Die Tür fliegt auf und ich schreie ins Dunkel: »Hose hoch, Alter!«
Nichts tut sich. Vielleicht haben wir uns ja um ein paar Minuten verpasst und er ist gerade mit dem Taxi nach Hause gefahren. Wo ist bloß diese blöde Steckerleiste, um den Strom anzumachen? Ist ja schon praktisch, dass die Company das alles anstandslos zahlt, Taxifahrten, Sprit, Flüge und so. Vor allem Taxifahren war für uns früher immer der ultimative Inbegriff von Luxus. So, jetzt aber. Die Glühbirne baumelt im lauwarmen Wind, der von draußen reinzieht. Da das Kabuff kein Fenster hat, gilt selbst für die Luft das Lisa-Prinzip - unverändert seit 1995. Keiner da. Dann ist der Beifahrer bestimmt schon zuhause, werde gleich mal anrufen. Nur komisch, dass er seinen Dienstrechner auf dem Sperrmüll-Sessel hat liegen lassen. Auf dem Möbelmonster mit abgewetztem Samtbezug würde er sich immer »exzellent entspannen«, meint Nick. Auf gut Deutsch: Er pennt in dem Sessel, er ist sein Ersatzbett. In seinem Dienstrechner jetzt rumzufuhrwerken wäre reine Zeitverschwendung. Es gibt nur einen Menschen, der dieser Kiste auch nur ein Byte entlocken kann, und das ist Nick selbst. Zum einen, weil er die »andere Seite«, wie er sie nennt, gut genug kennt, um alles »bullet proof« , also kugelsicher, zu machen. Zum anderen, weil ich nicht mal theoretisch in der Lage wäre, den Rechner überhaupt zu starten. Nick gehört nämlich zu den Menschen, deren Ziel im Leben es ist, einen maximal benutzerunfreundlichen Rechner zu besitzen. Vor ein paar Wochen hat er das letzte GUI von der Kiste runtergeworfen, seitdem gibt es keine Fenster mehr, keine Icons und keine Maus, die eine normale Bedienung ermöglicht hätten. Nein, jetzt läuft alles über eine Kommandozeile. Selbst um seine Nachrichten zu lesen, muss er jetzt total unverständliche Textbefehle eintippen. Egal, ich kann die Kiste ja trotzdem mitnehmen. Wo ist eigentlich das Tape? Ich checke Dörte und wühle den Müll auf dem Tapeziertisch beiseite. Nichts. Obwohl er seinen Rechner hier gelassen hat, scheint er das Datentape mitgenommen zu haben, dabei kann er damit zuhause überhaupt nichts anfangen! Die passende alte Tandberg-Maschine zum Abspielen steht ja hier im Regal. Andererseits ganz praktisch, denn wenn er das Tape mitgenommen hat, muss ich es nicht nochmals anfassen. Diese Blutfleckengeschichte steckt irgendwie immer noch im System. Doch die Krönung von all den Seltsamkeiten ist: Warum hat er -der Penible - nicht abgeschlossen? Shit, das sieht nicht gut aus. Ich knalle die Tür, sperre ab und renne zurück zum Wagen. Schnell, das Telefon. Er muss einfach bei Sabina sein. Oder sie haben ihn entführt.