LEVEL 25
Im Innenhof des Sands lässt sich die Abendkühle gut aushalten. Wir haben einen Pullover aus den schon gepackten Koffern gefischt und es uns mit ein paar Miller neben dem Pool gemütlich gemacht. Wie immer, wenn es auf das Wochenende zugeht, kriechen alle Angeber mit ihren frisierten Kisten raus und liefern auf dem Boulevard ihre Show ab: Tiefergelegte Toyotas mit Chromfelgen und beleuchtetem Unterboden schubbern im Schritttempo um den Block, gesteuert von asiatischen Kids, die meist kaum über das Steuer gucken können. So richtig einheimisch scheinen sie nicht zu sein, sonst wüssten die Möchtegern-Lowrider, dass sie mit ihren Ehrenrunden eine Ordnungswidrigkeit begehen. Seit ein paar Jahren sind die Boulevards in Hollywood nämlich eine mit speziellen Schildern ausgewiesene No-Cruising-Zone, und das heißt: Wer zweimal um den Block fährt, riskiert ein Strafmandat. Wir finden es sehr uncool, dass eine der wenigen genuinen Erfindungen des Landes, das Cruisen, direkt verboten wird. Auf dem La-Cienega- Boulevard stehen seit Neuestem sogar Schilder mit no loud stereo and unnecessary use of horn.
»Unfassbar, wie leicht die ihre Urbanität opfern; hier isses bald wie bei -Demolition Man-, wo man nicht mehr laut fluchen darf«, regt sich Nick auf. Aber so ist es nun mal; der Ami liebt einfach seine Angstschilder. Letztens stand auf einem Lachssandwich an der Tanke: Warning, may contain fish. Die Jungs in ihren Reiskochern jedenfalls tun so, als hätten sie die Verbotsschilder nicht gesehen, und drehen weiter ihre Runden, während ihre Freundinnen auf dem Rücksitz gegen eine gewaltige 808-Bass-Drum ankichern. Nick hat seine Monobloc-Liege perfekt Richtung Motellobby ausgerichtet hat, in froher Erwartung der neu anreisenden Gäste.
»The strippers come in at 2 a.m.«, hatte uns ein Mitbewohner mal verraten. Da wir so lange nicht aufbleiben, müssen wir uns mit dem Vorprogramm begnügen, das aber auch einen hohen Unterhaltungswert hat: Ab acht Uhr torkeln im Minutentakt Frauen rein, die hochhackige Schuhe mit durchsichtigen Absätzen tragen, im Schlepptau bullige Latinos in Unterhemden; dazwischen biegt ab und zu eine Polizeistreife ein, um dem Host ein paar Fragen über die überhaupt nicht schlechten Menschen zu stellen, die bei ihm logieren. Heute Abend muss Nick die Show alleine gucken, denn ich habe eine Mission: »Bin noch mal kurz oben«, rufe ich zu ihm rüber. Der nickt kurz, ohne die Lobby auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen. Wahrscheinlich denkt er, ich muss noch was in meinen Koffer packen. Ich schließe das Zimmer auf, ziehe die Vorhänge zu und fahre den Rechner hoch; im Kopf drehen sich immer noch die Ereignisse vom Mulholland Drive: Direktive Vier, der GPS-Tracker, der Wagen vom Sicherheitsdienst. Im Film käme jetzt eine Stimme aus dem Off: »Er durchschaut das Spiel erst, als er gegen seine Regeln verstößt«, untermalt vom Pochen eines immer schneller schlagenden Pulses. Keine Frage, ein Osterei muss der Schlüssel zu dem Geheimnis sein. Bisher haben wir uns im Großen und Ganzen an die Regeln des Spiels gehalten, sind dem vorgegebenen Pfad gefolgt und haben die Fähre nur dort runtergebracht, wo auch ein »X« den Zielpunkt markierte. Und genau das muss falsch gewesen sein, denn wie hat Indiana Jones seine Studentinnen gelehrt: »Noch nie hat ein X irgendwo oder irgendwann einen bedeutenden Punkt markiert!«
Und bei Moonlander wird es nicht anders sein. Bloß - wo mit der Suche anfangen? Sobald ich die Landefähre bis zum Bildschirmrand gesteuert habe, scrollt die Landschaft weiter, und weil die Computerspeicher zur Zeit des Spiels noch lächerlich klein waren, zeigt der Rechner einfach noch mal die gleiche Gebirgslinie an. Fliegt man weiter, kommt noch mal die gleiche Formation, und noch mal und noch mal, bis nach ungefähr zehn identischen Bildschirmen der Sprit alle ist und die Mondfähre unweigerlich abstürzt. Macht schätzungsweise 20000 Bildpunkte, an denen das Osterei versteckt sein könnte. Blindes Rumprobieren fällt also weg. Fahrig stolpere ich auf der Suche nach dem alles entscheidenden Trick durchs Netz, überfliege Vintage-Computing-Foren, Beiträge in alten DEC-Usergroups, Arcade-Datenbanken. Auf einmal stolpere ich über eine Zeile: »If the player landed at exactly the right spot, a McDonald's appeared.«
