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Der erste Morgen in Kuala Lumpur beginnt mit Regen. Dicke Tropfen perlen an der Panzerglasscheibe runter, die unser Zimmer von vierzig Metern freiem Fall trennt. Es ist seltsam still, als ob jemand beim Fernseher auf Pause gedrückt hat. Dass draußen ein tropischer Sturm wütet, merkt man nur daran, dass der teuer bezahlte Panoramablick komplett verschwunden ist. Bis auf das hässliche DDR-Hochhaus direkt neben uns ertrinkt alles in 50-prozentigem Grau. Tristes Tropique - kein Wunder, dass die britischen Kolonialherren hier unten reihenweise ins Wasser gegangen sind. Der Kopf fühlt sich an, als hätte jemand von beiden Seiten ein dickes Kissen drangebunden ..Alles klingt dumpf, gefiltert. Die dritte Nacht ohne ordentlichen Schlaf, langsam fängt die kritische Zone an. In der Notfalltüte schlummert noch eine Packung Proviqil, natürlich unangebrochen. Bislang fehlte mir der Mut, die Wachmacher zu nehmen - wer weiß, wie der Nerdkörper darauf reagiert. Professionelle Videospieler werfen das Zeug ja angeblich ein, um konzentrierter zocken zu können. Rumms. Jetzt hört man doch was vom Gewitter, aber nur das Donnern. Die Fluten stürzen weiter lautlos am Fenster vorbei, das vom Boden bis zur Decke reicht. Bislang steht unsere Ignoranz-Mauer bombenfest: Wir wissen weder, welche Sprache hier gesprochen wird, noch, wie die Währung heißt oder wie viel sie wert ist. Der einzige Kontakt mit der Außenwelt sind die Präsente auf dem Schreibtisch: zwei Flaschen Wasser mit dem Logo des Hotels drauf, daneben eine Packung amerikanischer Kettle-Chips sowie Reiscracker aus lokaler Produktion. TOHO GARDEN steht drauf, in normalen westlichen Buchstaben. Immerhin verwirren die Malayen, falls sie so heißen, den Besucher nicht mit eigenen Schriftzeichen. Die Steckdose an der Wand sieht dreipolig wie die in England aus, gut, dafür haben wir einen Adapter. Aus dem rechten, vom Fenster natürlich ein gutes Stück entfernten Bett kommt ein Ächzen. Selbst der Beifahrer ist heute morgen anscheinend nicht in Topform. Anstatt - wie sonst nach dem Aufwachen - sofort aufzuspringen, wälzt er sich seit zehn Minuten von der einen auf die andere Seite. Schließlich dringt doch noch eine Meldung aus dem Kissenberg: »Energie, Mister La Forge!«
Ich setze mich zurück auf die Bettkante.
»Morgen.«
Dass meiner schon vor vier Stunden begonnen hat, braucht er nicht zu wissen. Wir sind hier schließlich nicht auf irgendeiner Jammertour. Nick hat das Kissen vor seinem Kopf weggenommen und starrt an die eingelassenen Halospots an der Decke. Als Hausbesitzer fragt er sich jetzt bestimmt, wie weit die Decke dafür abgehängt worden ist und ob das 12-Volt-Strahler sind. Das Zimmer ist im typischen Stil der frühen Nuller eingerichtet. Dunkelbraunes Holz an der Wand hinterm Bett, der weiße Waschtisch im Bad steht auf einer schwarzen Marmorplatte, die verchromten Wasserhähne gehen nach vorne auf, wie der Zapfhahn beim Bierfass. In ein paar Jahren werden sie wahrscheinlich das ganze Holz an den Wänden rausreißen, weil es total uncool geworden ist - wie Anfang der Achtziger, als die ganzen Eichenpaneele im Bundeskanzleramts-Stil und die Korkdecken des vorigen Jahrzehnts ganz schnell verschwinden mussten, um Platz zu machen für Zeitungsständer aus Acryl und Poster von Patrick Nagel-das ist der Typ, bei dem die Frauen auf den Bildern immer so extrem rote Lippen haben und Tops tragen, wo an einer Seite die Schulter raus guckt. Nach einer weiteren Minute, die er mit schwer Atmen verbringt, schwingt sich Nick aus dem Bett.
»Wenn man nur so alt ist, wie man sich fühlt, bin ich heute morgen ziemlich alt.«
Er macht keine Anstalten, über sein kleines Witzchen zu lachen, sondern sagt nur leise »haha« - wie Nelson bei den Simpsons - und fängt an, seine Socken auf dem Boden zu sortieren. Zeit für eine kleine Verbitterung am Morgen: »Weißt du, woran du merkst, dass du echt alt wirst?«
»Ne«, sagt Nick, ohne hochzuschauen.
»Also, pass auf: Du sitzt gerade beim Friseur, und die nette Azubine ist im Prinzip schon fertig mit dem Schneiden. Nur noch einmal kurz die Koteletten mit der Maschine ausdünnen. So - fertig. Aber anstatt den Rasierer auszustellen, fuhrwerkt sie mit dem Teil da an der Seite weiter rum, ohne das, was sie tut, zu kommentieren. Du wirst misstrauisch und guckst in den Spiegel. Und dann siehst du, was sie da treibt. Blanker Horror! Sie macht die ersten Haare am Ohr weg. Am Ohr! Das ist der Moment, in dem du merkst, dass es echt bergab geht!«
Nick lacht sehr wissend.
»Ohhhh, ja. Oder: Es ist Sommer, du sitzt im Auto - Fenster alle schön runter - und hast irgendwas voll aufgedreht. Na, jedenfalls kommt dann die Autobahnausfahrt, und das Erste, was du machst, ist ...«
»... alle Scheiben hoch, damit an der nächsten Ampel keiner hört, was für eine peinliche Altherren-Scheiße du aufgelegt hast.«
Erlösendes Lachen. Dann fällt der Beifahrer in seinen professionellen Ton zurück.
»Sollen wir mal? Wir müssen schließlich noch die Floppys aus Dr. Irvings Nachlass retten.«
Die Nacht hat also doch nicht den Reset gebracht. Alles sieht nur neu aus, im Speicher schlummern in Wirklichkeit immer noch die Daten von gestern. Wir duschen, ziehen uns an und machen uns auf dem Weg in den Frühstücksraum, natürlich mit dem Grid unter Arm. Wir arbeiten an unserer Ignoranz und bestellen in Kuala Lumpur erst mal zwei amerikanische Frühstücke.