Natürlich, das ist der Elefant im Ballsaal, den wir übersehen haben! Zur Legende von Moonlander gehört nämlich auch die Sache mit dem McDonald's: Dem Gerücht zufolge hatte der Programmierer in der Messeversion des Spiels von 1973 ein Osterei deponiert, um ein wenig Witz in die eher wissenschaftlich aussehende Simulation zu bringen. Er fügte dem Code ein paar Zeilen hinzu, sodass eine stilisierte McDonald's-Filiale auftauchte, sobald der Spieler an einer bestimmten Stelle aufsetzte. Dann krabbelte ein Astronaut aus der Landefähre raus und bestellte sich in der vektorisierten Burgerbude einen Big-Mäc. Setzte man an dem Punkt allerdings zu hart auf, erschien die Nachricht: You've destroyed the only McDonald's on the Moon. Das ist es. Mit feuchten Händen fahre ich den PDP-Emulator hoch. Bootstrap-Loader rein, Programm laden, Execute. Der bekannte Startscreen erscheint, die weiße Herzlinie der Hügelkette zieht sich quer über den Bildschirm. Als Landestelle gibt der Rechner ein kleines Plateau am Fuße des größten Berges vor. Meine Fähre schwebt links oben in der Ecke des Monitors los und beginnt, da ich den Raketenmotor noch nicht gezündet habe, langsam zu fallen. Okay, jetzt geht es darum, den ultimativen Regelverstoß zu finden. An welcher Stelle würde Alan Carter seinen Adler niemals aufsetzen, wo hätte Aldrin das LEM keinesfalls runtergebracht? Das Ziel ist lediglich zwei Meter breit, eine kleine Ventilationsöffnung. Angezogen von der simulierten Schwerkraft beginnt die Landefähre zu fallen. Der höchste Berggipfel rauscht steuerbords vorbei - egal, die Stelle wäre ohnehin zu offensichtlich gewesen. Bleiben noch zwei Gipfel übrig, einer in der Mitte des Bildschirms und einer am rechten Rand. Langsam geht die Fähre vom Landeanflug in den freien Fall über, rast auf den Felsblock zu. Noch eine Hand breit Bildschirm bis zum Aufschlag. Jetzt! Ich entscheide mich für den Berggipfel rechts außen und drücke gleichzeitig auf die Pfeiltasten rechts und oben. Der Lander dreht sich auf die Seite. Ungebremst rast die kleine Spinne weiter auf den Boden zu, nur dass das gezündete Raketentriebwerk sie jetzt zusätzlich nach rechts schiebt. Noch zwei Daumen bis zum Berggipfel, noch einer. Ich schließe die Augen und warte unweigerlich auf das Grummeln einer synthetischen Explosion. Aber wie in all den Spielrunden zuvor bleiben die Lautsprecher des Rechners stumm; es herrscht weiter eisige Stille im Weltall-kein Wunder, als das Spiel geschrieben wurde, gab es noch keine Soundkarten. Leise summt die Klimaanlage neben dem Bett vor sich hin und wiegt die Vorhänge mit ihrem Luftstrom langsam hin und her. Unten bei Nick gibt es jetzt sicher einiges zu sehen. Ich schaue zurück auf den Bildschirm. Der Lander ist verschwunden. Alles wie immer. Nein - doch nicht! Keine stilisierten Trümmer fliegen durch das Vakuum, kein mechanisches START OVER erscheint. Nichts. Bis auf Landschaft und Punktestand bleibt der Bildschirm einige Sekunden lang leer. Dann - Buchstabe für Buchstabe - bauen sich eckige Strichlettern über meiner Landeposition auf: WELCOME TO DATACORP, BLACKRIDGE 2, 67 N 5.48 50 W 14.45. Gleichzeitig mit der letzten Ziffer erscheint auf dem Gipfel eine stilisierte Mini-Radarstation, nur wenige Pixel hoch. Schnell ein Stift, wer weiß, ob man aus dem Emulator raus einenScreenshot machen kann. Ich springe zur Kunstholzanrichte rüber, reiße den Karton von einem Miller-Sixpack ab und ritze mit dem Autoschlüssel die Zahlenfolge in die Pappe. Gerade als ich beim »W« angekommen bin, fällt mein Blick auf die Netzwerk-Anzeige des Rechners. Die grüne Leuchtdiode blinkt wild in kurzen Abständen auf. Blink, blink, kurze Pause, dann beginnt das Stakkato von Neuern. Der Computer versucht anscheinend, Datenpakete über das Funknetz des Sands abzuschicken. Seltsam, bis auf den Emulator sind alle Anwendungen geschlossen. Reflexartig zuckt meine Hand zum Ausschalter. Komm schon, komm schon, komm schon. Quälend lange Sekunden vergehen, bis sich der Rechner endlich kalt runterfährt. Der Lüfter stirbt, die Tastenbeleuchtung verlischt. Mit dem Pappkarton in der Hand renne ich raus zum Pool.
»Alteeeeer.«